Impressum

Egon Richter

Eine Stadt und zehn Gesichter

 

ISBN 978-3-95655-780-4 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1976 im VEB Hinstorff Verlag Rostock

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Erinnerungen

Zuerst habe ich nicht für möglich halten wollen, was sich nach eifrigem Forschen als unabänderliche Wahrheit darzustellen schien: es gibt keine Erinnerung.

In der kontinuierlichen bunten Zeilenfolge unseres Jugendlexikons klafft zwischen „Ergussgestein“ und „Erkältungskrankheiten“ keine Lücke, in welcher die „Erinnerung“ hätte auftauchen können. Die Jugend also hat keine Erinnerungen - oder sie bedarf ihrer nicht.

Was ist Erinnerung?

In philosophischen Wörterbüchern unterschiedlichen Umfangs findet sich keine Erklärung. Erinnerung fehlt. Die Philosophie nimmt sich ihrer nicht an. Sie scheint demnach unvereinbar mit exakter Wissenschaft zu sein, nicht einzuordnen in funktionstüchtige Kataloge und Systeme; etwas Diffuses also, Unzuverlässiges, Unerklärbares.

Was ist Erinnerung?

Die großen Rechtschreibwerke machen es sich einfach. Sie definieren das Wort lediglich als weiblich: Erinnerung Komma femininum Strich die. Sie begründen nichts, sie erklären nichts, dazu sind sie nicht da: sprachliche Objektivität. Erinnerung ist weiblich, das genügt. Jedoch, da findet sich ein Nachsatz in jedem guten Sprachführer: Doppelpunkt Ordnungsbuchstabe a Klammer sich erinnern Ordnungsbuchstabe b Klammer jemanden erinnern. Ende der Aussage. Zumindest die Dubiosität dieses Begriffsphänomens ist deutlich ausgesprochen, wenn das Verlangen nach Erklärung auch unbefriedigt bleibt.

An diesem Punkte mangelhafter Erkenntnis angelangt, bin ich geneigt zu sagen: Mir fehlt jede Erinnerung. Denn wenn, sage ich mir, dieser Begriff nur als inhaltloses sprachliches Etwas existiert, wenn er nicht wissenschaftlich katalogisiert werden kann und demnach höchst obskur ist, wie wir gern zu sagen bereit sind (obskur - dunkel, unbekannt, unberühmt), dann bin ich weder verpflichtet noch imstande, mich seiner als sachlicher Kategorie zu bedienen: Also, ich habe keine Erinnerung an die Stadt, um die es im folgenden gehen wird.

Dieser Zustand verursacht Unbehagen: Ein Mensch ohne Erinnerung fühlt sich wie Chamissos Schlemihl ohne Schatten.

Dank sei dem Zufall, den es, wissenschaftlich betrachtet, auch nicht gibt und der mir jenes fünfzehn Jahre alte Dünndruck-Lexikon in die Hände spielte, welches mich aus dem schattenlosen Vakuum zurückriss auf den Boden konkreter Begriffsbestimmung: Damals gab es noch Erinnerung.

Mein Gott, welche Offenbarung: Erinnerung Doppelpunkt Reproduktion früherer Bewusstseinsinhalte oder Erlebnisse durch das Gedächtnis mit dem Bewusstsein Komma diese schon einmal gehabt zu haben. Das muss man ganz auskosten.

Aber es ist schön, dass da von „Bewusstseinsinhalten“ oder „Erlebnissen“ die Rede ist, denn manches, was mich an die Stadt erinnert, von der bald zu berichten sein wird, ist weniger mit Erlebnissen als viel mehr mit Wissen, Kenntnissen und Erfahrungen verknüpft, die durch andere Einflüsse möglich geworden sind. Erlebnisse dagegen, wenn auch verfärbt oder verklärt durch die Jahrzehnte, frühere und „reproduzierbar“ gewordene Erlebnisse mit oder in der erwähnten Stadt sind außerordentlich gering.

In der Fremdwortliebe aber stets gefördert, haben wir es nicht allzu schwer, ein anderes Wort zu finden, das Wilhelm Liebknecht definierte unter R: Reminiszenz, auch dies ein Femininum, erklärt als a) Erinnerung und b) Anklang - was schon viel besser passen will: Anklang ist männlich. Doch ist nicht sicher, dass Anklang findet, was da anklingt.

