Impressum

Egon Richter

Ferien am Feuer

 

ISBN 978-3-95655-459-9 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1975 im VEB Hinstorff Verlag Rostock

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Die Melder

Es war unser letzter Einsatz.

Im Stillen wusste auch jeder, dass es unser letzter Einsatz war, wenn man das, was wir hier im Straßengraben machten, mit klappernden, viel zu großen Stahlhelmen, überhaupt „Einsatz“ nennen konnte. Aber keiner sagte es, weil es keiner wahrhaben wollte. Dabei war es jämmerlich.

Die letzten paar Soldaten liefen über den Landungssteg auf das schießende Schnellboot zu, das mit tuckerndem Motor nur noch lose in den Leinen hing, und ein paar von ihnen fielen vorher um, wenn eins der Geschosse sie getroffen hatte, die mit Leuchtspurstreifen aus den Bordkanonen der drei russischen Flugzeuge kamen. Die Russen flogen niedrig, und wenn sie ganz weit runter kamen, konnte man in den Doppeldeckermaschinen sogar die Piloten sehen und die Bordschützen.

Ab und zu warfen sie kleine, klatschende Splitterbomben an den Strand und neben das Schnellboot, das immer noch schoss, aus einem einzigen, letzten schweren MG und immer daneben, und zum Schluss warfen sie eine von den kleinen Bomben direkt auf das Schnellboot, und das schwere MG hörte auf zu schießen, und die russischen Doppeldecker brummten und surrten mit halben Loopings und ganzen Kreisen über den Stillen Ort und die weite Reede, auf der ein paar brennende Schiffe lagen.

Sonst war es ruhig, und als die Flieger abdrehten, war auch das Brummen weg, und die weißen Bettlaken und Tischtücher, die aus allen Fenstern bammelten, hingen bewegungslos in der heißen Mailuft.

„Von mir aus“, sagte Labahn, lockerte den Kinnriemen von seinem alten französischen Beute-Stahlhelm und riss ein Grasbüschel aus, das ihn ständig an der Nase gekitzelt hatte, „von mir aus können wir jetzt nach Hause gehen.“

„Halt dein Maul!“, fauchte Jungenschaftsführer Mollenhauer, „das könnte dir so passen.“

„Na ja“, sagte Labahn, und dann war er wieder still, und wir sagten alle nichts in der Stille rundum, in der kein Brummen und kein Schießen mehr war. Wir blieben liegen, kauten am Gras und wussten nicht, warum wir liegen blieben. Vielleicht war es bloß wegen Mollenhauer.

„Jetzt“, sagte Mollenhauer, und blödsinnigerweise flüsterte er dabei, „jetzt ist es aus mit Melder und blauer Binde. Jetzt beginnt der Kampf.“

„Warum?“, sagte Labahn, denn er war immer ein bisschen schwer von Begriff.

„Überall kämpfen sie“, sagte Mollenhauer, starrte auf die weißen Bettlaken in den Fenstern, fauchte zwischendurch „Schisshasen“ und dann: „Überall kämpfen sie gegen den Bolschewismus.“

„Ach so!“, sagte Labahn, „gegen den.“

„Die Bolschewisten“, flüsterte Mollenhauer, und sein dicker russischer Stahlhelm mit dem breiten Lederpolster rutschte ihm in die Stirn, „rotten alles aus.“

„Bestimmt“, quäkte Hordenführer Blechert, „und die Frauen und Kinder spießen sie auf und übergießen sie mit Benzin.“

„Na“, sagte Labahn, „wenn es so ist ...“, und dann zog er sich den Kinnriemen wieder fest, und die Hitze knallte auf unsere alten Stahlhelme, und das Straßengrabengras kitzelte im. Gesicht, und in unseren Köpfen war ein schwindliger Mischmasch aus Angst und Durst.

Einer von den Kleinen sagte: „Kann ich mir nicht ’ne Stulle holen?“

Aber Mollenhauer schrie: „Bist du nicht ganz dicht, Mensch! Hier ist Krieg und du redest von Stullen.“

Und der Kleine schnüffelte durch die Nase, zurrte an seiner blauen Melderbinde und sackte zurück ins Gras. Es war alles sehr sinnlos und lächerlich, und die Stille und die Hitze machten uns müde, und unser Heldentum trocknete ein. Dabei hatte alles so heldisch angefangen.

 

Es war in einer Grammatik-Stunde.

Dass wir in Grammatik etwas über den „Erlkönig“ schrieben, hing nur mit dem Komma vor „zu“ zusammen. Das Komma vor „zu“ war ein Steckenpferd unseres Lehrers, und auf dem „Erlkönig“ ritt er auch schon drei Stunden lang herum.

Er hieß Fritz Bullner, aber wir nannten ihn immer nur Fritze. Er war klein, bisschen füllig, mit Spitzbauch, jedes zweite Wort von ihm war „Deutschland“. Wenn wir „Heil Hitler“ brüllten, knurrte er bloß mürrisch „Heitler“. In der Kirche versuchte er es mit der Orgel, aber das klang nicht so schön wie sein Cello-Spiel in den Musikstunden.

Manche von uns - wie Mollenhauer und Blechert - mochten natürlich das weiche, zart klingende Instrument nicht, sie brummten dazwischen und spielten mit den kleinen Bakelitflugzeugen, die es ziemlich billig in jedem Papier- und Spielzeugladen zu kaufen gab.

