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Gerhard Branstner

Der negative Erfolg

Fantastische Geschichten

 

ISBN (E-Book) 978-3-95655-735-4

Die Druckausgabe erschien erstmals 1985 im Mitteldeutschen Verlag Halle.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Erinnerungen einer sterbenden Frage

Meines Wissens hat es vor mir noch keine Frage unternommen, aus ihrem Leben zu berichten. Dabei gibt es gewiss eine Menge Fragen, die ein interessanteres oder dramatischeres Schicksal hinter sich haben als ich, denn ich bin bloß die Frage der Bescheidenheit. Und eigentlich sollte ich mich, um mir nicht selber ins Gesicht zu schlagen, bescheiden zurückhalten. Wenn ich trotzdem als erste die Feder in die Hand nehme, dann nur. um das Geheimnis meines Lebens nicht mit ins Grab zu nehmen. Das Geheimnis meines Lebens aber ist das Geheimnis meiner Geburt. Den nahen Tod vor Augen erinnere ich mich an die Umstände, unter denen ich ins Leben getreten bin, und diese Umstände sind der Erinnerung wert.

Es war in der Zeit, in der die Menschheit sich in zwei Teile aufspaltete und die Angehörigen des unteren Teils ihre Unzufriedenheit über das ihnen zugefallene Los äußerten. Der obere Teil erkannte in dieser Unzufriedenheit eine Gefahr und erfand als Gegenmittel die Bescheidenheit. Zahllose Theorien und Dogmen wurden erdacht, die Unzufriedenheit, das Trachten nach irdischem Wohl, das Sicheinmischen in öffentliche Angelegenheiten als den Ausgang aller Übel zu verdammen, hingegen das Sichbegnügen, die Bedürfnislosigkeit, die Demut, das Maulhalten, kurzum: die Bescheidenheit als die höchste Tugend zu preisen. Die unteren Klassen konnten mit dieser Auffassung von der Sache natürlich nicht einverstanden sein und stellten sie infrage. Die Frage der Bescheidenheit ist also ursprünglich im direkten Sinne des Wortes eine Klassenfrage. Und ich gestehe, dass ich mich besser befunden hätte und mich heute nicht mehr am Üben befände, wenn ich ausschließlich in diesem Sinne gestellt worden wäre. Doch leider unterfingen sich in der Folge auch die Angehörigen der unteren Klassen, sich gegenseitig zur Bescheidenheit anzuhalten, sodass es ihnen immer schwerer wurde zu erkennen, dass ihnen diese Tugend ursprünglich nur von ihren ärgsten Feinden zugemutet worden war. Es lässt sich denken, dass ich dadurch ziemlich verworren wurde, was meine Lösung erheblich erschwerte. Aber ich konnte mich nicht darüber freuen.

Die meisten Fragen freuen sich ja diebisch, wenn sie recht verworren sind, denn die verworrensten Fragen leben bekanntlich am längsten. Ich hingegen darf, ohne unbescheiden zu sein, von mir sagen, dass ich lieber mein Leben lang eine klare Frage gewesen wäre, auch wenn das mein Leben ungemein verkürzt hätte, denn klare Fragen werden schneller gelöst, die Lösung aber ist unser Tod. Doch zurück zu meiner Verworrenheit. Mit der war ich leider noch nicht am Ende, oder, anders gesagt, noch nicht auf dem Höhepunkt angelangt. Den Höhepunkt meiner Verworrenheit erreichte ich erst, als die unteren Klassen die Welt von unterst zuoberst kehrten und sich anschickten die Spaltung der Menschheit aufzuheben. Da sie damit auch den Ursprung meiner Existenz aufhohen, hätte man denken sollen, dass es mit mir Hals über Kopf aus und zu Ende gewesen wäre. Aber nichts dergleichen, im Gegenteil. Ich wurde geradezu neu belebt, und das auf die schrecklichste Art. Ich wurde aufgeworfen, hart in den Raum gestellt für hinfällig erklärt, als erledigt angesehen, um im nächsten Augenblick wieder auf- und in die Debatte geworfen zu werden, mit einem Wort: ich war in aller Munde, und wenn ich auch nicht gerade angebissen wurde, so wurde ich doch angeschnitten, aufgerissen, an den Haaren herbeigezogen und sogar überschlafen. Was letzteres betrifft, so habe ich da einen äußerst unangenehmen Fall in Erinnerung.

