Impressum

Gerhard Branstner

Zu Besuch auf der Erde

Unwahre Begebenheiten

 

ISBN (E-Book) 978-3-95655-733-0 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1961 im Mitteldeutschen Verlag Halle.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2016 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: verlag@edition-digital.de
Internet: http://www.edition-digital.de

 

tacitus und die venus

Im Norden der Suionen liegt ein anderes Meer, träge und fast ohne Bewegung. Die Annahme, es schließe den Erdkreis ringsum ab, findet ihre Bestätigung dadurch, dass der letzte Schein der bereits sinkenden Sonne stets so hell bis zu ihrem Wiederaufgang weiterleuchtet, dass er die Sterne überstrahlt. Außerdem ist, so glaubt man noch, das Klingen der aus dem Meere auftauchenden Sonne zu hören und sind Umrisse von Pferden und ein strahlenumkränztes Haupt zu sehen.

Hier ist - und das darf man glauben - das Ende der Welt.

Tacitus

 

Noch vor gar nicht allzu langen Jahren

war die Vorstellung von dieser Welt

sehr beschränkt.

 

Heut’ dagegen wird zum Mars gefahren,

und die Venus selbst ist

stark bedrängt.

 

Unter Vorbedingung dieses Dreistes —

um die Hoffnung ist’s nicht

schlecht bestellt,

 

dass als „wesentliche Form des Geistes“

uns die Heiterkeit bald

leichter fällt.

ein herr spricht vor

Aus dem Kinderzimmer dringt ein Höllenlärm. Meine Frau ist nicht in der Wohnung, und die Rangen haben sich in ihrem Zimmer verbarrikadiert, so dass ich nicht hinein kann, um sie zur Ordnung zu bringen. Dabei sitzt mir ein Herr gegenüber, der um alles in der Welt einen Mann namens Nepomuk kennenzulernen wünscht. Da er ihn nicht zu Hause angetroffen hatte, war er zu mir beschieden worden in der Hoffnung, von mir als Nepomuks Freund etwas Näheres zu erfahren.

Nun habe ich die Kleinen zu beruhigen und muss auch noch einen Herrn trösten, den ich noch nie gesehen habe.

„Mein lieber Herr Rebeil", so nämlich hat sich mein Besucher vorgestellt, „mein lieber Herr Rebeil", sage ich, noch halb abwesend, den Lärm der Kinder in den Ohren, „leider kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen. Aber bleiben Sie, es wird das beste sein. Immerhin besteht dann die geringe Hoffnung, dass Sie Nepomuk noch heute zu Gesicht bekommen, denn er schaut nicht selten und unverhofft einmal zu mir herein. Ich bin nämlich'', erkläre ich Herrn Rebeil weiter, „in gewisser Weise der Sekretär meines Freundes, der ja, wie Sie vielleicht wissen, neben der Schriftstellerei noch seine Praxis als Arzt aufrechterhält und aus diesem Grunde die Hilfe einer schreibkundigen Hand gut gebrauchen kann."

„Das", nimmt Rebeil das Wort, „ist mir neu", und schlägt ein Bein über das andere.

„Dann wissen Sie auch nicht, was Nepomuk dazu geführt hat, sich in der Hauptsache der Schriftstellerei zuzuwenden?"

„Das ist eine der Fragen, die ich ihm vorlegen wollte", gesteht mein Besucher und spannt die verschränkten Hände über das Knie.

Ich bin mit mir noch nicht im Reinen, ob ich meinem Besucher eine Antwort gebe, denn sie wird ihn nur auf neue Fragen lenken, und im Kinderzimmer ebbt der Lärm noch immer nicht ab. Schließlich habe ich mich entschieden, da mein Besucher seine Hände nun einmal verschränkt hat.