Besondere Übung hatte Kröger darin, ein kräftiger Bursche, den Fritze in die letzte Bank gesetzt hatte, weil er sowieso immer störte. Sobald Bullner in den Musikstunden anfing, auf seinem Cello herumzustreichen, fing Kröger an zu brummen, und er verstand das so gut, dass sein Brummen zuerst nicht von dem surrenden Celloton zu unterscheiden war. Dazu spielte er mit seinen zahllosen Bakelitflugzeugen, ließ sie schwere Angriffe fliegen, Bomben werfen und Verfolgungsjäger abschießen. Das ging auch noch gut, weil diese Töne mit dem Cellosummen irgendwie übereinstimmten. Aber meist vergaß Kröger zuletzt doch noch alle Vorsicht und setzte - mit zwei Flugzeugen in jeder Hand - zu einem Stuka-Angriff an. Er konnte das Aufheulen der Motoren und das pfeifende Niedersausen der Bomben so originalgetreu nachahmen, dass die ganze Klasse nur noch auf den Aufschlag der Bombe wartete und Bullners Cellogesumme vollständig hinter dem Motorengeheul von Krögers Bakelitstukas verklang.

Dann stellte Fritze das Cello schnell in die Ecke, griff sich den mit Baststreifen und Leukoplast kunstvoll und haltbar geflickten Rohrstock - denn neue Rohrstöcke gab es nicht mehr -, stürzte, „Bambuse, Bambuse, na dir werd ich!“ schreiend, durch den Mittelgang auf die letzte Bank zu, zerrte Kröger heraus und schleppte ihn nach vorne, wo er versuchte, ihn zu verprügeln. Und obwohl Kröger ganz fürchterlich und zum Spaß der ganzen Klasse „Aua, aua, nein, Herr Bullner!“ brüllte, traf Fritze ihn nur selten. Kröger sprang nämlich so schnell und so viel umher, dass Bullners Stock meist auf die Bankränder und Stuhlkanten niedersauste. Wenn Bullner dann nicht mehr konnte, keuchte er: „Los, los, setz dich!“, schloss das Cello weg und übte mit uns die Tonleiter, während Kröger sich damit beschäftigte, seine Flugzeuge wieder in der Mappe zu verstauen. So war das öfter in Musik.

Diesmal aber passierte es in Grammatik, und das war bisher noch nicht vorgekommen.

Bullner stand wie gewöhnlich vor dem Katheder und diktierte. Dabei huschte der Blick seiner kleinen, hinter einer randlosen Brille blitzenden Augen immer ruhelos über die ganze Klasse, damit er uns alle ständig im Auge behielt und keiner von uns irgendwas anstellen oder gar abschreiben konnte. Zwischendurch schnipste er wie stets mit den Fingernägeln. „Der Vater“, diktierte er, „reitet so schnell“ - Pause, denn in diese Pause gehörte erfahrungsgemäß das Komma -, „um sein Kind zu retten.“ Es war still in der Klasse, und nur unsere Federhalter und Füller kratzten über das holzige Heftpapier. Sonst war nichts zu hören.

Bis auf das leise Brummen.

Fritze hörte es zuletzt. Er schnipste dreimal hintereinander sehr schnell mit den Fingernägeln, sagte: „Wollt ihr wohl, ihr Kunden, na, das ist denn doch ...“ Und da hörten wir es auch.

Zuerst dachten wir natürlich, es sei Kröger, aber Kröger hatte seinen Kopf schräg auf die Schultern gelegt und horchte genau wie wir und Fritze. Das Brummen verstärkte sich, es schwoll an und ebbte wieder ab und wurde wieder stärker.

„Ganzer Pulk“, sagte Kröger, und keiner widersprach ihm, nicht mal Mollenhauer, denn er verstand was von Flugzeugen. Bullner horchte, und sein Gesicht wurde um die Nase herum weiß.

Das Brummen blieb tief, gleichmäßig auf- und abschwellend. Wir saßen, warteten und starrten auf die Hefte. „Der Vater reitet so schnell - Komma - um sein Kind zu retten.“

Zuerst begannen die Fensterscheiben ganz leicht zu klirren, so als säßen sie lose in den Fugen. Dann rollten ein paar Federhalter über die vibrierende Tischplatte, Krögers Mappe fiel von einem klappernden Gartenstuhl, und die vielen kleinen Bakelitflugzeuge hüpften über den Boden. Und dann ging es los. Zuerst die Flak und dann auch die bellenden Vierlingsgeschütze. Dazwischen war das Brummen, immer stärker und lauter.

Bullner war jetzt ganz weiß, mit dem Taschentuch wischte er sich den Schweiß ab, der sich unter seiner Nase um den kleinen kurzen und eckigen Führerbart herum abgesetzt hatte.

Endlich kam das Heulen, schnell, abgehackt, hoch und runter, hoch und runter, immer hintereinander: Vollalarm! Eigentlich war es nicht mehr nötig, denn wir waren ja schon mittendrin, aber Bullner schien nur darauf gewartet zu haben.

Ohne Alarm durfte er vielleicht nichts machen, und nur wenn die amtliche Sirene heulte, konnte er seine Anordnungen treffen. Fritze war nun mal so ein Mensch.

Dafür fing er jetzt aber auch an, uns anzutreiben. „Los, los!“, rief er, keuchend und merkwürdigerweise heiser, „in den Bunker mit euch, schnell, schnell!“

Wir rannten die Treppen runter und über den Hof auf den Bunker zu, aber wir mussten erst warten, bis Fritze mit dem Schlüssel kam. Wir drängelten vor der Bunkertür und starrten in den Himmel. Der Himmel war voll Gedröhn. Ganz oben, winzig, zogen sie vorbei, silbrig glänzend wie Stecknadeln. Zuerst sah es aus, als wenn es nur eine Staffel wäre, aber dann sahen wir, dass es mindestens fünfzig Ketten waren, und es kamen immer mehr, vielleicht 200 oder 300 oder noch mehr. Zählen konnte man sie nicht. Dazwischen standen die Sprengwölkchen der Flak und die langen Streifen der Leuchtspurgeschosse aus den Vierlingen. „Mensch, Mensch“, sagte Mollenhauer, „sie schießen viel zu tief.“ Endlich kam Bullner mit dem Schlüssel.

