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Siegfried Maaß

Das Glashaus

Mäxchen und Pauline. Drittes Buch

 

ISBN 978-3-95655-721-7 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-720-0 (Buch)

 

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Beate Danneil

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Zuvor:

Die Geschichte von Mäxchen und Pauline beginnt, als sich beide, kaum zehnjährig, zum ersten Mal begegnen: Als er von Herrn Berger kommt, einem ehemaligen Lehrer, der ihm erfolgreich hilft, seine Furcht vor dem Mathemonster zu überwinden. Zur gleichen Zeit tritt Pauline auf, die bisher auf einem Hinterhof mit dem Fußball trainiert hat, denn sie möchte später unbedingt Profispielerin werden. Diese zufällige Begegnung ist der Beginn einer Freundschaft, die später dazu führt, dass beide Stiefgeschwister werden, denn Mäxchens Mutter Irene und Paulines Papa Harry verlieben sich ineinander und gründen eine Familie.

Daraus entwickelt sich die Geschichte, von der das erste Buch über das Leben beider Kinder und ihrer neuen Familie erzählt: ‚Mäxchen und Pauline’.

Die scheinbar ganz alltägliche Lebensgeschichte einer Familie, die sich neu zusammengefunden hat und sich bewähren muss – hauptsächlich die Stiefgeschwister Mäxchen und Pauline, die sich ihre sehr unterschiedlichen Lebenspläne bewahren und nach deren Erfüllung streben und dennoch gute Freunde sind.

Begleitet werden sie von Corinna, dem sehr selbstbewussten Mädchen, das sich zwischen die Stiefgeschwister drängen möchte und von Isa und ihrer Großmutter, die sich Birkhuhn nennen und sich im Rollstuhl von Mäxchen zu Paulines Spielen bringen lässt.

Der weitere ereignisreiche Lebensweg der beiden Hauptpersonen wird in dem Buch ’Flaschendrehen’ beschrieben, in dem sie bereits das Gymnasium besuchen: Pauline mit dem festen Vorsatz, sich am Landessportgymnasium zu bewerben.

Sie hat das Flaschendrehen eingeführt, das sie so geschickt nutzen kann, dass es immer günstig für sie selbst entscheidet.

Nur zur Bewerbung für das Landessportgymnasium muss sie sich selbst entscheiden. Ohne dass ihr Vater sowie ihre Stiefmutter etwas davon wissen. Nur ihrem Stiefbruder vertraut sie ihr Geheimnis an, so dass er gemeinsam mit ihr ungeduldig auf die Antwort wartet.

Mäxchen, der nun Max Stange sein möchte, ist weiterhin ein Träumer, der glaubt, als künftiger Weltenfahrer Neues, noch Unbekanntes entdecken zu können, wenn er entweder am Amazonas forscht oder den Meeresgrund aus einem gläsernen U-Boot absucht. Zunächst muss er sich jedoch mit den Welsen und Neonfischen in seinem Aquarium zufrieden geben, denen er freimütig seine Erlebnisse und Gedanken mitteilt.

Mit Irene und Harry, dem neuen Elternpaar, erleben beide eine schöne Zeit voller Abwechslungen, sowohl beim gemeinsamen Angeln wie auch auf dem Reiterhof und im Heuhotel. Die bereits genannten anderen Mitwirkenden finden sich auch hier wieder ein und begleiten den weiteren Handlungsverlauf.

Im vorliegenden Buch ‚Das Glashaus’ müssen die Hauptpersonen zunächst die Folgen eines heftigen Sturms überwinden, die sich schmerzlich auf das Leben der Familie auswirken und auch Paulines Schicksal als Spielerin in der Landesauswahl gefährdet …

Es führt somit die Geschichte von Mäxchen und Pauline fort und lässt den Leser weiterhin am ereignisreichen Leben der beiden sowie ihrer Familie und Freunde teilnehmen.