Denn was da anklingt, sind längst vergangene, kaum vernehmbare Töne aus längst vergangener Vergangenheit. Wenn die Erinnerung nicht täuscht, dann sind es Laute, die beim Zusammenfall jener bunten Glasstückchen entstanden, die in schon fast vergessenen Kinderjahren bunt bemalte Papptüten füllten und nach jedem kräftigen Schütteln dem staunenden Betrachter ein neues Glitzermosaik darboten. Aus roten, blauen, grünen, gelben Scherben. Scherbentüte Erinnerung.

Ad eins: Ein naher Anverwandter wird, weil rot, in hitziger politischer Debatte von einem braunen Nazi tätlich angegriffen und schlägt zurück. Und nicht zu knapp. Wird vorgeladen, wie das üblich war, und vor Gericht gestellt, wie ebenfalls noch üblich. Vor diesem Tribunal, von dem ich nicht einmal den Namen weiß (Landgericht? Provinzialgericht?), geschieht ein Wundertütenwunder jener Zeit: Der Mann wird freigesprochen. Da muss in jener Stadt auf hohem Stuhl noch ein beim allgemeinen „Feuern“ vergessner Republikaner gesessen haben. Ein roter Stein in meinem Anklangs-Mosaik.

Ad zwei: Dann muss der „Führer“ wohl mal dort gewesen sein, vermutlich „seiner“ U-Boot-Werften wegen, mit Tschingderassabum und Heil-Geschrei empfangen. Denn ich erinnere mich, wenn auch nur äußerst dunkel, dass wohl ein Viertel unserer Ortsbevölkerung sich gierig in die Sonderzüge stürzte, um ihn zu sehen und sich die Kehle wund zu brüllen und - selbstverständlich - ordentlich zu saufen, wie so eines Teufels Auftritt das erforderte. Ganz selig waren sie. Ein gelber Stein.

Ad drei: Dem eben Dargestellten logisch folgend, entsteht ein anderer Anklang von Erinnerung: Drei Jungen, unter ihnen der Verfasser, elf Jahre alt, in blauen Uniformen, mit Beutehelmen schwer behütet, verharren, Wache schiebend, unter einem Baum - ein alter Ahorn war’s, wenn ich nicht irre. Die Nacht war dunkelblau und voll Gedröhn. Am Himmel zogen Bomberpulks nach Süden, Scheinwerferfinger griffen in das Blau, Geschütze belferten, und Scheiben klirrten, und Angst zerrüttete die mühsam hochgespielte Tapferkeit. Das Ziel der Pulks war klar, da gab es keinen Zweifel: Das Bombenziel war jene Stadt. In vorgeschrittener Nacht stand fern am Horizont ein flackernd roter Schein, diffuser Dunstkreis nur von heißem Sterben. Undefinierbar in der Farbe, drückt dieser Stein sich in dem Mosaik herum.

Ad vier: Ich sehe meine Mutter in einem überfüllten Zugabteil. Ich sehe mich, auf einem unbekannten Seesack hockend, im Rücken Arme und am Hals den Atem eines Babys, eingeklemmt von Knobelbecherbeinen, hustend im Junorauch, im Räderrhythmus ruckend. Das Fenster ist kaputt und schön verklebt. Mit Leukoplast. Dann jaulen die Sirenen. Der Zug erschrickt und hält. Im Bahnhof jener viel zitierten Stadt. Geschrei, Rauch, Staub, maßlose Rücksichtslosigkeit, zerrissenes Gepäck. Lautsprecher brüllen, Geschütze orgeln, Frauen kreischen, und jeder ist sich selbst der Nächste. Ein weißes L mit Pfeil an grauer oder backsteinroter Wand, ein schwarzer Keller voller Feuchtigkeit, Schweiß, Angst, Gedränge, und überall ein Beben - ich weiß nicht, wie wir dem entronnen sind. Das war die Stadt, als ich sie kennenlernte, ich hab sie wirklich und wahrhaftig nicht gesehn. Geplatzte Scherben im Kaleidoskop. Vielfarbig bunt und äußerst zweifelhaft.

Spätestens in diesem Stadium balladesken Anklangs wird mir klar, dass dies Verfahren ohnehin unwissenschaftlicher Erinnerungstätigkeit abgebrochen werden muss. Nicht nur, weil jeder, der sich bis hierher vorgearbeitet hat - hoffnungsvoll vielleicht - berechtigt fragt: Was will der eigentlich? Will er nun sich oder jemanden erinnern? Wenn letzteres - bin dieser Jemand ich? Und plötzlich macht das Ganze keinen Spaß.