Wir setzten uns auf die beiden langen Holzbänke, die an den Seiten des Bunkers entlangliefen. Das heißt: ein richtiger Bunker war es eigentlich nicht, so was gab es bei uns nicht. Es war eher eine Art Unterstand, ein Graben, vielleicht einen Meter tief in der Erde, knapp zwei Meter breit und zwanzig Meter lang. Die Seiten waren mit dicken Holzstämmen versteift, und deshalb sahen die Wände aus wie ein Palisadenzaun in einem Indianerdorf. Oben war eine Decke, auch aus Holzbohlen, und alles war umgeben von einer bestimmt zwei Meter dicken Sandschicht, auf der Gras und Franzosenkraut wuchs. Von außen sah das Ding wie ein riesiger Lindwurm aus der Siegfriedsage aus.

Drin war es düster, feucht, modrig, und in dem dünnen Licht von den wenigen bläulich angemalten Glühbirnen sahen wir alle wie Gespenster aus. Auch das Schießen von draußen, das Brummen des Pulks, das ferne Krachen der Bomben und Luftminen hörte sich hier drin viel gefährlicher, dumpfer, bedrückender an. Das schlimmste war, man konnte nicht weg. Man saß hier und wartete. In so einem Bunker war es immer ekelhaft, und wenn es nicht gleich Vollalarm, sondern erst Voralarm gab, liefen wir auch immer noch schnell nach Hause. Heute ging es ja nicht. Und nun saßen wir im Lindwurm und beobachteten, wie dünner, feiner Sand bei jedem stärkeren Schlag durch die Palisadenwände und die Decke rieselte.

„Heute“, flüsterte Kröger, „machen sie die Stadt fertig, das kann ich euch sagen. Bestimmt sind es Tommys. Bloß die Tommys greifen am Tag an, die Amis sind zu feige.“

„Schnauze!“, sagte Mollenhauer.

„Halt den Mund“, fauchte Bullner, „halt den Mund, du dämlicher Bengel!“

Ein paar feixten, aber die meisten waren still.

Das dumpfe Krachen und Schießen blieb immer gleich stark. Es war so, als wenn es überhaupt nicht aufhören wollte. Ein paar von uns fingen an, ihre Frühstücksstullen zu verzehren, aber das Rascheln von Pergamentpapier machte Bullner wohl besonders nervös, und er schrie durch den Gang: „Wenn ihr nicht augenblicklich still seid …“ Aber dann wurde er wieder ruhig, sackte in sich zusammen, stierte vor sich hin und sagte nicht mehr, was passieren würde, wenn wir nicht augenblicklich still wären. Langsam wurde es ruhiger draußen, das Brummen ließ nach, und die Flak bellte nur noch in größeren Abständen. Man merkte: sie waren weg. Wir warteten. Bullner wartete auf das amtliche Zeichen. Endlich heulte es Entwarnung, und wir stürzten nach draußen auf den Schulhof. Aber viel weiter kamen wir nicht.

Drüben, hinter den Wiesen und der Strandstraße und der großen Bucht, die das Meer hier macht, lag die Stadt. Aber man konnte nichts sehen von ihr, den Leuchtturm nicht und auch nicht die hohen spitzen Türme der Marienkirche oder die helle Kuppel des Kurhauses an der Promenade. Es war nur Rauch da drüben, dicker schwarzer, heller, grauer, in allen Farben schillernder Rauch, riesenhaft wie eine ungeheure Glocke. Dazwischen zuckte es hell und weiß und rötlich, und in dicken Schwaden trieb der Rauch zu uns herüber, stinkend, Staub abwerfend, schwarz, grau, voll Brandgeruch, eklig.

Wir standen wie angewurzelt, bis Bullner „Los, los, macht, dass ihr nach Hause kommt!“ sagte und wir uns unsere Mappen aus der Klasse holen mussten. Dann gingen wir nach Hause, langsam, vorsichtig, als wenn uns noch was passieren könnte, und immer die Stadt im Auge. Aber eigentlich war es nur noch Rauch.

 

Nachmittags raste der Jungenschaftsführer Mollenhauer mit dem Rad durch die Straßen, hielt an jedem Haus, wo einer von uns wohnte, und schrie durchs Fenster oder die Tür: „Heute, drei Uhr, Dienst, alle in die Schule!“, und dann raste er weiter.

Wir zogen die Uniform an. Es war noch die Winteruniform, denn es war ja erst Mitte März, und wir durften noch die dicken, dunklen Tuchjacken tragen, mit den silbernen Knöpfen und Winkeln, dem Schulterriemen und dem breiten Koppel mit Fahrtenmesser. Es war eine angenehm warme Uniform und nicht so winddurchlässig wie die sommerliche Kluft mit Braunhemd und kurzer Hose. Außerdem sah sie viel schicker und erwachsener und militärischer aus. Es war immer gut, wenn wir sie tragen durften. Wir sahen dann wirklich wie eine geschlossene Kompanie aus. Und es gefiel uns sehr. Den Müttern gefiel es nicht so gut, jedenfalls manchen nicht, zum Beispiel der von Klas, aber es war auch nicht so wichtig, ob es ihnen gefiel oder nicht.

Als wir auf dem Schulhof antraten, in drei Gliedern jeder Jungzug, unter der riesigen alten Ulme, bei der gerade die ersten Blattspitzen herauskrochen, und über uns war immerzu der schwarzgraue Rauch der brennenden Stadt, warteten sie schon auf uns: neben unserem Fähnleinführer ein Luftwaffenoffizier mit dem rechten Arm in einer schwarzen Binde, jung, schlank, mit beiden EK und dem Kretaschild, und unser Lehrer Fritz Bullner, spitzbäuchig, nervös, mit den Fingernägeln schnipsend. Es lag was Besonderes in der Luft.