In einer Gewerkschaftsversammlung wurde der Betriebsleiter kritisiert, da er, so sagte man. die Initiative der Werktätigen missachtet habe. Nachdem ein Weilchen hin und her gerätselt worden war, worin die Ursache dieses kritikwürdigen Verhaltens zu suchen sei, rief endlich einer, das sei eine Frage der Bescheidenheit. Da der Betriebsleiter das jedoch nicht sogleich wahrhaben wollte, riet man ihm, mich mal zu überschlafen. Nun war der Mann aber wohlbeleibt, um nicht zu sagen, übermäßig dick, und er schwitzte unter den Armen.

Ich gestehe, auch wenn mich dies hart ankommt, denn es berührt den peinlichsten Punkt in meinem Leben, ich gestehe, dass ich in der Nacht, in der ich von dem Manne überschlafen wurde, ums Leben gern Selbstmord verübt hätte. Doch leider ist uns Fragen dieser letzte Ausweg verwehrt. Eine Frage endet allein durch ihre Lösung. Also war ich gezwungen, mich von dem Dicken beschlafen. Verzeihung, ich gerate noch jetzt ganz durcheinander, wenn ich nur an diese Nacht denke, wollte sagen, ich musste mich, ob ich wollte oder nicht, von dem schwitzenden Leiter überschlafen lassen, ohne auch nur den Trost zu haben, dass er wenigstens ein Stück mit mir vorangekommen wäre, denn als ich, noch völlig zerknautscht, am nächsten Tag wieder aufgeworfen wurde, zeigte mein Dicker noch immer keine Einsicht. Ich fürchtete schon, dass man ihm anraten würde, noch einmal mit mir zu Bett zu gehen, doch eben da verband man mich mit der Frage der kollektiven Leitung. Das war eine nette Abwechslung für mich, denn ich war lange nicht im Zusammenhang gestellt worden. Wer weiß, dass es unserer Natur entspricht, mit unseresgleichen verbunden zu werden, kann sich denken, dass wir nur auf derartige Gelegenheiten warten, um uns gegenseitig mitzuteilen, was wir seit der letzten Verbindung an Freud und Leid erfahren haben, wobei ich immer wieder feststellen muss. Dass es uns im Grunde genommen allen gleich ergeht. Auch die Frage der kollektiven Leitung machte da keine Ausnahme. Nachdem sie, wie sie mir klagte, lange Zeit unterdrückt oder sogar totgeschwiegen worden war, hatte man sie wieder aufgefrischt, erneut gestellt, hingeworfen, aufgetischt und. was man gewöhnlich nur mit Tieren macht, aufgezäumt, meistens allerdings verkehrt, nämlich von hinten. Das ist mir nebenbei auch einige Male widerfahren. Ein scheußliches Gefühl, kann ich nur sagen. Kurzum: Wir Fragen leiden. wie alle Geschöpfe des menschlichen Geistes, unter dessen Gebrechen, nicht zuletzt unter der Sprachverschandlung. Am schmerzlichsten aber leiden wir darunter, dass wir verkehrt gestellt werden, nicht sachlich. sondern als Gretchenfrage. Sozusagen als das Bein, über das einer stolpern soll. Dagegen ist das richtige Stellen einer Frage geradezu eine Kunst. Daher sollte uns mehr öffentliche Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Frage ist nun einmal das edelste Produkt des Menschengeistes, weil das produktivste. Ich sage das ohne alle Überhebung. Am Anfang stand nun einmal nicht das Wort und auch nicht die Tat. am Anfang stand die Frage. Doch jetzt wieder zu meinem Dicken.

Die Verbindung meiner Wenigkeit mit der Frage der kollektiven Leitung hatte den Mann endlich zur Einsicht gebracht, und man ließ mich fallen. Bevor ich wieder aufgegriffen wurde, machte ich mich schleunigst davon, um unversehens in eine philosophische Diskussion zu geraten. Das hatte mir noch gefehlt. Doch ich wurde angenehm enttäuscht. Ich war noch gar nicht richtig Thema, da stand einer auf und nannte die Frage der Bescheidenheit einen elenden Wechselbalg. Mich einen Wechselbalg! Das tat mir ungemein wohl, denn ich ahnte, dass es mir jetzt an den Kragen ging. Und ich hatte mich nicht geirrt. Eine Klasse, fuhr der Philosoph fort, die angetreten ist, eine Welt zu gewinnen, ist alles andere als bescheiden. Wie kann man da von den Angehörigen dieser Klasse Bescheidenheit fordern. Das ist geradezu schizophren und überdies unerfüllbar. Bescheidene Weltveränderer sind ein Unding. Wer sich bescheidet, will heißen: schön brav ist, der ist für die Welt verloren: der Weltmensch hingegen ist nicht brav zu kriegen. Womit die Frage der Bescheidenheit ein für alle Mal abgetan ist.

