Impressum

Siegfried Maaß

Das Versteck im Wald

 

ISBN 978-3-95655-624-1 (E-Book)

 

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 2007 im Dorise-Verlag, Burg.

 

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Für Karin

Ein altes Foto

„So habe ich damals ausgesehen!“, sagte der alte Mann in seinem Schaukelstuhl, der niemals stillzustehen schien. „Sieh es dir genau an! Erkennst du irgendeine Ähnlichkeit?“ Sein leicht gekrümmter Finger wies auf das Foto, das er dem Jungen vorsichtig auf den Schoß gelegt hatte. Als sei es eine wichtige Urkunde.

„Dieser hier? Der mit den wuseligen Haaren?“ Der Junge lachte. Seine Hände wirkten wie eine altersschwache Mechanik, die nur mit Verzögerung in Gang kommt. Schließlich griffen sie jedoch zaghaft nach dem Foto. „So würde mich meine Mutter niemals rumlaufen lassen. Du weißt doch, sie hat Augen wie ein Luchs und ich soll immer ordentlich aussehen und einen Kamm bei mir haben.“

„Ach was! Sieh doch genau hin! Denk dir die hier weg!“ Der Mann tippte an seine schirmlose Mütze, die der Junge für sich „Tellermütze“ nannte. Das war eine Abwandlung von „Tellermine“, wie sein Vater diese merkwürdige Kopfbedeckung bezeichnete. Vertraut legte der Alte danach seinen Arm auf die Schulter des Jungen, der neben ihm auf einem Hocker saß. Als der Mann jedoch zu lange auf eine Antwort warten musste, nahm er ungeduldig das Foto wieder an sich und meinte: „Das sieht doch jeder! Wieso du nicht? Erkennst du dich denn nicht selbst, wenn du auf den Wuselkopf blickst? Wie dein eigenes Spiegelbild!“

Der Junge reckte sich, um nochmals die Fotografie zu betrachten. Sie war alt und vergilbt und die Zähne des Bildrandes waren längst nicht mehr vollzählig erhalten. Offensichtlich hatte der Mann die Aufnahme nicht geschont und oft herumgezeigt. Ihr dauerhafter Aufbewahrungsort schien jedoch die kleine Brieftasche zu sein, die jetzt auf dem Tisch auf der anderen Seite des Schaukelstuhls lag. Der Junge hatte sie auf Wunsch seines Großvaters zuvor einer Kommode entnommen, die zwischen den beiden Fenstern stand und deren Fächer stets verschlossen waren. Zum ersten Mal hatte er auf diese Weise in eines davon hineinsehen dürfen, ohne allerdings genügend Zeit zu haben, um seine Neugier befriedigen zu können. Je geheimnisvoller der Großvater seine Fächer und ihren Inhalt hütete, desto reizvoller erschienen sie dem Jungen. Irgendetwas ganz Besonderes hat er darin verborgen, hatte er gedacht, und zu gern wäre er diesem Geheimnis auf die Spur gekommen.

Bereits als kleinem Jungen, der noch auf wackligen Beinen umher tapste, hatten ihn die wie Gold glänzenden Metallschlösser mit ihren kunstvoll geschmiedeten Griffen verlockt, die Fächer zu öffnen. Doch stets umsonst. Bis zu diesem Tag. Dieses Mal durfte er nun eines davon herausziehen, hatte es jedoch sofort wieder schließen und das kleine Bund mit Schlüsseln in die faltige Hand seines Großvaters zurücklegen müssen. Wie eine Kralle hatten sich die langgliedrigen Finger eilig darum geschlossen. Stellte vielleicht die kleine Brieftasche diesen geheimnisvollen Inhalt der Kommode dar? Der Junge wollte es nicht glauben, denn seine Enttäuschung wäre dann größer als das „Geheimnis“ selbst. Die Brieftasche schien so alt wie das Foto. Ihr brüchiges Leder hinterließ dunkle Brösel auf dem Tisch, wo der Mann sie abgelegt hatte. Dafür musste er zuvor das Glas sowie die Mineralwasserflasche zur Seite rücken. Auch alles andere, das er den Tag über benötigte, befand sich dort in Reichweite. Dazu gehörten die altertümliche und dick umrandete Lesebrille sowie außer der Tageszeitung auch das unvermeidliche Buch.