Als alles auf Kommando des Fähnleinführers wieder in „Rührt-euch!“ stand, trat der Luftwaffenoffizier vor die Front und sprach. Er redete mit einer hellen, klaren, schneidenden Stimme. Er sagte: „Schwerer verbrecherischer Terrorangriff anglo-amerikanischer Luftpiraten ...“, und er meinte die Stadt damit, aus der der Rauch kam. Er sagte: „Tausende von Schwerverwundeten, ungebrochen in ihrem festen Willen, Heimat und Leben des deutschen Volkes zu verteidigen, aber pflegebedürftig ...“, und er meinte, wir sollten unsere Schule als Ersatzlazarett hergeben. Er sagte: „Zusammenstehen, alt und jung, Stärke und Widerstandskraft der Heimatfront …“ und er meinte uns damit, und ein tiefes Gefühl der Befriedigung erfüllte uns: Wir waren Soldaten jetzt, gleichberechtigt, ohne Waffen zwar, aber genauso tapfer und unerschrocken wie die Helden an der Front. Er sagte: „Jetzt ist nicht mehr das Lernen wichtig, jetzt ist das Kämpfen wichtig ...“, und wir sahen zu Fritze Bullner hin, der neben dem Offizier stand, nichts sagte, sich nicht rührte und nur mit den Fingern schnipste und die kleinen Augen zusammenkniff. Vielleicht dachte er an das Komma vor „zu“ und den letzten Diktatsatz: „Der Vater reitet so schnell, um sein Kind zu retten.“

Aber das war jetzt vorbei.

Der Offizier sagte noch was von „Kraft und nationaler Begeisterung der jungen Generation im Kampf gegen eine Welt von neidischen Feinden …“, dann klappte er sehr zackig die Hacken zusammen, grüßte und trat zurück. Auf Kommando des Fähnleinführers sangen wir „Und wenn wir marschieren, dann leuchtet ein Licht, das Dunkel und Wolken strahlend durchbricht ...“ und über uns war der dicke, schwarzgraue Rauch der brennenden Stadt, der nach Phosphor stank, nach Schwefel und nach verkohltem Holz.

In den nächsten beiden Stunden räumten wir die Schule aus. Die Bänke türmten wir auf dem Hof zu einem großen Haufen zusammen, und Fritze rannte ständig neben uns her und schrie: „Wollt ihr das wohl ordentlich machen, ihr Bambusen!“, und: „Macht nichts kaputt, seid doch ein bisschen sorgfältig!“, aber es hörte keiner auf ihn.

Dann luden wir Strohsäcke und Pferdedecken von zwei LKW ab, und die Pioniere, die die Sachen gebracht hatten, halfen uns dabei. Wir waren jetzt Soldaten wie sie und keine dämlichen Schuljungen mehr, die in Fritzes Musikstunden mit Bakelitflugzeugen spielten und den „Erlkönig“ auswendig lernten. Aus den Strohsäcken und den Decken bauten wir in den beiden Klassenzimmern und der Turnhalle Betten auf, eins neben dem anderen, sorgfältig und sauber, eckig und abgezirkelt, wie wir das im Lager oft geübt und gelernt hatten.

Und der Fliegeroffizier sagte: „Prima, Jungs!“, und unser Fähnleinführer strahlte wie ein Primelpott. Nachher schickte er Jungzug 3 und Jungzug 4 nach Hause, weil er die Kleinen nicht mehr gebrauchen konnte. Mit uns marschierte er durch die Hauptstraße hinunter zum Feuerwehrgebäude.

Der Fliegeroffizier war wieder da, und neben dem Fähnleinführer tauchte auch der alte Feuerwehrhauptmann auf, den sie an der Front nicht mehr gebrauchen konnten, weil er nur noch eine Niere hatte. Wir bauten uns im Karree um die drei herum auf, und der Offizier hielt wieder so eine ähnliche Rede wie auf dem Schulhof. Aber sie klang noch schneidiger.

Er sagte: „Jeder muss seinen Beitrag leisten ... Auch ihr seid aufgerufen in diesen schweren Stunden des Vaterlandes ... Ihr sollt die Heimat sichern, während eure Väter an der Front stehen ... Auch hier ist Front, und ihr seid junge Soldaten“, und es hörte sich alles schon sehr militärisch an. Der Feuerwehrhauptmann erklärte uns dann, worum es ging. Wir sollten in Gruppen zu drei Mann als Melder eingesetzt werden. Unsere Aufgabe war es, bei Tagangriffen dafür zu sorgen, dass keiner auf der Straße herumlief. Bei Nachtalarm sollten wir für Verdunklung sorgen, er sagte „absolute Verdunklung“, und vor allem sollten wir „Schäden melden, die durch Feindeinwirkung entstehen können“. Es war eine klare, militärische Aufgabe.

Dann erhielten wir jeder einen Stahlhelm, Beutestahlhelme natürlich, der eine einen französischen mit dem schmalen Metallkamm obendrauf, der eine einen von den breitrandigen, flachen Tommy-Helmen, der andere einen russischen, groß, klobig, nur dickem Lederpolster, olivfarben und mit breiten, doppelten Halteriemen. Dazu kriegte jeder eine breite hellblau leuchtende Binde mit einem strahlenden weißen „M“ drauf, zu tragen zwei Fingerbreit über dem Ellbogen des rechten Arms: Melder. Wir bekamen vom Fähnleinführer dann noch ein paar Instruktionen, wie wir uns im Einzelnen verhalten sollten, und jeder Dreiergruppe wurde ein Straßenzug zugeteilt.