Wartezeiten

Pünktlich, wie er es gewöhnt ist, befindet sich Max Stange am Zeitungskiosk in der Vorhalle des Bahnhofs, wo er mit seiner Stiefschwester Pauline verabredet ist. Es ist früher Nachmittag, der sich dehnt und streckt, als wollte er die Stunden für bessere Zeiten sammeln, um sie dann großzügig verteilen zu können. So erscheint es dem groß gewachsenen Jungen, der vergeblich versucht, seine Unruhe zu beherrschen. Sollen alle Vorüberhastenden bemerken, dass er in einer Notlage steckt? Wie ein Nichtschwimmer in tiefem Wasser, der darauf hofft, dass ihm noch rechtzeitig ein Rettungsring zugeworfen wird?

Er steht im Durchzug und der Wind pfeift in seinen Ohren. Staub wirbelt auf und schleppt Papierfetzen und anderen Abfall mit sich umher. Gern würde er den Platz tauschen, hält sich jedoch genau an die vereinbarte Stelle, als könnte ein Wunder geschehen und Pauline plötzlich wie aus dem Nichts erscheinen.

Er sehnt sich nach einem richtigen Sommertag, der ihn ins Freibad lockt, und unwillkürlich erinnert er sich an den vorigen Sommer, in dem er die Ferien gemeinsam mit Pauline hauptsächlich im Strandbad verbrachte. Ihm kommt es vor, als hätte er alle erinnerungswerten Ereignisse in seinem Gedächtnis aufbewahrt wie Bilder in einem Album. Oder wie einige Mädchen seiner Klasse die Verse und Sprüche ihrer Omas und Tanten in ihren Poesiealben.

Als wäre es gestern gewesen, sieht er Pauline auf dem Sprungturm stehen – auf dem Fünfer. Es soll ihr Premierensprung werden; den Dreier hat sie schon längst hinter sich. Die Sprünge von dort gelingen ihr inzwischen besser als ihm.

Auch nach dem Bauchklatscher, zu dem der erste Sprung geriet, hatte sie nicht aufgegeben. Nun also war sie entschlossen, den Fünfer zu wagen.

Ihre Fußspitzen strichen tastend über den Absprungrand; als wollte sie fühlen, wie hart die Kante ist, wippend. Hände und Arme arbeiteten wie Kolben einer Lok; trotzdem bewegte sie sich nicht vom Fleck.

Er wusste, dass sie nicht umkehren würde und munterte sie mit freundlichen Zurufen auf. Aber alles um sie herum schien sie nicht wahrzunehmen und ließ auch die Zuschauer, die sich unter dem Sprungturm versammelt hatten, unbeachtet.

Einen Augenblick lang war er von irgendetwas abgelenkt und verpasste deshalb den Premierensprung seiner Stiefschwester vom Fünfer. Als er wieder aufblickte, war der Turm leer und er erkannte das aufspritzende und schäumende Wasser, in dem wenig später Pauline auftauchte und die Hände zur Siegerpose reckte – sie hatte es geschafft.

Heute stellt sich der Wunsch nach Freibad und Sprungturm nicht ein.

Aber nicht allein wegen des kühlen und stürmischen Wetters. Inzwischen hat sich alles schlagartig verändert. Leider nicht zu seiner Freude.

Nach einer fast schlaflosen Nacht hatte er Mühe aufzustehen. Erst gegen Morgen hatte ihn der Schlaf überrumpelt, der ihn dann nicht aus seinen Fängen entlassen wollte.

Traumbilder hatten sich in seinem Kopf festgesetzt, sodass er Harry vor sich sah: Von einem merkwürdigen gläsernen Rahmen umgeben. Als wäre das Glas eines Bildes zerbrochen. Splitter steckten in Harrys Kopf sowie in Händen und Armen und hinterließen dort seltsame blutige Tattoos. Sobald sich sein Stiefvater nur leicht bewegte, färbte Blut den schwarzen Gartenboden.

Dann vernahm Max Stange ein Stöhnen – sein eigenes.

So sehr er sich auch bemühte, es los zu werden – dieses schreckliche Bild schien auf seine Netzhaut gebannt und wich nicht, nachdem er sich die Augen gerieben hatte. Jedenfalls trug dies dazu bei, dass er endlich munter wurde. Gähnend erhob er sich und reckte die Arme in die Höhe wie früher als kleiner Junge, wenn er beweisen wollte, wie groß er bereits sei. Oder wie Pauline in ihrer Siegerpose.