Auch jetzt lag die Zeitung griffbereit auf dem Tisch. Aber merkwürdigerweise nicht sorgfältig gefaltet wie sonst, sondern aufgeschlagen. Als habe der Großvater sein Zeitungsstudium nur vorübergehend unterbrochen.

Noch nie war der Junge einem anderen Menschen begegnet, der so viel las. Jede Woche ging seine Mutter in die städtische Bibliothek, um für ihren Vater „Lesestoff“ zu holen. Sie wusste am besten, womit sie den alten Mann zufriedenstellen konnte. Spannend und abenteuerlich musste es in den Romanen zugehen, die er mochte. Außerdem gefielen ihm Bücher über den letzten großen Krieg und die Mutter des Jungen kam jedes Mal mit einem großen Bücherstapel zurück. Danach verbrachte der Großvater dann immer einige Stunden, bevor er sich entschließen konnte, welches Buch er zuerst lesen wollte.

Dem Jungen kam es dann manchmal vor, als würde der Großvater am liebsten in mehreren Büchern zugleich schmökern.

Er, der Enkel, würde bestimmt keine solche Leseratte werden, das wusste der Junge schon jetzt. Er brauchte den Wald, frische Luft und wirkliche Abenteuer. Nicht solche, die sich nur auf Buchseiten abspielten. Und für Geschichten aus dem Krieg konnte er sich ebenso wenig begeistern. Der lag so lange zurück, dass er für ihn keine Bedeutung mehr hatte.

Jetzt freute sich der Junge darauf, den wöchentlichen Pflichtbesuch bei dem Großvater bald beenden zu können. Bestimmt wartete sein Freund Heiner bereits auf ihn. Heute wollten sie unbedingt mit letzten Handgriffen ihr Baumhaus zu Ende bringen und es danach mit einer Colaparty einweihen. Das gehörte sich einfach so.

Cola und schönen krümeligen Keks, den er zu Hause nicht essen durfte. Die zwei Flaschen mit dem kaffeebraunen Getränk standen schon im Flur neben der Haustür bereit.

Auf seinem Hocker fühlte sich der Junge längst nicht mehr wohl; ihm schien es, als ob er auf einem Nagelkissen sitzen würde. Außerdem musste er mit der Cola verschwunden sein, bevor seine Mutter nach Hause kam. Entdeckte sie die beiden Flaschen, würde sie die sogleich gegen Apfelsaft austauschen. Am Abend würde dann die übliche „Strafpredigt“ folgen mit dem ebenso üblichen Hinweis auf die Schädlichkeit „dieses scheußlichen braunen Zeugs“. Der Junge hörte bereits, wie die Mutter dieses Wort aussprach — als stellte es selbst bereits eine Gefährdung seiner Gesundheit dar.

„Meine Haare sind aber nicht so dunkel“, meinte er nun in der Hoffnung, weiteren Fragen des alten Mannes entgehen zu können. Obwohl er genau wusste, dass es im Zimmer des Großvaters keinen Spiegel gab, blickte er sich suchend danach um. Es reizte ihn plötzlich, sich selbst mit dem Jungen auf dem alten Foto zu vergleichen. Bestand tatsächlich eine Ähnlichkeit? Um dies aber feststellen zu können, hätte er in das kleine Bad nebenan gehen müssen. Dort prangte wie ein altertümliches Bild ein großer Spiegel in einem breiten Rahmen aus südamerikanischem Holz. Der Großvater hatte ihn irgendwann aus einem fernen Land mitgebracht. Ebenso wie die Kommode und ihre Fächer hütete er auch diesen schweren Rahmen, der für ihn eine unersetzbare Erinnerung darstellte, wie er oft betont hatte. Während des Umzugs des Großvaters von der unteren in die obere Etage hatte der Möbelträger den Spiegel beschädigt, sodass dieser erneuert werden musste. Doch zum Glück überstand der wertvolle Rahmen den Zusammenstoß mit dem Treppengeländer unbeschadet. Die Familie wagte sich damals gar nicht vorzustellen, was hätte geschehen können, wäre der Rahmen statt des Spiegels zerbrochen! Wie hätte sie dann den alten Mann beruhigen sollen?