Denn: Es kann ja auch andere Erinnerungen geben. Solche an Hochzeiten, Wallspaziergänge, Fußballspiele, Segelregatten, Strandbäder, Hafenkneipen, Militärparaden (noch mit Platzpatronen), Paradeplätze und Parade-Cafés, an „Bollwerksaster“ und Bordell, an schönen grünen Wald und Anglerseen, an Bronzestatuen vom Alten Fritz (von Gottfried Schadow), Verlobungsfeiern und Getreidehändler - das alles und unzählig mehr ist an Erinnerungen durchaus denkbar. Erinnerung ist individuell, und schon aus diesem Grunde ist sie nicht verlässlich: Erinnerung verklärt, verschönt, verschiebt die Proportionen, bei der Erinnerung steht Ratio selten Pate. Erinnerung ade! Was soll das auch. Wenn man es recht betrachtet, wen bringt die durchaus personengebundene „Reproduktion früherer Bewusstseinsinhalte“ schon weiter, und was kann sie bewirken. Sie ist effektlos und kann unterbleiben: Des Autors buntes Scherbentütchen wandert auf den Müll.

Jedoch: Da ist noch mehr. Es gibt, scheint mir, so etwas wie kollektive „Bewusstseinsinhalte“, die keineswegs mit persönlicher Erinnerung gleichzusetzen sind, Inhalte demnach, die sich aus Wissen und Wissenschaft, aus Kenntnis und Erkenntnis zusammensetzen und die wir gemeinhin mit dem Schulausdruck Geschichte bezeichnen.

Ein kluger Mann hat einmal gesagt, Geschichten zu schreiben bedeutet, gleichzeitig auch Geschichte zu schreiben. Selbst wenn wir solche Behauptung bezweifeln, scheint sie mir dennoch des Nachdenkens wert, zumal wir schon erlebt haben, dass aus einfachen historischen Fakten bunte Legenden werden und dass - zumindest seit Homer und den Evangelisten des Neuen Testaments - abenteuerliche Geschichten die Möglichkeit in sich bergen, als durchaus ernst genommene Geschichte empfunden zu werden. Wie dem auch sei: sowohl die Historie als auch die Historien werden üblicherweise interpretiert. Ihre Darstellung und Deutung scheint abhängig vom Willen wie vom Erkenntnisstand ihrer Interpreten, sie sind bedingt durch soziale und nationale Standpunkte, durch kluge Bemühungen und bornierte Dummheit, durch Überheblichkeit und schmeichelnde Bescheidenheit, durch unzählige emotionale und rationale, individuelle und nicht zuletzt gesellschaftliche und wissenschaftliche Gegebenheiten.

An dieser Stelle würde auch in mir der Verdacht auftauchen, dass der Autor sich - katzbuckelnd nach allen Seiten - mithilfe eines Rückversicherungsvertrages diesseits und jenseits aller nur denkbaren Grenzen vor der Gefahr bewahren will, von irgendjemand oder auf irgendeine Weise missverstanden und falsch interpretiert zu werden. Kotau vorweg: Das kann nichts schaden.

Jedoch dem ist nicht so. Es ist viel einfacher: Der Autor hat keine Lust, historische Fakten über eine Stadt chronologisch aneinanderzureihen auf die Gefahr hin, dabei Wichtiges als unbedeutend und Unbedeutendes als erwähnenswert zu begreifen - er ist auch nur ein Mensch und ist kein Statistiker. Er zweifelt an seinen Fähigkeiten, und das - scheint mir - ist eine gute Eigenschaft. Er weiß nicht, was aus dem Wust historischer Daten mitteilenswert und was aus der Fülle der Geschichten erzählenswert ist. Er geht von der keineswegs von ihm erfundenen schon eingangs vorgetragenen Überlegung aus, dass alles relativ ist und er selbst nicht frei von Irrtümern. Wenn er sich also, lustlos, dennoch kurzen historischen Stichworten zuwendet, so ist das als ein - möglicherweise misslungener - Versuch zu betrachten, Geschichten zu erzählen und dabei einen durchaus eigenen Standort zu erreichen:

Als ich geboren wurde, war ich ein Pommer. Ich war das noch, ganz amtlich und administrativ, als ich, Oberschulchormitglied im Blauhemd, die erste demokratische Kreislehrerkonferenz in Ermangelung einer gültigen Nationalhymne durch das Absingen des etwas elegischen Pommernliedes einleiten durfte.