„Es ist mir ein leichtes, Ihnen eine Antwort zu geben, hat sich doch Nepomuk erklärtermaßen für diesen Beruf entschieden. Es grenzt geradezu ans Anstößige, mit welchem Mangel an Mystik mein Freund die Aufgabe des Schriftstellers sieht. In seiner Praxis hatte er immer wieder feststellen müssen, dass die Schäden des menschlichen Verstandes weiter verbreitet und tiefgreifender sind als die, derenthalben die Patienten zu ihm kamen, ja, dass viele der vorgewiesenen Krankheiten oft nur die Folge eines Gebrechens des menschlichen Verstandes sind und es ein verhängnisvoller Irrtum ist, diese Gebrechen nicht als Krankheitserscheinung zu werten und der gebührenden Behandlung zu entziehen, nur weil sie politischer Natur sind. Für Nepomuk", schließe ich meine Erklärung, „unterscheidet sich die Kunst des Dichters von der des Arztes nur dadurch, dass sie mehr Menschen zu heilen berufen ist als diese."

„Ich hätte nicht gedacht, dass Ihr Freund von derartig ernsten Erwägungen ausgegangen ist. Seine Schreibweise ist doch von einer oft skurrilen Heiterkeit getragen."

„Weil es gerade die Heiterkeit ist, an der unser Geist den größten Schaden genommen hat. Und da Nepomuk der entschiedenen Meinung ist, dass ohne Heiterkeit bestimmte Tiefen des Lebens nicht erfasst werden können, scheut er sich geradezu, eine Wahrheit auszusprechen, ehe sie noch zur Heiterkeit gereift ist."

„Wenn aber der Ernst als Heiterkeit erscheint, wird er da nicht leicht übersehen, da das Urteil des Lesers doch zunächst von der Erscheinung bestimmt ist?"

„Die schwere Kost ist nicht die bekömmlichste. Ernst, in Form der Heiterkeit gereicht, ist die Diät, die der menschliche Verstand am dringendsten benötigt. Davon muss sich der Dichter bestimmen lassen, gleichgültig gegenüber denen, die die Heiterkeit nicht ernst nehmen. Und", füge ich hinzu, „da Nepomuk die Heiterkeit durchschaubar macht, ist der Ernst auf die Dauer nicht zu übersehen."

„Wenn Sie, wie Sie vorhin bemerkten", lenkte mein Besucher das Gespräch aufs Gegenständliche, „in gewisser Weise der Sekretär Nepomuks sind, verfügen Sie vielleicht über ein oder das andere Manuskript, das ich gedruckt nicht so bald zu Gesicht bekäme."

„Ich besitze in der Tat, mein Herr", erwidere ich nicht ohne Vergnügen, „einiges von der Hand meines Freundes, was ich Ihnen gern vorlegen will."

„Sie würden mich noch mehr verbinden, wenn Sie mir zuvor verraten könnten ..."

„Dass Nepomuk eine spitze Nase hat", unterbreche ich, den Wunsch meines Besuchers nach einer näheren Beschreibung Nepomuks erratend.

„Aber ich bitte Sie ..."

„Die einen kleinen runden Kopf ziert", fahre ich ungerührt fort.

„Bitte, nicht doch ..."

„Der auf einem überraschend korpulenten und etwas zu kurzen Körper sitzt", vollende ich meine Beschreibung. Mein Besucher springt auf. „Mein Herr, Sie scherzen", ruft er aus und fällt in den Sessel zurück, denn sein linkes Bein war ihm eingeschlafen. „Nepomuk ist einer von denen", kann ich mich nicht enthalten, die Medizin bis zum letzten Tropfen zu verabreichen, „durch die man auf den Gedanken gekommen ist, dass die Marsmenschen anders aussehen müssten als wir."

„Aber so sieht doch kein Dichter aus."

„Weshalb nicht? Nepomuk dichtet doch nicht mit der Nase."

„Aber mit dem Kopf.'"

„Als gebildeter Mensch sollten Sie wissen,, dass die stereometrische Form des Kopfes, sich im Rahmen gewöhnlicher Maße haltend, auf dessen Funktion keinerlei Einfluss hat."

„Das beruhigt mich.'