„Aber genau so wuselig!“, behauptete sein Großvater jetzt. „Wenn du zu meiner Zeit jung gewesen wärst ...“ Der Mann lachte und winkte schwach ab. „Dann hättest auch du nicht immer ordentlich gekämmt und so frisch gewaschen ausgesehen, ich meine, mit deinem feinen ...“ Er tippte auf das T-Shirt des Jungen. An die neumodischen Bezeichnungen, wie er sie nannte, hatte er sich nicht gewöhnen wollen. Für ihn waren diese hautengen Dinger der jungen Leute Unterhemden oder im besten Fall Pullis. Dann soll er mich nachher mal sehen, dachte der Junge und hielt das aufkeimende Lachen zurück. Große Augen würde er machen, wenn er mich auf unserem Baumhaus beobachten könnte! Und dann in meinem Räuberzivil! Auch ein T-Shirt, aber ausgeblichen und zerfranst und alte Jeans dazu. Die habe ich aus Mutters Altkleidersack wieder herausgezogen. Zum Glück hat sie es nicht gemerkt. Jedenfalls würde Opa mich kaum wiedererkennen! Räuberzivil! Diesen Ausdruck hatte er sich von seinem Freund Heiner angenommen, weil er ihm gut gefiel. Beide zusammen stellten sie tatsächlich ein Räuberpaar dar.

Für einen Augenblick senkte der Junge seinen Blick, als betrachtete er seine Schuhe. Räuber? Waren Heiner und er nicht eher auf der Flucht vor ihren ewigen Verfolgern? Eigentlich spielen wir nur die Räuber und tun, als ob wir frei und stark seien, dachte er. Aber dann sah er wieder auf und vertrieb diesen Gedanken. Auf keinen Fall sollte der Großvater bemerken, dass er nachdenklich geworden war. Bei ihm konnte man nie sicher sein, dass er einem nicht ins Herz sah und plötzlich unangenehme Fragen stellte. Die konnte er ganz geduldig so oft wiederholen, bis man schließlich preisgab, was man lieber für sich behalten hätte. So sagte es auch seine Mutter. Trotzdem verbrachte sie jeden Tag wenigstens eine Stunde bei dem Großvater und unterhielt sich mit ihm. Da konnte der Enkel jetzt nicht einfach sagen, dass ihn dieses alte und vergilbte Foto nicht interessieren würde. Es war ein Stück Familiengeschichte und die wurde bei ihnen in Ehren gehalten.

Vielleicht freute sich sein Großvater sogar, wenn er ihm von dem Baumhaus erzählte? Dass sie lange nach dem günstigsten Platz dafür gesucht hatten und er sich mit Heiner darüber fast zerstritten hätte? Weil er selbst sich für einen Baum mit weit herabhängenden Zweigen entschieden hatte, die ihnen guten Schutz boten. Heiner jedoch einen auswählte, dessen Äste erst in einigen Metern Höhe ansetzten. Sie waren nur zu erreichen, wenn einer von ihnen eine Räuberleiter bildete und der andere sich auf diese Weise hinaufhangelte. Danach musste er schließlich den Zurückgebliebenen an den Armen heraufziehen.