Lustlos und ohne sich zu setzen hatte er dann ein trockenes Brötchen gekaut, das noch vom Vortag übrig geblieben und hart geworden war. Getrunken hatte er aus der hohlen Hand an der Wasserleitung, was in letzter Zeit öfter geschah, wenn er sich nicht die Mühe machen wollte, ein Glas aus dem Schrank zu nehmen. Nur für sich allein, meinte er, brauche er diesen Aufwand nicht jeden Tag zu betreiben.

Dieses Mal verhielt es sich anders. Es ging ihm nicht um den unnützen Aufwand; er fand einfach nicht die innere Ruhe, um sich an den Tisch zu setzen und noch ein wenig zu dösen, während Hände und Mund wie selbsttätig ihre Aufgaben erfüllten.

Auch sonst hatte sein Stiefvater Harry schon das Haus verlassen, wenn Max Stange während seiner Ferien mit dem Frühstück begann. Irene, seine Mutter, dachte dann jedoch längst nicht mehr an das Frühstück, davon war er überzeugt. Sie hatte inzwischen einen großen Teil ihres Tages bereits hinter sich – dort in Sibirien, wo sie sich seit zwei Wochen aufhielt und wo man uns hier in Mitteleuropa um 7 Stunden voraus ist.

Eine halbe Tagesreise von der Stadt Irkutsk entfernt und von der Taiga umgeben, lebten dort ihre beiden Cousinen Heide- und Rosemarie, die sie endlich besuchte. Dieses Mal hatten sie sich als hartnäckig erwiesen und darauf berufen, dass es wegen ihres Alters vielleicht die letzte Gelegenheit für ein Wiedersehen sei. Dieser Aussage hatte Irene nicht widersprechen können und die schon mehrfach ausgesprochene Einladung endlich angenommen. Zu ihrem Entschluss hatte besonders Isa beigetragen. Sofort, als von der Einladung gesprochen wurde, hatte sie angeboten, Dagmar zu sich zu nehmen. Irene hatte nicht lange gezögert und zugestimmt. Sie wusste, dass sie sich auf das junge Mädchen verlassen konnte.

Auf diese Weise waren alle zufrieden. Isa erwies damit der Familie einen großen Gefallen, weil alle wussten, dass die Kleine sich bei ihr in guten Händen befand. Zugleich erfüllte sich Isa selbst einen Wunsch: Schon manches Mal hatte sie Dagmar am Wochenende zu sich holen wollen, womit Harry jedoch nicht einverstanden gewesen ist. Isa, meinte er, möchte dann an dem Kind ausprobieren, was sie bei ihrem Studium gelernt hatte. Irene widersprach ihm zwar, wollte Dagmar aber nicht hergeben, wenn sie selbst ein freies Wochenende hatte, das sie mit ihren Kindern verbringen wollte. Oft genug war sie als OP-Schwester auch an den Wochenenden im Dienst.

So kam endlich Irenes Reise zustande. Harry hatte sie eines Abends zum Flugplatz gefahren, und Irene freute sich, weit nach Osten in den neuen Tag hinein fliegen zu können.

 

Bild

Seit sie als Kind mit ihren Eltern die alte Heimat verlassen hatte, war sie nicht noch einmal dorthin zurückgekehrt, obwohl sie sich gern an jene unbeschwerten Tage erinnerte und auch häufig in schönen Worten schilderte und von der Banja schwärmte – einer einfachen Hütte zum Schwitzen, die irgendwo am Rand des Dorfes stand. Im Winter hätte es besonderes Vergnügen bereitet, wenn man, von der trockenen Hitze des Ofens am ganzen Körper rot wie eine reife Tomate, sich in den Schnee warf und darin wälzte wie ein Hund. Danach lief man fröstelnd in die heiße Banja zurück … Kaum wäre jemand einmal ernsthaft krank geworden …

Max Stange glaubte fest daran, dass sie keinen Tag verstreichen ließ, ohne die Banja aufzusuchen. Auch im Sommer sei es angenehm und gesund. Umso mehr würde sie später zu berichten haben.