Mit diesen Worten hätte ich eigentlich meine Seele aushauchen müssen, denn der respektlose Bursche hatte mich gelöst. Aber leider nur er. alle übrigen hingegen plädierten jetzt nur noch eifriger für die Bescheidenheit und machten sie. wohl um den respektlosen Burschen einzuschüchtern, zu einer grundsätzlichen Frage, um diese, also mich, auf die nächste Sitzung zu verschieben.

Nun, da ich, im Grunde eigentlich gelöst, eine grundsätzliche Frage geworden bin — und ich werde den Verdacht nicht los, dass Fragen vorzüglich dann zu grundsätzlichen Fragen erhoben werden, wenn sie im Grunde gelöst sind, aber als ungelöste benötigt werden —. nun also, da ich auf meine alten Tage noch diese Ehrung erfahren habe, werde ich wohl noch ein Weilchen auf dieser Welt verbleiben müssen. Der respektlose Bursche aber hat mir Mut gemacht. Der Weltmensch ist unaufhaltsam. Und so sehe ich meinem sicheren Ende mit freudiger Erwartung entgegen, oder soll ich sagen: mit dialektischer Geduld?

Der negative Erfolg

Wir hatten uns Jahre nicht mehr gesehen. Weshalb auch? Ich hatte ihn nie richtig gemocht, und er hielt mich immer für einen, der was Besonderes sein wollte. War er inzwischen etwas Besonderes geworden und wollte es mir nun beweisen? Sein Anruf ließ das vermuten. Er tat ziemlich geheimnisvoll mit seiner Einladung. Es handele sich um Experimente, deren Ergebnisse mich als Schriftsteller gewiss interessieren würden. Mehr könne er am Telefon nicht sagen, da die Sache absolut vertraulich behandelt werden müsse. Aber wenn ich ihn in seinem Institut besuche, könne ich erstaunliche Dinge erfahren. Mir als altem Freund werde er alles offenbaren. Alte Freunde waren wir, wie gesagt, nie gewesen. Wir hatten an der Universität in einer Mannschaft Volleyball gespielt, wobei er mir mehr mit Neid als mit Freundschaft begegnet war, denn er gehörte nicht gerade zu den sportlichen Figuren. Und im Studium war er auch keine Glanznummer, was ich allerdings nur vom Hörensagen wusste, da er Biologie belegte, während ich Philosophie studierte. Nach dem Examen hatten wir uns, solange wir beide Assistenten an der Universität waren, noch hin und wieder getroffen und ein paar Worte miteinander gewechselt, aber dann war es auch damit zu Ende. Wie ich erfuhr, spezialisierte er sich auf Hormone und war an ein neu eingerichtetes Institut gegangen. Den Namen des Ortes, wo das Institut sein sollte, hatte ich bis dahin nie gehört.

Der Ort war ein Dorf. Von einem Institut weit und breit nichts zu sehen. Ich hatte der Einladung nicht sogleich folgen können, da ich einige Wochen im Ausland arbeitete. In ein paar Wochen kann doch ein Institut nicht vom Erdboden verschwinden. Oder hatte er mich verladen wollen?  Das war nicht seine Art. Ich trat in die Dorfkneipe, bestellte an der Theke ein Bier und fragte den Wirt.

„Ja, da gibts ein Institut“, sagte er, ohne zu überlegen, „draußen bei den Rotbuchen, etwa einen Kilometer von hier. Aber da geht keiner mehr hin.“

„Wer geht da nicht mehr hin?“

„Na, die Leute. Zwei, drei Monate lang kamen hier dauernd Leute an. die zum Institut wollten. Aber seit vierzehn Tagen kommt keiner mehr. Die letzten waren drei Professoren, die waren wohl eine Kommission. Sie haben vorher hier Mittag gegessen und sich in ihrem Professorenkauderwelsch unterhalten. Dann sind sie zum Institut gegangen. Nach gut einer Stunde kamen sie zurück. Wir dachten erst, sie wären sternhagel voll, weil sie so torkelten. Aber sie sprachen kein Wort, stiegen in ihren Wagen, den sie hier vor der Tür hatten stehen lassen, und fuhren wie vom Teufel gejagt davon. Danach ist keiner mehr gekommen.“

„Weiß man“, fragte ich, „woran sie im Institut arbeiten?“