Das aber erschien ihm viel zu umständlich. Erst nachdem sie sich darauf geeinigt hatten, später eine Strickleiter anzubringen, vergaßen sie, dass sie einem Streit sehr nahe gewesen waren. Die Leiter musste so angebracht werden, dass sie jederzeit von unten auf- oder zusammengezurrt werden konnte. Das hatte ihnen schließlich die meiste Mühe bereitet. Gestern endlich waren sie damit fertig geworden.

Heiners Idee war es auch gewesen, eine Erdhöhle zu graben, die sie mit dichten Tannenzweigen abdeckten und in der sie sich verstecken konnten, wenn Gefahr bestehen sollte. Außerdem konnten sie darin das Werkzeug sowie ihre Klamotten aufbewahren. Die guten, solange sie an ihrem Baumhaus arbeiteten, und die alten, wenn sie sich danach wieder umgezogen hatten. Doch damit würde nun endlich Schluss sein. Bis auf wenige Handgriffe war das Baumhaus fertig und sie konnten ihre Sachen dort oben aufbewahren. Bei diesem Gedanken holte der Junge tief Luft und wäre am liebsten gleich aufgesprungen.

„Du hast Hummeln im Hintern“, stellte sein Großvater fest. „Irgendwas treibt dich ... Glaubst du, ich merke es nicht?“

Der Mann hielt plötzlich seinen Schaukelstuhl an, stellte sich mühsam auf die Füße und schlurfte langsam, als zählte er seine Schritte, zu einem der beiden Fenster. Unsanft riss er die Gardine zur Seite, stemmte dann seine Handflächen auf den Fenstersims und blickte über die ausgedehnte Wiese vor den Fenstern hinüber zum Wald. Dieser hatte seine äußersten Wachposten bis an den Rand der Wiese vorgeschoben, von wo sie als Windflüchter die übrigen Bäume vor den Unbilden des Wetters zu warnen schienen. Eine lange Reihe stacheliger Ginsterbüsche trennte Wiese und Wald voneinander und im Spätherbst prangten dort die leuchtenden Früchte des Sanddorns. Der Junge kannte diese Aussicht in allen Erscheinungen der verschiedenen Jahreszeiten. Oft genug war er in die Dachkammer hinauf gestiegen, um den Kopf aus der schmalen Luke zu stecken und seine Blicke über Wald und Wiese schweifen zu lassen.

Er wusste, dass auch der Großvater keinen Tag vergehen ließ, ohne vom Fenster aus den Anblick von Wiese und Wald auf sich wirken zu lassen sowie sich am Wegessaum aus Ginster und Sanddorn zu erfreuen. Oder zu anderer Jahreszeit die weite, fast unberührte Schneefläche anzusehen. Lediglich die Spuren der Rehe zeichneten dann Muster ins glitzernde Weiß, nachdem die Tiere auf Futtersuche bis nahe an die Häuser herangekommen waren. Auch die Abdrücke derber Jungenstiefel zeigten dann den Weg seines Enkels in den Wald an.

Dem Jungen schien es, als würde der Großvater jedes Mal etwas Neues entdecken. Oder sich auch an etwas erinnern, das sich irgendwann dort unten ereignet hatte. Vielleicht dachte der Großvater an die Jahre, in denen er selbst noch ein Junge war? Es war auch schon vorgekommen, dass er ihn, den Enkel, oder seine Tochter aufgefordert hatte, den Schaukelstuhl ans Fenster zu rücken. Darüber hatte er dann sogar das Buch vergessen, das unbeachtet auf seinen Knien lag. Auf diese Weise hatte er dort manches Mal einige Stunden fast regungslos zugebracht.

Der Junge sah jetzt auf den Rücken des Großvaters. Kantig stießen dessen Schultern unter dem Gewirk seines Pullovers hervor, der eines seiner Lieblingsstücke war. Obwohl er längst wusste, dass der alte Mann nicht viel größer war als er selbst, staunte der Junge jetzt erneut über dessen kleinen Wuchs.