„Dann kann ich Ihnen ja etwas von Nepomuks Arbeiten vorlegen."

kumpelfings im weltenraum

(MIT ANMERKUNGEN FÜR DAS INTERESSIERTE PUBLIKUM)

Familie Kumpelfing überprüfte zum letzten Male die Vollständigkeit ihrer Ausrüstung. „Fritzchen", knarrte Vater Kumpelfing, „hast du das Wetter, und du, Karlchen, hast du das Schwerefeld?" — „Ja, ja, ja", murrten die beiden, Karl, der Zwölfjährige, und Fritz, der Jüngere. „Na, na, ihr Burschen, es wäre nicht das erste Mal, dass ihr was vergesst", rechtfertigte sich Kumpelfing. Schließlich wandte er sich an Heinzelmann — so nannte Familie Kunpelfing ihren Jüngsten: „Und du, kleiner Hosenmatz, hast du die Bodenfarbe mit?"— „Ja, lieber Papa, schön grün."

 

Anmerkung für das interessierte Publikum

Die Bodenfarbe ist, wie wir später sehen werden, nicht das wichtigste Requisit für eine Wochenendpartie ins Weltall. Ohne sie geht es sich auf dem Schwerefeld lediglich etwas unangenehm, da dieser, an sich farblos ist. Deshalb konnte man die Sorge darum auch dem Jüngsten überlassen, Gewöhnlich nimmt man grün.

 

„Ja, lieber Papa", sagte also der kleine Heinzelmann. Aber Vater Kumpelfing hatte schon die Überprüfung fortgesetzt. Elli, die einzige Tochter und das älteste Kind überhaupt, hatte für die Gesellschaftsspiele und Hänschen, ihr Verlobter, für die Getränke zu sorgen. Mutter Kumpelfing war natürlich für das leibliche Wohl zuständig. Und Vater Kumpelfing schließlich, ja Kumpelfing selber hatte das Raumfahrzeug in persönliche Verantwortung genommen, den Flaschenkürbis, wie dieses interstellare Fortbewegungsmittel seiner volkstümlichen Form halber genannt wurde. Kumpelfings waren somit zu siebent, und in dieser Besetzung flogen sie fast jedes Wochenende in irgendeinen stillen Winkel des Sonnensystems, um die liebe Nachbarschaft mal aus Augen und Ohren zu haben. So auch heute. Familie Kumpelfing stieg in den Flaschenkürbis, Papa Kumpelfing stellte, nachdem die Tür geschlossen war, den automatischen Innendruckregler und den Paralysator ein, durch den die Massenanziehung aufgehoben wurde. Der Horizontalpropeller hob sie jetzt rasch und ohne Mühe auf die erforderliche Höhe, wo Vater Kumpelfing die Paralysierung unvermittelt wieder ausschaltete, so dass das Raumschiff zurück zur Erde fiel. Grienend blickte er dabei zu Mutter Kumpelfing, die es immer mit der Angst zu tun bekam, wenn er den Flaschenkürbis so weit zurückfallen ließ. Doch er wusste, was er tat. Stolzen Wagemut im Auge, wartete er bis zum letzten Augenblick (Mutter Kumpelfing kreischte schon geraume Zeit) — da endlich zog er den Hebel des Reflektors herab, der die Massenanziehung in ihr Gegenteil verwandelte, und wie von der Sehne geschossen, schnellte das Raumfahrzeug nach oben. Die Erde rutschte nach unten fort, als wenn sie auf den Grund des unendlichen Weltraums fallen wollte. Kumpelfing hatte bereits die Triebwerke eingeschaltet, denn die Reflexionswirkung ließ schnell nach. „Verflucht", schimpfte er plötzlich, „was soll denn das schon wieder!" Genau vor ihnen, wenn auch noch einige tausend Kilometer entfernt, lag ein Hindernis auf ihrem Weg, das sie vorige Woche noch nicht gesehen hatten.

 

Anmerkung

Die klare Luft, die außerhalb der Erdatmosphäre herrscht, verleiht dem Auge einen viel größeren Aktionsradius.