Die Erzählungen seiner Mutter über ihre Kindheit an der Angara hatte Max Stange sogar dazu gebracht, dieses riesige Waldgebiet Taiga und den großen Strom in seine Pläne für zukünftige Forschungsreisen einzubeziehen. Er stellte es sich sehr reizvoll vor, sozusagen in die Fußstapfen seiner Mutter zu treten und sich zu sagen: Hier ist Irene als kleines Mädchen gewesen. In diesem Fluss hat sie gebadet und mit ihrem Großvater gefischt. Am Ufer haben sie danach in einem großen Topf über dem Lagerfeuer Fischsuppe zubereitet.

Einmal hatte sie in friedlicher Familienrunde in verschwörerischem Ton sogar ein bisher gehütetes Geheimnis preisgegeben: Ihr Großvater hatte nachts Zobel gejagt, was streng verboten war. Auf seine Frage, ob sein Urgroßvater dafür bestraft worden sei, hatte Irene verschämt gelächelt und genickt. Das wäre der dunkle Fleck der Familie, meinte sie. Viele Jahre hatte er ‚wegen Schädigung des Volksvermögens’ im Straflager verbracht, erklärte sie. Als ein kranker Mann war er zurückgekommen und dann bald gestorben.

Max Stange klangen Irenes Worte noch in den Ohren. Bestimmt wird sie an sein Grab gehen, das auch das ihrer Großmutter geworden ist. Ihre Cousinen haben es gepflegt, wofür sich Irene bei ihnen bedanken wird.

Ihre Eltern sind einige Jahre nach der Übersiedlung nach Deutschland bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Irene lebte danach einige Zeit in einem Heim und zog später als Schwesternschülerin in eine WG.

Wenn andere Jungen damit angaben, was sie mit ihren Opas erlebt oder angestellt hatten, konnte sich Max Stange nie daran beteiligen, denn er hatte Irenes Eltern nicht kennengelernt. Jeder hatte jeden übertreffen wollen und am Ende stritten sie sich dann, welcher der Großväter der beste wäre.

Lange ist es her, dachte er.

Mit seiner guten Hand, die seine linke ist, wischt Max Stange über sein Gesicht – eine Gewohnheit seit früher Kindheit. Damals hat er sich eingebildet, damit alle Erinnerungsbilder und Gedanken, die ihm unangenehm waren, auslöschen zu können.

Auch jetzt bemüht er sich, Angara, Taiga und Irenes russische Familie zu vergessen und kehrt mit seinen Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurück – zu seiner Stiefschwester Pauline. Auf deren Ankunft er wartet.

Sie verbrachte diese erste Ferienwoche im Trainingslager, wohin die Spielerinnen der Fußball-Landesauswahl eingeladen waren. Dazu gehörte seine Stiefschwester inzwischen. Voller Stolz hatte sie es der Familie verkündet, als sie am letzten Wochenende vor Beginn der Sommerferien nochmals aus dem Internat nach Hause gekommen war. Ihr Bild war sogar in der Zeitung erschienen. Darunter war zu lesen: Pauline Krämer, eine Schülerin aus unserer Stadt, als eine der besten Fußballspielerinnen in die Landesauswahl berufen.

Er, Max Stange, war nun für diese Zeit zum Hüter des Hauses berufen worden.

So bezeichnete er sich und konnte sich in dieser Rolle schnell zurechtfinden.

Als Chef der städtischen Gärten und Parks hatte Harry oft sehr langen Dienst, sodass sie beide meistens erst zum Abendessen wieder beieinander saßen. Danach hatte sein Stiefvater aber selten Lust zu einem langen Gespräch und verkroch sich hinter der Zeitung, wo er jedoch fast immer bald einschlief. Dann glitt die Zeitung raschelnd aus seiner Hand. Max Stange hob sie jedes Mal auf und legte sie dem Stiefvater ordentlich gefaltet auf den Schoß. Kam Harry schließlich wieder zu sich, schien er niemals überrascht zu sein, die Zeitung vorzufinden, als hätte er sie soeben aus dem Briefkasten genommen.

Lediglich eine Fußballübertragung konnte ihn wach halten und Max Stange ahnte, dass Harry dann das Geschehen auf dem Spielfeld jedes Mal mit dem strengen Blick eines Mannes maß, dessen Tochter inzwischen zu den Besten ihrer Altersgruppe im Land gehörte. Vielleicht verglich er Spielweise und technisches Geschick mancher Spieler sogar mit denen Paulines?