„Vater schrumpft immer mehr“, meinte seine Mutter einmal. „Eines Morgens finden wir ihn gar nicht mehr in seinem Bett!“

Wie immer bei diesem Gedanken war der Junge auch jetzt wieder froh, noch weiter zu wachsen. Darauf achtete er und stellte sich in bestimmten Zeitabständen an den Türpfosten in seinem Zimmer. Ganz unauffällig hatte er dort mit dünnen Bleistiftstrichen seine jeweilige Größe angezeichnet.

Er glaubte fest daran, bald alle in der Familie übertreffen zu können, den Großvater sowieso, aber auch seinen Vater, der um gut zwei Köpfe größer war als dieser alte Mann dort am Fenster. Oder war der Größenunterschied zwischen ihnen beiden nur so deutlich geworden, weil der alte Mann tatsächlich schrumpfte?

„Ich weiß, was du dort draußen treibst“, hörte er seinen Großvater mit belegter Stimme sagen. „Ich weiß es, ohne es gesehen zu haben.“ Eine seiner Hände kroch an der Fensterscheibe empor und verharrte dort, als bezeichnete sie einen bestimmten Punkt. Oder als wollte sie durch die Scheibe dringen und hinausweisen. „Du und dein Freund ... Ihr tobt dort umher ... Im Wald fühlt ihr euch frei ... Unbeobachtet ... Versteckt ihr euch dort? Ach was, ist ja alles nur Spiel! Vielleicht habt ihr euch sogar ein Baumhaus gebaut ...“ Er wandte sich um und blickte den Jungen lachend an. Seine Hand hinterließ an der Scheibe eine Spur wie die einer Schnecke. „Ist es so? Hab’ ich recht? Ein Baumhaus! Etwas Besseres könnte euch doch gar nicht einfallen!“

„Wie kommst du auf diese Idee, Opa?“ Der Junge wusste in seiner Verwunderung nichts anderes zu antworten. Schon manches Mal war es ihm vorgekommen, als verfüge sein Großvater über geheime Kräfte oder einen besonderen Sinn, die es ihm möglich machten, Gedanken lesen zu können. Oder wie jetzt von Dingen zu sprechen, von denen er gar nichts wissen konnte. Wie war das möglich?

„Ich bin alt, bin der alte Tobias, aber ich habe nicht vergessen, was mich als Junge so umtrieb ... Nur war damals eine schlimme Zeit ... Mein Gott, ich in deinem Alter ...“ Er klatschte die flache Hand auf seinen Schenkel, als wüsste er nicht, wohin mit seiner Kraft. „Da bin ich ebenfalls oft im Wald gewesen. Bloß ging es da um Leben oder Tod. Das war kein Spiel. Ach was!“

Um Leben oder Tod, wiederholte der Junge in Gedanken. Übertreibt er damit nicht?, fragte er sich. Ich bin auch nicht allein nur zum Spielen da draußen, dachte der Junge, und es ist auch nicht alles nur reines Abenteuer. Aber das kann selbst Opa nicht wissen. Von Mike hat er keine Ahnung. Den kennt er nicht.

Er könnte ihm jetzt erzählen, weshalb er und sein Freund Heiner sich vor Mike und der Gang schützen mussten. Weil sie beide sich in die Hand versprochen hatten, sich nicht mehr von der Gang ausnutzen zu lassen. Wie die meisten anderen in der Klasse. Seit ihrem Versprechen bauten sie ihre geöffneten Federtaschen wie Barrieren vor sich auf, sodass Mike und die aus seiner Gang keinen Blick mehr in ihre Hefte werfen konnten, um bei Klassenarbeiten abzuschreiben. Auch lehnten sie beide es ab, morgens vor dem Unterricht Mike und der Gang die Hausaufgaben in die Hefte zu diktieren. Ausgerechnet sie beide hatten es gewagt. Das hatte bei allen aus der Gang Eintragungen und schlechte Noten gebracht und Vorladungen für die Eltern. Seitdem waren sie der Rache der Gang ausgeliefert. Keine Pause verstrich, ohne dass Mike und die anderen sie rempelten, ihnen Beine stellten oder auch andere auf sie hetzten. Auch wenn sie im Ort irgendwo aufeinandertrafen, schlug oder trat die Gang sofort zu. Dann standen Heiner und er allein fünf oder sechs von ihnen gegenüber. Oft genug musste ihm dann eine Ausrede einfallen, wenn seine Mutter wissen wollte, weshalb er blaue Flecke oder blutige Wunden hatte. Oder warum seine Hose zerrissen war. Ob er sich vielleicht immerzu prügeln würde, fragte sie. Doch bisher hatte er die Mutter jedes Mal geschickt mit einer Ausrede beruhigen können. Ähnlich verhielt es sich auch bei Heiner.