Dann waren wir entlassen und konnten nach Hause gehen, mit Stahlhelm und blauer Binde - Soldaten der Heimatfront. Wir hatten was zu sagen, wir hatten was zu tun, wir brauchten nicht mehr bloß Postkarten von Ritterkreuzträgern zu sammeln, wir waren selber dabei. Wir hatten Aufgaben, Befehle, einen Stahlhelm und eine blaue Binde. „Erlkönig" ade! Es war ein herrliches Gefühl.

 

Natürlich wachte man nicht gleich auf.

Meistens musste die Mutter einen wachrütteln, und die Augen waren verklebt und der Mund trocken, und es war warm im Bett und mollig. Aber dann war der Ton da, heulend, klirrend, auf- und abschwellend, dreimal hintereinander. Voralarm!

Vielleicht flogen sie vorbei. Aber vielleicht kamen sie auch noch einmal zurück zu der Stadt, um ihr den Rest zu geben. Vielleicht waren es nur wenige, 100 oder 150. Oder es war auch nur ein Aufklärer. Jedenfalls musste man raus.

Und rein in die Skihose, die Schuhe an, Hemd, Pullover, Uniformjacke, Koppel um, Schulterriemen, die blaue Binde über den rechten Arm, zwei Fingerbreit überm Ellbogen, weißes „M“ nach außen. Stahlhelm auf, den russischen mit den beiden Halteriemen, einen unter die Unterlippe, den zweiten unters Kinn, feststellen: Er wackelt. Er ist zu groß, macht nichts, Hauptsache: Stahlhelm. Fertig, raus!

Die Mütter liefen hinter uns her bis an den Gartenzaun. „Was soll denn das“, schrien sie, „mitten in der Nacht ...?“ Dann riefen sie: „Rein mit euch, kommt in den Keller!“, aber wir hatten keine Zeit, auf sie zu hören, wir hatten Befehle. Wir waren Soldaten. Dies war Heimatfront, und sie sollten allein in den Keller gehen.

Im Keller war es dunkel, muffig, unheimlich, angsteinflößend. Der Keller war was Ekliges. Draußen aber war es schön. Kühl war es hier, frisch, salzig vom Meer her, und die Dunkelheit war aufgehellt vom fernen Schein der brennenden Stadt und von den weißen Strahlen der tastenden Scheinwerfer. Dann riefen die Mütter nicht mehr. Sicher hatten sie es aufgegeben. Sollten sie allein in den Keller gehen, sie waren Frauen und gehörten da rein. Aber wir waren Soldaten, mit Stahlhelm und blauer Binde. Wir hatten Befehle, und das war gut so.

Zuerst standen wir herum auf der leeren Straße und wussten nicht, was wir anfangen sollten. Wir folgten den suchenden Strahlen der Scheinwerfer und gingen die Straße hinunter bis an den Rand der Wiese.

Unten auf der Wiese stand der kleine Scheinwerfer, man konnte bis rauf zur Straße die Kommandos hören. Wir trotteten noch einmal das Revier unserer Dreiergruppe ab, schrien ein paarmal im Chor: „Licht aus, Licht aus!“, und kehrten dann zurück zum Wiesenrand. An den Fliedersträuchern hockten wir uns nieder und horchten auf die Kommandos, die unten von dem kleinen Scheinwerfer kamen.

Als die Sirene Vollalarm gab, waren sie schon da. Sie brummten über uns, und der weiße Kegel des Scheinwerfers auf der Wiese wurde nervös und hüpfte hin und her. Auch die Flak fing an, und die zischenden Spuren der Leuchtspurmunition machten die Nacht hell und streifig.

Aber die oben schossen auch zurück, jedenfalls ein paar von ihnen, und sie warfen Leuchtkugeln ab, deren grünlich weißes Licht alles in ein seltsames Hell tauchte. Wir sahen wie Leichen aus. Und in dem krachenden Schießen und dem pfeifenden Zischen der Geschosse kamen wir uns plötzlich sehr einsam vor am Rand der Wiese und verlassen und ohne Beistand. Aber wir bissen die Zähne zusammen, warfen uns auf die Erde, wie wir es hundertmal bei „Fliegerdeckung links, marsch, marsch!“ gelernt hatten, und spähten unter den wackelnden fremden Stahlhelmen hervor auf den Himmel.

„Er hat einen drin“, schrie einer von uns, „er hat einen drin, Mensch!“ Und wir sahen im dünnen, weißen Kegel des Wiesenscheinwerfers hoch oben zwischen platzenden Geschossen und angestrahlten Explosionswölkchen die silbern schimmernde Maschine, anscheinend ein Jäger, einer von denen, die den Bomberpulk begleiteten.

Er versuchte rauszukommen, aber der kleine Scheinwerfer behielt ihn fest, und wir wollten uns halb totlachen über die Kapriolen, die der Jäger schlug, um aus dem Licht zu kommen und aus dem Regen der Geschosse.

Aber plötzlich heulte es über uns, laut anschwellend, so laut, dass die Luft zu klirren schien, und wir fielen zurück auf den Erdboden unter den Sträuchern. Der Luftzug der niederjagenden Maschine ließ uns flattern wie ein Stück Papier. Dann hörten wir nur noch das rasend schnelle, knallende Schießen der Bordkanonen, das Klirren, Splittern, Explodieren und das Schreien von Menschen unten auf der Wiese. Weit über dem brennenden Horizont zog der Jäger wieder nach oben.

Dort, wo der Scheinwerfer gestanden hatte, brannte es, und Menschen schrien. Wir waren wie gelähmt, unsere Kiefer ganz starr, und unsere ganze Brust war voll Angst. Einer sagte: „Wir müssen es melden“, aber wir sagten: „Geh doch allein, Mensch, geh doch allein!“ Aber er ging nicht und blieb liegen wie wir, und wir lagen still und zitterten und horchten, machtlos ausgeliefert und ganz allein mit den Schreien der Getroffenen und dem brennenden Scheinwerfer und dem Dröhnen der Maschinen und dem leuchtspurhellen Schießen der Flak und der Flugzeuge.