Ich war es noch bis zu jenem denkwürdigen Tag, an dem Anfang der fünfziger Jahre unseres so ereignisreichen Jahrhunderts eine Stadt, deren Existenz ich aufgrund ihrer bisherigen Bedeutungslosigkeit einfach nicht wahrgenommen hatte, zum Territorialzentrum avancierte. Von diesem Zeitpunkt administrativer Neugliederung an war ich kein Pommer mehr, und Wolgast, die jahrhundertealte zweite Hauptstadt des nun nicht mehr existierenden Pommernlandes, entpuppte sich als meine neue Kreisstadt. Von ihr soll nicht die Rede sein, wiewohl sie es inzwischen durchaus verdient hätte.

Berichtet werden soll vielmehr von der ersten, bisweilen mächtigeren, auf jeden Fall größeren pommerschen Metropole, mit der sich meine Kreisstadt in grauer Vorzeit den Regierungssitz, aber keineswegs das Geld teilte, mit der sie sich zerstritt oder vertrug, die sie bekämpfte und der sie aus der Patsche half - deren Ursprung wir nicht exakt bestimmen können. Was wissen wir?

Wir wissen, dass die Wenden neben der Ostseemetropole Julin, welche auch als das reiche Vineta in die Legende eingegangen ist, gemeinsam mit den Dänen die Wikingerfestung Jomsburg erbauten. Sie zu besiegen und einem erträumten großpolnischen Staatsgebilde einzuverleiben, zog von der Warthe her Herzog Mieszko I. heran, schlug am 22. September 967 die wikingisch-wendischen Pommern von und bei Julin und entdeckte auf seinem Weg gen Norden rund 60 Kilometer vor der Ostseeküste an der Oder eine wendische Burg mit ein paar Siedlungsbauten rundherum. Wir wissen nicht, ob diese pommersche Feste einen Namen hatte, wir wissen nicht einmal, wie die wendischen Pommern gesprochen haben. Nur dass diese von dem abziehenden Mieszko zu einer Art Grenzburg erklärte Niederlassung an der Oder die Vorläuferin jener Stadt war, um die es hier geht - das wissen wir. Und dass von nun an die widerspenstigen und aufsässigen Pommern dem Polenherzog Boleslaw untertan und tributpflichtig waren - das wissen wir auch. Wir wissen von der Stiftung des Erzbistums Gnesen, die von Boleslaw und dem deutschen König Otto III. in trauter Einmütigkeit im Jubiläumsjahr 1000 vollzogen wurde. Wir wissen, dass Otto von Bamberg von hier aus seine Missionstätigkeit in Richtung Pommern begann, wir wissen von den guten und den weniger guten Folgen der Christianisierung, von einwandernden und ins Land gerufenen Westfalen und Niedersachsen, Friesen und Schwaben, von zwölf Jahrzehnte lang währenden Kriegen und Raubzügen, Verwüstungen und Unterwerfungen; wir wissen von Landesteilungen, freiwilligen und unfreiwilligen, von Lehnseiden und Vertragsbrüchen, von Wankelmut und Eigensinn der Herrschenden, von wendischem, polnischem, schwedischem und preußischem „divide et impera“. Von all dem wissen wir, jedoch: Der Autor schreibt keine Stadtgeschichte. Historische Fakten und Vorgänge nach modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen aufzubereiten ist seine Absicht nicht und nicht sein Ziel. Dies zu unternehmen, sind andere berufen. Wer will, kann nachschlagen, alles ist aufgezeichnet in Polnisch und Lateinisch und Deutsch. Dem Autor geht es um anderes. Nur soviel sei noch gesagt: Als der polnische König Boleslaw Schiefmund auf einem der zahlreichen Befriedungsfeldzüge in das Land der Wenden im Jahre 1122 jene pommersche Festung erreichte, von der hier die Rede ist und die später Hansestadt und Regierungssitz wurde, fand er dort einen Herzog mit Namen Wartislaw vor, von dem wir annehmen müssen, dass er das Geschlecht der Greifenherzöge, wie sie nach ihrem Wappentier genannt wurden, begründete. Den Namen der Festung aber wissen wir nicht. In Boleslaw Schiefmunds Sprache hieß sie Szczecin.