Ihrem Versprechen waren beide trotzdem treu geblieben. Um aber wenigstens außerhalb der Schule vor ihren Peinigern sicher zu sein, hatten sie das Baumhaus gebaut.

Auf diese Weise konnten sie zugleich ihre unbändige Lust auf Abenteuer und Freiheit auskosten. Zum Glück hatten Mike und die Gang das Baumhaus nicht entdeckt. Sie kannten sich im Wald nicht so gut aus und trieben sich umso mehr in der Stadt umher. Deswegen hatten sich Heiner und er auch auf diesen Platz geeinigt. Tatsächlich waren sie Mike oder Leuten seiner Gang dort nie begegnet, solange sie auf dem Baum an ihrem „Haus“ bauten. Der Junge blickte den alten Mann vor dem Fenster an, als sähe er ihn heute zum ersten Mal. Wie ein lebensgroßer Scherenschnitt hob er sich vor dem hellen Hintergrund ab. Der Kopf mit der unvermeidlichen „Tellermütze“ erschien dem Jungen wie ein Ballon und war das Auffälligste an der ganzen Gestalt. Der Junge wusste, dass diesen Kopf schon lange kein wuseliges Haar mehr zierte, der stattdessen so glatt und glänzend wie eine Billardkugel war. Die kannte er, weil er oft mit seinem Vater zu einem dieser Turniere gegangen war, die in ihrer Stadt regelmäßig stattfanden. Doch nun war der Vater nur noch selten zu Hause, weil er in einer anderen Stadt Arbeit gefunden hatte. Aber allein dort hinzugehen, hatte sich der Junge noch nicht entschließen können.

 

Der Mann am Fenster lüpfte für kurze Zeit seine Mütze und kratzte sich am Kopf. Dadurch stießen seine großen Ohren plötzlich in die Höhe, wo sie dem Anschein nach frei schwebten. Der Junge bezwang sich, nicht nach seinen eigenen Ohren zu tasten. Ihm kam es vor, als verrieten sie vielmehr Ähnlichkeit mit seinem Großvater als die wuseligen Haare. Jedenfalls boten seine großen Ohren Mike und seiner Gang genug Gelegenheiten, ihn seiner großen „Löffel“ wegen zu verspotten und zu ärgern. Doch daran war der Junge längst gewöhnt.

Mit schlurfenden Schritten schlich der alte Mann nun zu seinem Schaukelstuhl zurück und ließ sich darin schwerfällig nieder.

Er nahm das Foto vom Tisch und tippte seinen gekrümmten Finger darauf. Als wollte er es mit seinem Fingernagel aufspießen. „Das also bin ich ... Und dieser hier ...“ Er lockte den Jungen, sich hinabzubeugen, um ganz genau sehen zu können, auf wen er wies ... „Dieser hier ist Jan!“