Als es etwas ruhiger wurde und der erste Pulk vorüber war, sprangen wir auf und liefen die Straße zurück, in unser Revier. Vielleicht hätten wir runtergehen müssen zu dem Scheinwerfer und den Schreienden, aber wir hatten Angst, und im Laufen sagten wir uns, sie würden sicher in das Lazarett kommen, das wir ihnen am Nachmittag gebaut hatten. Erst als wir weit genug weg waren, ließ die Angst nach, und wir wurden wieder mutiger und gingen langsamer, und die viel zu großen fremden Stahlhelme wippten auf unseren Köpfen.

Da sahen wir das Licht.

 

Es war ein dünner, ganz schmaler Spalt am unteren Rand eines Fensters im ersten Stock eines Hauses in unserer Straße. In unserer Straße!

Wo sie gerade auf das Licht geschossen hatten, auf das Licht vom Scheinwerfer, ein notwendiges, ein richtiges, ein schützendes Licht! Und dies war ein feindliches Licht, ein verräterisches, ein Zeichen, vielleicht, ein Volksfeindlicht, ein verbrecherisches, ein böses, ein Landesverräterlicht, eines, das die Flugzeuge anlocken sollte, sie zurückrufen oder sonst was. Es musste weg, das Licht.

Wir stürmten in das Haus, rasten die Treppen hoch, schlugen gegen die Wohnungstür im ersten Stock, warteten, hörten das Quäken von kleinen Kindern und den merkwürdig stapfenden Schritt, der sich der Tür näherte. Wir zurrten die Stahlhelme fest und die Koppel und Schulterriemen. Wir waren Soldaten. Dies war Heimatfront. Wir hatten Befehle. Die Tür ging auf.

Da stand ein Mann. Er hing in einer Krücke, ein Bein fehlte ihm, die feldgraue Soldatenhose war mit Sicherheitsnadeln an der einen Hüfte hochgesteckt. Er rauchte.

„Was wollt ihr denn?“, sagte er und griente.

„Bei Ihnen brennt Licht“, sagten wir, „machen Sie das Licht aus!“

„Mensch“, der Mann lachte trocken, wütend, „bei mir soll Licht brennen? Und dazu kommt ihr hier rauf in eurer komischen Maskerade.“

„Maskerade“, hatte er gesagt, zu uns! Unsere Stahlhelme, die blaue Binde mit dem weißen „M“, unsere Befehle - das war Maskerade für ihn!

„Gerade haben sie den Scheinwerfer zerschossen“, sagten wir, „und Sie machen Licht an. Los, machen Sie das Licht aus! Oder wir melden es.“

„So“, sagte er, „ihr meldet mich, ihr Furzkruken!“

Die Frau, die hinter ihm in der Tür erschien, mit dem schreienden Baby auf dem Arm, sagte: „Erich, was soll das!“, und zog sich den Träger von ihrem Unterrock hoch. Sie blieb stehen und musterte uns, und es war vielleicht ein bisschen Furcht in ihren Augen vor unseren Binden oder den Stahlhelmen, aber der Mann dachte nicht daran, auf sie zu hören. „Schert euch nach Hause“, brüllte er plötzlich, „was machen solche Gören überhaupt auf der Straße beim Angriff, was!“ Gören hatte er uns genannt, Kinder, Furzkruken - uns, Soldaten der Heimatfront, dazu da, ihn und seine Frau und sein Kind zu schützen, mit Aufgaben und Befehlen und Stahlhelmen und Macht. Ein Volksfeind, ein Schädling.

„Ein Spion sind Sie“, schrien wir, „ein Spion! Wir melden Sie, wir zeigen Sie an ...“

Aber er brüllte dazwischen: „Raus, raus, oder ich verprügel euch! Macht, dass ihr nach Hause kommt, eh ich euch den Arsch vollhau!“ Dann knallte er uns die Tür vor der Nase zu, drinnen weinte das Baby, der Mann fluchte, und die Frau redete leise auf ihn ein. Wir standen im finsteren Treppenhaus, voller Wut, heiß vor Wut bis in die Haarspitzen. Wir tasteten uns das Geländer hinab nach unten. Auf der Straße blieben wir stehen.

Es war ein winziges Licht, wirklich, ein ganz winziges, kaum zu sehen, aber der Fähnleinführer hatte gesagt, man könnte selbst ein Streichholz brennen sehen in dreitausend Meter Höhe. Wir hätten tatsächlich zur Polizei gehen sollen, aber was wären wir gewesen, wenn wir Hilfe gebraucht hätten. Feiglinge wären wir gewesen, auf Fremde angewiesen. Wir gingen nicht zur Polizei. Wir nahmen die Steine auf und warfen. Es klirrte und splitterte, drinnen schrie die Frau auf, und das Baby weinte. Es kam Entwarnung, und das Licht war aus, und es war wieder dunkel auf unserer Straße.

 

Jetzt aber war die Straße leer und voll Sonne, und unsere Augen brannten, weil wir immer auf die Straße gegen die Sonne starrten und warteten, dass in dem Sonnenschein irgendwas passieren sollte.

„Vielleicht“, sagte Labahn zaghaft, und seine Stimme klang trocken, „vielleicht gießen sie auch kein Benzin rüber, was?“

„Sie gießen“, sagte Blechert, „wirst sehen.“

An der Brücke brannte das Schnellboot, und auf der Reede brannten die Schiffe, der dicke Qualm stieg gegen die Sonne, und die schwarzen Flocken tanzten träge über die Straße und den Stillen Ort und die lappigen weißen Laken, die in den Fenstern hingen.