 

„Was soll denn das schon wieder werden?", brummte Kumpelfing nochmals. „Da wollen sie wohl wieder so eine Industriestadt in die Gegend setzen. Bald wird es im ganzen Sonnensystem kein ruhiges Plätzchen mehr geben."

 

Anmerkung

Das Publikum wird meinen, dass Vater Kumpelfing unbesorgt sein kann, denn da es im Weltraum keine Luft gibt, kann es auch keinen Lärm geben. Aber für so ungebildet darf man Kumpelfing nun auch wieder nicht halten. Natürlich weiß er, dass die Gesetze der klassischen Akustik im Weltall ohne Bedingung sind. Was Kumpelfing meint, ist, dass solche großen Industriestädte mit ihren gewaltigen Energieumsetzungen Störungen im Empfang des Rundfunks und anderer Sendungen bewirken, auch wenn man nicht in den Bereich ihrer Atmosphäre kommt. Diese Störungen sind bedingt durch eine Form der Materie, die zur Zeit des Herrn Kumpelfing endlich erkannt und mit dem Nomen „subtile Materie“ belegt wuorde. Vor allem seitdem das Hundepolo im Fernsehen übertragen wurde, war Kumpelfing die subtile Materie ein Ärgernis.

 

Anmerkung zur Anmerkung

Das Hundepolo ist ein Spiel, bei dem zwei Mannschaften nach komplizierten Regeln einen riesigen Ball mit den Schnauzen ihrer Raumfahrzeuge durchs Weltall stoßen. Hundepolo wurde dieser Wettkampf deshalb geheißen, weil er an das Spiel erinnert, das Hunde mit einem Kinderluftballon treiben, wenn sie, nach ihm schnappend, ihn dabei mit ihren Schnauzen von sich stoßen.

 

„Aber Papachen", sagte Elfi leise tadelnd, „du übertreibst. Wir müssen ja nicht immer in dieselbe Gegend fahren. Es gibt noch so viele nette Stellen im Sonnensystem, die noch keines Menschen Fuß betreten hat; und außerdem soll das keine Industriestadt werden, sondern das Vergnügungszentrum für die romanischen Sprachen. So kam es vorige Woche über den Ätherfunk."

 

Anmerkung

Zwar lebten die Kumpelfings schon in einer Periode der menschlichen Entwicklung, da von der Zersplitterung der Menschheit in verschiedene Nationen kaum noch eine Vorstellung übriggeblieben war. Dagegen wirkte die ehemalige Vielfalt der Sprachen noch nach, so dass man beispielsweise die Einteilung der Menschen noch noch ihren früheren Sprachstämmen vornahm, obwohl die einheitliche Weltsprache längst die einzige lebende Sprache war. Der Name dieser Weltdprache kann leider nicht genannt werden. Da sie die einzige Sprache ist, heißt sie einfach Sprache; sie hat also den Namen ihrer Gattung.

 

Kumpelfing ließ sich jedoch nicht beruhigen. Im Gegenteil, die Tatsache, dass er sich eigentlich ohne Grund aufgeregt hatte, brachte ihn vollends auf. „Muss denn jeder Verein seine Vergnügungsecke haben? Ich möchte bloß wissen, was die da oben sich manchmal denken.''

 

Anmerkung

Die da oben, um es mit den uns geläufigen Begriffen zu erklären, sind das zentrale Verwaltungsorgan oder eine seiner Unterabteilungen. Wenn es zur Zeit Herrn Kumpelfings auch keinen Staat in der heutigen Form mehr gibt, so sind doch eine ganze Reihe zentraler Stellen notwendig, die für das reibungslose Zusammenspiel der vielfältigen ökonomischen und kulturellen Erfordernisse zu sorgen haben.

 

„Nun hör aber auf", mischte sich jetzt Muttchen Kumpelfing ein. „Wenn du nie deine Meinung sagst, kann sie auch nicht berücksichtigt werden." — „Meine Meinung, meine Meinung", balverte Kumpelfing, „wozu haben wir denn die da oben? Doch nicht, damit wir ihnen die Arbeit machen!"