Jan also ... Er war gut einen Kopf größer als der Junge, der nun als sein Großvater neben ihm im Schaukelstuhl saß. Auch Jan hatte lange Haare. Als wäre er ewig nicht beim Friseur gewesen. Die dunkle Jacke spannte über seiner Brust; wahrscheinlich gehörte sie ihm gar nicht. Die Hose hing schlaff an ihm herunter und die Beinröhren endeten bereits über den Knöcheln. Als hätte er sie auch aus einem Altkleidersack gefingert. Auf diese Weise entstand das Bild einer Vogelscheuche, die irgendjemand von einem Kirschbaum herabgenommen hatte, um sie für das nächste Jahr aufzubewahren. Seinen Arm im viel zu kurzen Jackenärmel hatte der Junge, der Jan hieß, freundschaftlich um die Schulter des Kleineren gelegt. Beide lächelten, aber der Junge hatte beim Betrachten des Bildes den Eindruck, dass dieses Lächeln nicht zu der Trauer in ihren Augen passte.

Jan, wiederholte der Junge in Gedanken. Von ihm hatte er schon einmal gehört. Er musste ein alter Freund des Großvaters sein. Doch woher sie sich kannten, wusste er nicht. Wieso führte ihm der alte Mann ausgerechnet heute dieses abgegriffene Bild vor? Welche Absicht verbarg sich dahinter?

Suchte er vielleicht einen Grund, um ihm, seinem Enkel, von diesem Jan zu erzählen? Doch weshalb?

Möglichst unauffällig sah der Junge zu der Wanduhr über dem Tisch, der in die Zimmerecke gerückt worden war, dem kastenförmigen Bett genau gegenüber. Dorthin setzte sich sein Großvater zum Essen, weil er die Stufen in die untere Wohnung nicht mehr hinabsteigen konnte. Deshalb brachte ihm die Mutter des Jungen alle Mahlzeiten hinauf und deckte jedes Mal sorgfältig den Tisch. Zu lange und zu oft hätte ihr Vater während seines Arbeitslebens als Monteur irgendwo auf einer Baustelle hastig sein Essen hinunterschlingen müssen, meinte die Mutter des Jungen, darum sollte er jetzt seine Ordnung haben.

Es wurde Zeit, sich zu verabschieden, aber der Junge bemerkte, dass der Großvater ihm etwas mitteilen wollte. Er kannte ihn sehr genau und wusste, dass die Unruhe, die von den Händen bis zum Kopf hinaufgewandert war und den ganzen Körper erfasst hatte, die Erregung des alten Mannes anzeigte. Sie musste mit diesem Foto zu tun haben, das der Großvater so genau und gründlich betrachtete, als wäre es ihm heute zum ersten Mal in die Hände geraten.

„Das war gleich am Tag nach seiner Befreiung. Der Hausmeister unserer Schule hat es aufgenommen. Mit einer alten Leica. So eine findest du heute nur noch im Museum. Aber die Aufnahme ist doch noch gut ... Jedenfalls sind wir genau zu erkennen.“

„Nach welcher Befreiung denn?“, fragte der Junge, der seine aufkommende Neugier umsonst zu zähmen versucht hatte. Ist dieser Jan eingesperrt gewesen? Oder wovon redete der Großvater?

Inzwischen hatte sich der Himmel über der Wiese vor dem Fenster bewölkt; Wolkenschatten lagerten auf der freien Fläche hinter dem Haus wie ein Gemälde von ungeschickter Hand. Unwillkürlich wurde der Junge bei diesem Anblick an die Bemerkung seiner Zeichenlehrerin erinnert.

„Tobias, weißt du, dass du ein Gemälde von ungeschickter Hand abgeliefert hast? Das ist nicht zum Lachen, das ist so etwas wie ein Lob! Du kannst nicht zeichnen, aber wie du dein Ungeschick anbringst und was du daraus machst, ist schon bemerkenswert!“

Der Junge, dessen Namen wir nun kennen und der mit dem seines Großvaters übereinstimmt, blickte traurig und wütend zugleich zum Fenster hinaus. Heiner wird ihm ganz schön die Meinung sagen, wenn sie sich morgen in der Schule treffen. Unzuverlässigkeit galt bei ihnen als Verrat. Aber das schlechte Wetter musste der Freund als Entschuldigung gelten lassen.