„Es sind Untermenschen“, sagte Blechert, und Mollenhauer nickte und flüsterte: „Wir müssen kämpfen wie die Löwen.“

Und wir schwitzten und waren müde.

Auf einmal sagte hinten einer: „Womit?“

Zuerst wusste keiner, was der hinten im Graben meinte, und Mollenhauer sagte: „Was redest du?“

„Ich meine“, sagte der hinten, und hinter den hohen Grasbüscheln konnten wir sein Gesicht nicht sehen, „womit sollen wir kämpfen.“

„Ach so“, sagte Mollenhauer und wurde rot, und wir guckten alle zu Mollenhauer rüber, und Mollenhauers dickes Gesicht wurde immer roter. „Egal“, sagte er, „egal, wir müssen. Es ist heilige Pflicht!“ Und wir waren sehr enttäuscht von Mollenhauer.

Und der Kleine, der weiter unten lag, quarrte wieder mit weinerlicher Stimme: „Kann ich mir jetzt ’ne Stulle holen?“

Vielleicht hätte Mollenhauer ihn verprügelt, wenn nicht plötzlich das Brummen da gewesen wäre, das Brummen, das anders war als Flugzeugsurren, tiefer, kräftiger und näher. So nahe, dass die Straßengrabenerde ganz weich zu bibbern schien.

„Mensch“, sagte Labahn, und Blechert krächzte: „Junge, Junge“, und Mollenhauer sagte tapfer: „Es geht los, Jungs“, aber es hörte sich nicht besonders stark an.

Zuerst kam zwischen der lang gezogenen Kastanienallee das Rohr zum Vorschein, ein dickes, langes, grüngraues, schmutziges Rohr mit mehreren weißen Ringen. Das Rohr, federnd und auf und ab wippend, gehörte zu einem Turm, flach und breit und grau, und beim Schwenken des Turms, links rüber, rechts rüber, tastend und prüfend, sah man den kleinen roten Stern und die große weiße Nummer daneben. Die Luken des Panzers waren geschlossen, aus den MG-Schlitzen tasteten die Läufe, seine breiten Ketten klirrten über das Kopfsteinpflaster, und wir konnten nicht verstehen, was Labahn murmelte. Er lag vorn im Graben, dicht neben Mollenhauer und Blechert, und er riss den Kinnriemen des alten französischen Stahlhelms auf.

„Was machst du?“, schrie Mollenhauer, aber das Brummen des Panzers war stärker, „bist du wahnsinnig?“, und der Kleine mit dem Stullenhunger war ganz weit nach unten gerutscht und wimmerte: „Sie schießen uns ab, sie schießen uns ab!“

Hinter dem Panzer kamen drei Sturmgeschütze, federnde lange Rohre, schwenkend und suchend, und Mollenhauer brüllte: „Weiter runter, weiter runter!“, und wir rutschten weiter nach unten, und alles in uns war Angst. Labahn war ganz grün im Gesicht, er riss sich den klapprigen Franzosenhelm runter und ließ ihn in den Graben kollern, und dann fetzte er sich die blaue Melderbinde vom Ärmel, und Mollenhauer brüllte von unten: „Was machst du, du Schwanz, Mensch!“, aber das Motorenkrachen war schon so dicht, dass keiner ihn hörte, und wir konnten sehen, wie Labahns Beine zitterten, und Blechert krähte den Stullenheini an: „Rückert, du Memme, heul nicht, du Feigling!“

Aber Rückert heulte und zitterte immerzu, und er steckte uns an, und es war kein Mut mehr in uns. Mollenhauer beobachtete Labahn, und plötzlich, als die Panzer dicht vor uns waren, schrie er: „Bleib liegen, du Saftheini!“

Aber Labahn sprang auf, zitternd, bibbernd, grün im Gesicht, und auf einmal stand er auf dem Grabenrand und schrie gegen das schwenkende Rohr: „Nein, nein, nicht schießen, nicht schießen, nicht schießen!“, und das Rohr stand still vor ihm, und der Panzer wippte und hielt, und sein Motor brüllte, und wir dachten, jetzt werden sie uns alle mit Benzin übergießen, wo sie so schön hätten vorbeifahren können, und wie die Wilden rissen wir die Armbinden ab und die Stahlhelme, und Mollenhauer winselte: „Ihr Schwänze, ihr Kriecher, ihr Arschlöcher!“

Aber dann riss er sich auch den dicken Russenhelm ab und die blaue Binde, und alles kullerte unten in den Graben. Oben ging die Luke auf, und wir pressten uns in das Gras, und am liebsten wären wir in die Erde reingekrochen, aber die Erde war hart und trocken.

Aus der Luke kam ein Oberkörper heraus in einer ölverschmierten schwarzen Uniform mit breiten braunen Schulterriemen, und auf dem Kopf hatte der Russe eine rippige, dicke, runde Kappe mit eingebauten Kopfhörern wie bei uns die Flieger, und Rückert wimmerte: „Sie spießen uns auf, sie spießen uns auf“, und Mollenhauers Kopf war im Gras vergraben.

Der Russe aus der Panzerluke guckte auf Labahn, den zitternd-grünen, und er guckte über unsere stahlhelmlosen Köpfe im Straßengraben, und dann fuchtelte er mit der Hand und brüllte in das Motorengeknatter hinein: „Dawai, nach Chaus, dawai, dawai, Krieg kapuht, dawai, dawai!“, und die Luke klappte zu.

Der Panzer krachte und zitterte, und klirrend rollten seine Ketten wieder an, und wir hoben vorsichtig die Köpfe hoch, und aus den Sturmgeschützen warf ein Russe Labahn einen Brotkanten vor die Füße, und ängstlich hob Labahn ihn auf. Wir standen auf und kletterten nach oben, und keiner achtete mehr auf Mollenhauer, bloß Blechert blieb unten bei ihm liegen, und Labahn gab Rückert, dem heulenden, den Brotkanten und sagte: „Da, du Idiot, du wolltest doch ’ne Stulle haben“, und die Russenwagen rollten an uns vorbei.