Darüber denkt Max Stange nach, wenn er das Spiel zusammen mit Harry ansehen darf. Auch ein Boxkampf hielt Harry davon ab, dem Lockruf seines Bettes zu folgen, wie er selbst es lachend bezeichnete.

Gestern Abend war Max Stange Harrys Unruhe aufgefallen. Auch er selbst spürte, dass ihn der Sturm merkwürdig aufwühlte, als sei sein Kreislauf ungewöhnlich in Gang gekommen. Dachziegel gaben Klänge von sich, als wenn irgendwo in der Nähe Klöppel wild auf ein Xylofon hämmerten. Die Äste der Linden, die die Straße zu beiden Seiten säumten, entwarfen gespenstische Schattengebilde.

Es dauerte auch nicht lange und Harry legte die Zeitung zur Seite, über der er dieses Mal nicht eingeschlafen war.

„Ich fahre noch mal los“, sagte er. „Muss sehen, ob mit dem Treibhaus alles in Ordnung ist … Bei diesem Sturm kann man nicht vorsichtig genug sein.“

Er nahm den Autoschlüssel vom Bord und meinte, er wäre bald wieder zurück. „Nur zu meiner Beruhigung“, fügte er noch hinzu, bevor er die Tür ins Schloss zog.

Und dann habe ich gewartet, erinnert sich Max Stange. Wie oft ich zur Uhr gesehen habe, weiß ich nicht. Jetzt glaubte er plötzlich zu wissen, wie Irene früher zumute gewesen ist, wenn er nicht pünktlich zur gewohnten Zeit nach Hause gekommen war. Einmal hatte sie sich bereits bei der Polizei erkundigt und auch das Krankenhaus angerufen.

Währendessen schob er auf einer Kegelbahn eine Kugel nach der anderen. Ein Klassenkamerad hatte ihn dazu überredet. Bald bereitete ihm das Kegeln ein so großes Vergnügen, dass er sich zu steigern versuchte und schließlich eine Acht schaffte. ‚Alle Neune’ verweigerten sich ihm an diesem Abend jedoch.

In seiner Begeisterung für die neue sportliche Beschäftigung vergaß er völlig die Zeit, sodass er viel zu spät die Halle verließ.

Innerlich war er darauf vorbereitet, von Irene wütend und schimpfend empfangen zu werden. Aber stattdessen brach sie in Tränen aus und zog ihn an sich, als wollte sie ihn nie wieder freigeben. Fast bettelnd klang es, als sie sagte: „Mach das nie wieder, Mäxchen!“

Das hatte ihn tief getroffen. Außerdem missfiel ihm, dass er Irene enttäuscht hatte. Sie kannte ihn als pünktlichen und zuverlässigen Menschen. Und so sollte es auch bleiben.

Ein Mensch mit einer inneren Uhr, die ihn nie wieder im Stich lassen sollte.

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Manches Mal wird er zu Hause wie auch in der Schule nach der Uhrzeit gefragt und jeder war sicher, eine zuverlässige Antwort erhalten zu haben, ohne dass Max Stange auf seine Uhr gesehen hatte. So lange er Wand an Wand mit Pauline gewohnt hatte und sie sich darauf verließ, morgens von ihm mit Klopfzeichen geweckt zu werden, kam er rechtzeitig zu sich. Dann bedeutete sein Blick zur Uhr nur die Bestätigung seines inneren Zeitempfindens.

An diesem vergangenen Abend war er es, der wartete. Auf Harry, auf dessen angekündigte Rückkehr. Während der Sturm heulte und wütete, Müllcontainer herrenlos über die Straße rollten und Dachziegel zu Bruch gingen.

Wo blieb Harry?

Dann schrillte das Telefon …

Eine fremde Männerstimme meldete sich und fragte, ob er der Sohn von Harry Krämer wäre.