Der alte Tobias machte sich räuspernd bemerkbar.

„Du bist mit deinen Gedanken weit weg! Dabei wollte ich dir deine Frage beantworten. Aber dazu braucht es Zeit ...“ Auch er blickte nun zu der Uhr, deren Pendelschlag die Sekunden zerhackte.

„Ich wollte zu Heiner in unser Baumhaus ...“ Der Junge sah, wie es in den Augen seines Großvaters aufblitzte. „Ja, du hast recht. Wir haben uns eines gebaut. Heute wollten wir es einweihen. Doch nun ...“ Er wies mit einer Kopfbewegung zum Fenster. „Gleich wird es regnen ... Also kannst du mir von Jan und dieser Befreiung erzählen.“

Er setzte sich so bequem zurecht, wie es der Hocker zuließ und verschränkte erwartungsvoll die Arme vor der Brust. „Mein Gott!“ Der alte Mann stöhnte auf, als sei ihm in diesem Augenblick bewusst geworden, worauf er sich eingelassen hatte.

Wo sollte er beginnen? Mit dem Foto? Jenem Tag, an dem Jan aus seinem Gefängnis herauskommen konnte? Oder mit dem Tag, an dem er ihm zum ersten Mal im Wald begegnete? Aber er begann zu seiner eigenen Überraschung ganz anders.

Die Erzählung des alten Tobias

„Halbe Note“ und der Hausmeister

1.

Ich war ebenso ein Junge wie du. Also kleiner als andere und auch nicht so stark wie sie. Leider also nichts Besonderes und die Mädchen haben sich auch nicht nach mir umgesehen. Nur mit den Ohren hätte ich es mit allen aufnehmen können. Bestimmt hätte ich jeden Wettbewerb gewonnen, bei dem es um die größten Ohren gegangen wäre. Wie Segel im Wind standen sie von meinem Schädel ab. Gerade so, als wollten sie sich selbstständig machen. Dieser Gedanke ging mir damals nicht aus dem Sinn. Weil ich einmal auf einem Foto einen aus Holz geschnitzten Kopf gesehen hatte, auf dem die Ohren ganz für sich waren. Als gehörten Kopf und Ohren gar nicht zusammen. Also die Ohren ... Sie brachten mir viel Spott ein. „Hasenlöffel!“, riefen einige, denen es immer Spaß bereitete, andere zu hänseln, und die sich stark fühlten, wenn sie als Gruppe auftraten. Dazu gehörten Rake und seine Meute. Sie waren stadtbekannt und unterließen nichts, um anderen zu schaden. Rake selbst war der Schlimmste von ihnen. Du wirst ihn noch genauer kennen lernen.

Ich wusste nicht, wie ich mich dabei zur Wehr setzen konnte. Ich wollte nie ein Held sein, ach was. Nur größer und stärker. Größer, damit ich in der Turnriege unserer Schule nicht weiterhin am Schluss stehen musste wie ein zu kurz geratenes Ausrufezeichen am Ende eines Satzes. Oder beim Fußballspiel nicht ewig nur der unbeachtete Balljunge blieb, der den Ball nur berühren durfte, wenn der aus dem Feld gerollt war. Das waren meine Wünsche. Hätten sie sich erfüllt, wäre ich vielleicht auch mutig genug gewesen, mich gegen die Meute zu wehren.

Weißt du, was wir damals als „Ball“ benutzten? Du kannst es dir nicht vorstellen! Ein aus Lumpen zusammengedrehtes Bündel! Manchmal brachte einer auch eine richtige ballähnliche Kugel mit. Die war dann mit Sägespänen gefüllt und überstand kaum mehr als einige Minuten. Dann stiebte das Sägemehl umher und zurück blieb das Stück von einem Sack, das als Hülle gedient hatte. Ausgedient! So war das damals.