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Das eigentliche Theater oder Die Philosophie des Augenblicks


Das eigentliche Theater oder Die Philosophie des Augenblicks

Ein Traktat - Ein Spiel - Ein Vergleich
1. Auflage

von: Gerhard Branstner

7,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: PDF
Veröffentl.: 30.08.2022
ISBN/EAN: 9783965217478
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 537

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Wie fast immer kommt Branstner auch in dieser Auseinandersetzung mit dem Theater recht schnell auf eines seiner Lieblingsthemen zu sprechen. Dieses Thema ist die Heiterkeit:
Das ursprüngliche und eigentliche Wesen des Menschen aber ist Heiterkeit. Und das Theater lebt mehr als alle andere Kunst von diesem Wesen des Menschen. Daher ist die Phase der Negation als das zweite Stadium der Vorgeschichte des Theaters auch sein finsterstes. Das ursprüngliche und eigentliche Wesen des Menschen sei Heiterkeit? Das ist zu belegen, sagt Branstner und fügt sogleich solche Belege aus vielen Teile der Erde an, von den Eskimo und Indianern Nordamerikas (damals durfte man sie offenbar noch so bezeichnen) bis zu den Schwarzafrikanern.
Damit ist laut Branstner eine Grundstimmung ausgemacht. Von dort aus ist es auch nicht mehr sehr weit bis zum Kommunismus:
Im Kommunismus wird nicht nur die allgemeine Funktion der Kunst erst eigentliche. In ihm erhält die Kunst auch erst ihren eigentlichen Inhalt. Wir hatten die auf sozialer Gleichheit beruhende Freiheit der Naturvölker als Voraussetzung ihrer Heiterkeit erkannt. Indem der Kommunismus diese Freiheit erneuert, erneuert er auch die Voraussetzung der Heiterkeit. Nur hat diese Heiterkeit eine höhere historische Qualität. Sie hat außer der sozialen auch die Freiheit gegenüber der Natur zur Voraussetzung, und sie hat die verkehrte Welt hinter sich. Die Welt der Klassengesellschaft kann, auch wenn sie historisch notwendig ist, nicht die eigentliche Geschichte der Menschheit, sie kann nur deren Vorgeschichte, nur die zweite Phase dieser Vorgeschichte sein. Könnte sie sonst die Heiterkeit, die schönste Form der menschlichen Wesensart, in ihr Gegenteil, in Ernst verkehren? Könnte sie sonst das Ende der Menschheit, den Untergang der Gattung Mensch auf die Tagesordnung setzen? (Allein die Kosten der Vorbereitung und Vermeidung eines Krieges bezahlt die Menschheit zunehmend mit ihren natürlichen und sittlichen Existenzbedingungen.) Und so definiert der Autor das Theater als eine spezifische Form des Spiels der heiteren Verstellung.
Etwas später schreibt Branstner:
In diesem Sinne ist das Theater Heiterkeit des Augenblicks. Auch das eigentliche. Nur ist die eigentliche Heiterkeit philosophische, daher ist seine Heiterkeit immer auch Philosophie des Augenblicks. Das macht den Unterschied. Daher muss das eigentliche Theater als Philosophie des Augenblicks definiert werden. Und als das ist es immer auch Augenblick der Philosophie.
Kurzgeschichte der Gesetze des Theaters
I. Theater einstmals
II. Theater dereinst
III. Die Technik der Kunst
IV. Die Spezifik des Theaters
V. Das Theater der Commedia dell`arte
VI. Das Theater der deutschen Klassik
VII. Theater heute
Schwitzbad
Vergleich der Originalfassung des „Schwitzbades’’ mit der Neufassung
Geboren am 25.Mai 1927 in Blankenhain/Thüringen, Volksschule, drei Jahre Verwaltungslehre.
1945 Soldat im 2. Weltkrieg, bis 1947 in amerikanischer, französischer und belgischer Kriegsgefangenschaft.
1949 – 1951 Abitur an der ABF Jena, 1951 bis 1956 Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin, 1963 Promotion (Dr. Phil.).