Rückert betrachtete das dicke Brotstück, und dann biss er vorsichtig hinein und sagte: „Sie haben uns nicht aufgespießt.“

„Kommt noch“, schrie Mollenhauer von unten, „kommt noch!“

Der Wimpel

Das Haus lag am Waldrand, und es hieß auch „Am Waldrand“, denn bei uns haben alle Häuser Namen.

Hoch und weiß stand es, mit seinem nachgedunkelten roten Ziegeldach, seinen breiten, tief liegenden Bogenfenstern und der schmiedeeisernen schwarzen Laterne über dem Eingang, zwischen vielen langen, dichten dunkelgrünen Fichten.

Es sah sehr vornehm und abweisend aus, und obwohl es etwas abseits von den anderen Häusern dieser Gegend stand, fiel es doch auf, dass es das einzige Haus war, aus dem keine weiße Fahne heraushing. Kein Bettlaken, kein Kopfkissenbezug, keine Tischdecke, nichts.

Es stand einsam und verschlossen und fremd da.

Wir suchten Reste: Feldtelefone, Zelte, Tornister, Decken - alles, was am Waldrand liegen geblieben war, nachdem die Soldaten eilig abgezogen waren. Einer hatte aus der Mühle zwei Säcke mitgebracht, grau und lang, Doppelzentnersäcke. Und wir hatten sie schon ziemlich vollgestopft mit allem möglichen Kram, als wir wieder in die Nähe des Hauses kamen.

Die Russen waren noch nicht lange hier, vielleicht zehn Stunden, länger noch nicht. Sie waren durchgefahren zum Wasser, sie hatten ein paar Hotels am Strand zu Quartieren gemacht, und ihre grünen plumpen Geschütze hinter den schmalen viereckigen Lastautos standen in den Straßen herum und auf der Promenade. Hier oben waren sie noch nicht gewesen. Und das einsame hohe Haus, weiß und ohne weiße Fahne, hatten sie noch nicht gesehen. Aber sie würden kommen, bestimmt würden sie kommen, irgendeiner würde sie bestimmt hier heraufschicken. Wir überlegten, ob wir hinübergehen sollten zu dem Haus, bevor die Russen kämen, denn es war interessant zu wissen, was da jetzt wohl los sein mochte.

Wir redeten darüber, aber die meisten hatten keine Lust, zu dem Haus zu gehen, jetzt, wo es nicht mehr nötig war und wo die Russen jeden Augenblick kommen konnten. Dabei waren wir früher, als wir noch klein waren, oft in dem Haus gewesen, mindestens jede Woche zweimal, nachmittags, wenn die Schule vorbei war. Dann hatten wir auf dem kurzen hellgrünen Rasen vor dem Haus unter den breiten Fichtenästen gespielt, Völkerball oder Greif oder Scharade, denn Scharade war etwas Beliebtes. Oder wenn es regnete, waren wir in die große Glasveranda gegangen, hinter der Frau Rinkerts vornehmer Salon lag.

Und Frau Rinkert hatte uns Malzkaffee gebracht oder Limonade oder Saft aus Wasser und Aroma-künstlich und dazu braunen Kuchen oder kleine Kekse mit Zuckerguss. Dann hatten wir dort auf Gartenstühlen aus dem Wintergarten gesessen, getrunken und gegessen, und Frau Rinkert hatte uns von deutschen Helden erzählt, von Andreas Hofer und Theodor Körner und Leo Schlageter und Horst Wessel und Graf Luckner, dem Seeteufel. Und es war immer sehr spannend und interessant in der Kindergruppe gewesen.

Im Winter aber, wenn die Fichten voll mit dickem Schnee waren, und die Veranda war kalt und ausgeräumt, hatten wir in Frau Rinkerts Salon gesessen, an dem langen ovalen Tisch mit der schwarz polierten Platte und den dicken Löwenkopfbeinen, und gebastelt. Das waren die winterlichen „Bastelstunden“ gewesen, warm, gemütlich, mit zischenden und knarrenden dicken Buchenstücken in dem offenen Kamin, und aus Sperrholz und Pappe und Kleister und Wolle und alten Stoffresten hatten wir Weihnachtsgeschenke für die Frontsoldaten gebaut, kleine Puppen, Kästchen, Pulswärmer und solch Zeug.

Und Frau Rinkert hatte uns warmen Pfefferminztee gebracht und auf dem Grammofon immer eine Weihnachtsplatte abgespielt. „Hohe Nacht der klaren Sterne ...“, denn von den anderen Weihnachtsliedern wollte sie nichts wissen. Und sie sagte auch nicht Weihnachten, sondern Julfest, und statt Januar mussten wir Hartung und statt Februar Hornung sagen. Aber sonst war es sehr schön bei Frau Rinkert.

Nur wenn er kam, Herr Rinkert, dann wurde es immer ungemütlich. Er war viel größer als seine Frau, lang und dürr und sehr penibel. Seine Ortsgruppenleiteruniform saß übergenau, seine Stiefel waren immer blank, und jedes Mal, wenn er zufällig reinkam, mussten wir aufspringen und „Heil Hitler, Herr Ortsgruppenleiter!“ brüllen. Meist hatte er sich dann irgendwo in einen von den tiefen Sesseln gesetzt, Zeitung gelesen und darauf aufgepasst, dass beim Basteln auch nicht ein Schnipsel Papier oder ein Tropfen Leim auf den Boden fiel. Meist hatte er auch das Grammofon abgestellt, und statt „Hohe Nacht der klaren Sterne“ mussten wir dann „Der Gott, der Eisen wachsen ließ“ singen.