Max Stange hatte gezögert, aber schließlich gesagt: „Ja! Der bin ich!“

Ob noch jemand zu Hause sei, wurde gefragt, worauf er antwortete: „Nein, ich bin allein.“

Er solle schnell in die Klinik kommen und das Nötigste mitbringen. Sein Vater wäre von einem umstürzenden Baum getroffen worden und verletzt …

Danach wurde aufgelegt.

Max Stange blieb, mit dem Hörer in der Hand, stehen. Wie ein Baum. Jedenfalls wie einer, dem der Sturm nichts anhaben konnte. Jetzt hätte er sogar einen Sturm gebraucht, der ihn antrieb.

Nun wartet er wieder. Diesmal auf Pauline. Es ist früher Nachmittag, außerdem haben die Sommerferien begonnen, sodass es in der weitläufigen Halle wie in einem Ameisenhaufen zugeht. Wohin er auch sieht: Die Menschen eilen in alle Richtungen und ihre Fortbewegungen erscheinen sinn- und ziellos.

Als würden sie nach wenigen Schritten umkehren und gleich darauf nochmals die Richtung ändern.

Fast wie zum Zeitvertreib fängt sein Blick immer wieder die stets unveränderte Mitteilung an der digitalen Anzeigetafel ein: Alle Züge aus jener Richtung verspäten sich wegen Sturmschadens auf unbestimmte Zeit.

Max Stange ist wütend. Wütend und ratlos. Nun greift das Unwetter innerhalb kurzer Zeit bereits zum zweiten Mal in sein Leben ein, bringt Aufregung und schafft Unordnung, sodass er sich fragt, womit er dies verdient hat.

Ungewollt nimmt er die von seiner Mutter häufig gestellte Frage auf, die sie ausspricht, sobald etwas ihren gewohnten Tageslauf stört und ihre Planung durcheinanderbringt: „Womit habe ich das verdient?“

Ja, womit? Das fragt sich Max Stange jetzt. Zuerst wurde sein Stiefvater Harry Opfer dieses wütenden Sturms und danach kann seine Tochter aus dem gleichen Grund nicht kommen, um ihn im Krankenhaus zu besuchen.

Offiziell wollte man ihm keine Auskunft erteilen, weil man inzwischen wusste, dass er nicht der leibliche Sohn des Patienten Krämer war. Er hatte es am Abend vergeblich versucht, nachdem er sofort losgelaufen war. Mit einer Tasche voll mit Dingen des sogenannten täglichen Bedarfs.

Eine Schwester, die Irene gut kannte und mit ihr auf der gleichen Station gearbeitet hatte, winkte ihn schließlich zu sich und erklärte ihm, indem sie sich nach allen Seiten absicherte:

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Harry war in der Gärtnerei von einem herabfallenden Ast am Kopf getroffen worden und in das Gewächshaus gestürzt. Dabei zersplitterte eine der großen Scheibenwände und verursachte tiefe Schnittwunden an seinen Armen und Beinen sowie im Gesicht, sodass er nicht wusste, um welche Wunde er sich zuerst kümmern sollte. Zum Glück hatte er sein Handy bei sich und informierte den Notarzt.

Zu der Zeit, als seinem Stiefsohn dies mitgeteilt wurde, lag Harry bereits auf dem OP-Tisch.

Mehr hatte Max Stange nicht herausbekommen. Er ist mit Harry nicht blutsverwandt, darum muss Pauline als leibliche Tochter das Gespräch mit dem Arzt führen.

Stellvertretend für Irene: die Ehefrau. So verrückt genau sind die Vorschriften, die keine Ausnahmen gestatten.

Doch Paulines Zug wird irgendwo auf freier Strecke festgehalten.

Wahrscheinlich ebenfalls von einem vom Sturm gefällten Baum.

Max Stange versteht diese Welt nicht. Er ist so gut wie Harrys Sohn, mit ihm verbindet ihn sogar die gleiche Quersumme ihres Alters – Harry 41, er 14.

Zu seinem leiblichen Vater hat Max Stange keine Verbindung. Darauf verzichtet er auch gern, seit er mit Harry und Pauline sowie Irene in einer Familie lebt.

Max Stange zieht sein Handy hervor. Vielleicht hat Pauline eine SMS geschickt? Enttäuscht schüttelt er den Kopf. Sie weiß doch, dass er hier auf sie wartet.