1956 - 1962 Dozent an der Humboldt-Universität, 1962 – 1964 Lektor, 1966 - 1968 Cheflektor Eulenspiegelverlag/ Das Neue Berlin.
Ab 1968 freiberuflicher Schriftsteller.
2008 in Berlin verstorben.
VI. Das Theater der deutschen Klassik
Die Commedia dell`arte trat der Gegenreformation entgegen, nachdem sie die Freiheit der Renaissance genossen hatte. Umgekehrt die deutsche Klassik: Sie hatte keine wirkliche Freiheit „hinter sich“ und nur eine gedachte Reform vor sich. Da die bürgerlichen „Klassen in Deutschland“, wie Franz Mehring konstatiert, „noch nicht kräftig genug waren, um wie in Frankreich um die politische Macht zu ringen, so schufen sie in der Literatur ein Idealbild der bürgerlichen Welt“. Eine „Welt ästhetischer Schönheit“. Und sobald diese gedachte Welt real wurde, geriet der Gedanke mit der Realität in Konflikt. Friedrich Engels: „Goethe verhält sich in seinen Werken auf eine zweifache Weise zur deutschen Geschichte seiner Zeit. Bald ist er ihr feindselig … Bald dagegen ist er ihr befreundet, … ja verteidigt sie gegen die andrängende geschichtliche Bewegung … Auch Goethe war nicht imstande, die deutsche Misere zu besiegen; im Gegenteil, sie besiegte ihn …“ Und Schiller ergeht es nicht anders, wie er selbst bezeugt: „Der Versuch des französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen, und eine politische Freiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht …, und dass derjenige noch nicht reif ist zur bürgerlichen Freiheit, dem noch so vieles zur menschlichen fehlt … In den niedern Klassen sehen wir nichts als rohe gesetzlose Triebe, die … mit unlenksamer Wut ihrer tierischen Befriedigung zueilen.“ Und Schiller folgert daraus: Man „wird damit anfangen müssen, für die Verfassung Bürger zu schaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann“. Die Revolution wurde auf die Reform reduziert, und die Reform auf die des Geistes. Statt der Handlungsfreiheit wurde die Gedankenfreiheit gefordert.
Reform, die nur im Kopfe vorgehen soll, kann nicht aufgehen, kann beispielsweise keine konsequente Kritik des sozialen Rollenspiels sein. Schillers „Glocke“ ist ein schönes Beispiel dafür und in der Darstellung der Rolle der Frau so komisch, dass schon Madam Schopenhauer darüber lachen musste. Und über die Rolle, die Gretchen zur „Bildung“ des Mannes Heinrich zu spielen hat, kann man nicht einmal lachen. Eine Forderung nach Individualität, nach „Veredlung“ des Charakters, die nicht mit einer radikalen Kritik des Rollenspiels einhergeht, ist in sich inkonsequent und dient letztlich der Verschleierung des Rollenspiels.
Mit Beginn der Aufklärung strebte das progressive deutsche Bürgertum danach, seine politischen Ziele in organisierender Form auszudrücken. Weil aber, wie Mehring feststellt, „das deutsche Elend den Kampf auf politischem und sozialem Gebiet verschloss“, wurden „alle begabten Köpfe der aufstrebenden bürgerlichen Klassen auf das literarische Gebiet gedrängt“. Da eine politische Tribüne nicht zu haben war, machten sie die Kunst zur Tribüne der Politik. Manfred Schröder: „Das Nationaltheater war ihnen Symbol … für die nationale Freiheit.“ War ihnen das Theater (die Kunst) nur ersatzweise Tribüne der Politik? Schiller schreibt: „Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln? Man musste zu diesem Zwecke ein Werkzeug aufsuchen, welches der Staat nicht hergibt … Jetzt bin ich an dem Punkte angelangt, zu welchem alle meine bisherigen Betrachtungen hingestrebt haben. Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst …“ Der deutschen Klassik war mithin die Tribüne der Kunst weniger Ersatz einer politischen Tribüne als vielmehr die eigentlich gewollte. Und das Theater als sprechende Kunst erschien ihr als das geeignetste Sprachrohr: Schiller: „Wenn wir es erleben, eine Nationalbühne zu haben, so würden wir auch eine Nation“. Die Folge war eine „Theatralisierung der Reformprogramme“. Die Reform fand im Theater statt. Fand auch eine Reform des Theaters statt?
Die Dramatik der deutschen Klassik war für das Theater gedacht. War sie auch für das Theater gemacht? Ein Bonmot könnte heißen: Die Commedia dell’arte war Theater ohne Stücke – die deutsche Klassik war Dramatik ohne Theater. Die Wahrheit heißt, dass echtes Theater sich zwangsläufig die richtigen Stücke verschafft, wogegen selbst die besten Stücke nicht zwangsläufig echtes Theater hervorbringen. Unterstellt, sie könnten ohne echtes Theater geschrieben werden. Theatergerechte Stücke können aber nur in der richtigen Vorstellung von echtem Theater geschrieben werden. Im Unterschied zum Roman genügt das Stück sich nicht selbst, kann nicht ohne institutionalisiertes Theater entstehen. Gab es zur Zeit der Klassik solch ein Theater? Es gab es so wenig wie zur Zeit Lessings, der feststellen musste: „Wir haben kein Theater. Wir haben keine Schauspieler. Wir haben keine Zuhörer.“ Und wo es kein echtes Theater gibt, gibt es auch keine richtige Vorstellung von echtem Theater, und man denkt sich das Publikum irrtümlich als „Zuhörer“. Der gedachte „Zuhörer“ war aber vornehmlich der deutsche Bildungsbürger.
Wie Theater Bedingung ist für das Entstehen von Stücken, so ist das Publikum Bedingung für das Entstehen von Theater. Was war der deutsche Bildungsbürger für ein Publikum? „Überdies ist klar“, schreibt Münz, „dass eine Theaterkunst, die nicht Tugenden ‚nachahmte’ und nicht Sitten ‚malte’, die nicht moralisch ‚bessern’ und schon gar nicht ‚erziehen’ zu wollen vorgab, die nicht auf den (nur im Theater!) großen, Konflikte suchenden, das Schicksal herausfordernden … ‚Charakter’ im Sinne der (nur) poetischen Gerechtigkeit setze, dem aufgeklärten Bürgertum insgesamt dubios und ärgerlich erschien.“ Der deutsche Bildungsbürger hatte mehr Büldung als Bildung, war mehr Spießbürger als Staatsbürger, war schneller moralisch empört als politisch. Dem entsprach das Theater. Und daher rührt, wie Münz feststellt, „eine gewisse Überbetonung der sittlich-moralischen, erzieherischen, aufklärerischen, volksbildenden Funktion“ und in der Folge „die Übernahme bestimmter Zuschauerkonventionen“.
Lessing hatte die Standesklausel, der zufolge die unteren Stände in der Tragödie und die oberen in der Komödie keine Rolle spielen dürfen, abgeschafft. (Was nicht gar so hoch bewertet werden sollte, denn in der Commedia dell’arte spielten die oberen Stände sogar eine komische Rolle und wurden überdies auch noch verprügelt.) Die Standesklausel im Publikum blieb jedoch erhalten. Der kleine Mann blieb draußen. Obwohl er, nach Schiller, das Objekt der „Veredlung“ sein sollte. Doch er hätte da ohnehin nicht mitgespielt. Er wäre nur der Spielverderber gewesen. Er hatte andere Sorgen als die Gedankenfreiheit. Und wenn von denen nicht die Rede war, sah er sich lieber den Harlekin an, auch wenn der auf den verwahrlosten Hanswurst heruntergekommen war. Theater ohne den kleinen Mann als Koduzenten ist aber nicht nur ohne soziale Wahrheit, es ist auch ohne leibliches Leben, ohne wirkliche Sinnlichkeit. Diese von der deutschen Klassik praktizierte Standesklausel ist zur Praxis allen folgenden bürgerlichen Theaters geworden.
Der Spielwert der klassischen Stücke erklärt sich aus dieser Ausgangsposition: im Guten wie im Schlechten. Das zeigt sich zunächst im Spielzweck.

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