Impressum

Lutz Dettmann

Reise nach Jerusalem

Ein Israel-Tagebuch

 

ISBN 978-3-95655-697-5 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-699-9 (Buch)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Danke, Tali und Hannes, dass Ihr mir beim Schreiben viele Anregungen geben konntet! Uli, ohne Deinen Anstoß wäre dieses Buch nie erschienen!

 

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Reise nach Jerusalem

(Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Reise_nach_Jerusalem)

Kinder und Erwachsene auf der Reise

Die Reise nach Jerusalem oder Reise nach Rom ist ein Gesellschaftsspiel mit beliebig vielen Mitspielern, das einen einzigen Gewinner ermittelt. Es wird in der Hauptsache als Kinderspiel betrieben. Alternativ wird das Spiel auch Stuhltanz bzw. Stuhlpolka (v. a. neue Bundesländer) genannt oder es wird auch wie ein Abzählreim verwendet. In Österreich und der Schweiz ist der Begriff Sesseltanz gebräuchlich.

Spielverlauf

Man ordnet Stühle im Kreis an, und zwar einen Stuhl weniger als Teilnehmer. Diese stellen sich ebenfalls im Kreis auf. Sobald der Spielleiter die Musik ertönen lässt, müssen sich alle im Kreis um die Stühle bewegen. Der Spielleiter stoppt die Musik zu einem willkürlichen Zeitpunkt; dann muss jeder Teilnehmer versuchen, sich möglichst schnell auf einen freien Stuhl zu setzen; es bleibt am Schluss immer ein Teilnehmer stehen und scheidet aus. Nun wird ein Stuhl entfernt und die verbliebenen Teilnehmer ermitteln wieder durch das musikgesteuerte Laufen und Stoppen einen weiteren Verlierer. Das Spiel wird solange wiederholt, bis in der letzten Runde nur noch ein Stuhl und zwei Teilnehmer übrig sind; wer diese gewinnt, ist der Gewinner des gesamten Spiels.

Ursprung

Die Herkunft des Namens ist ungeklärt. Manche vermuten sie in Reisen nach Jerusalem zur Zeit der verlustreichen Kreuzzüge, andere vermuten den Ursprung in der Zeit der zionistischen Migration nach Palästina und dem begrenzten Platzangebot auf den Auswandererschiffen. Eine weitere Erklärungsvariante zum Ursprung des Spiels bietet das Strategikon des Maurikios, ein Militärhandbuch des byzantinischen Kaisers und Feldherrn Maurikios aus dem 6. Jahrhundert nach Christus: Danach handelt es sich um eine Methode, feindliche Spione in den eigenen Reihen zu identifizieren. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wird im Feldlager ein Trompetensignal gegeben. Daraufhin haben alle Soldaten und zivilen Begleitmannschaften sofort ihren Schlafplatz aufzusuchen. Für die gegnerischen Spione, die sich unter diese gemischt hatten, bleiben dann nur zwei Möglichkeiten — doch in beiden Fällen werden sie enttarnt, also aus dem „Spiel“ genommen: Entweder sie versuchen, in einem Zelt unterzukommen und werden dann von der betreffenden Schlafgemeinschaft als „Armeefremde“ erkannt oder sie bleiben außerhalb der Zelte, was dann ebenfalls zu ihrer Entlarvung führt. Ironischerweise wird im ersten Asterix-Band, Asterix der Gallier, dieses Trennungsverfahren umgedreht: Hier wird der römische Spion unter den Legionären, Caligula Minus, anhand eines Reise nach Jerusalem-Spiels ermittelt, da sich kein Freiwilliger für das Auskundschaften des gallischen Dorfes findet.

Statt eines Vorwortes ein kurzes Märchen

Und wie beginnen Märchen? - Mit:

Es war einmal ... ein junger Mann, der aus einem kleinem Dorf in Mecklenburg in die große Stadt Berlin gezogen war, um dort zu studieren.

Er lernte eine fremde Sprache, nämlich chinesisch, lebte auch einige Zeit in dem Land des Lächelns, um dort diese Sprache zu sprechen und lernte dabei allerlei fernöstliche Weisheiten kennen. Zurückgekehrt in die große Stadt spürte er, wie groß doch die Welt ist, und dass er noch so vieles lernen müsste, um später Menschen helfen zu können. Trotz seiner noch wenigen Lebensjahre hatte er schon einige Weisheiten inne und erkannte so sein Lebensziel. Ihn packte ein großes Fernweh, und er verabschiedete sich von seiner Schwester und seinen Eltern, die ihn mit schmerzenden Herzen in die Ferne ziehen ließen.

Der junge Mann zog in das Land, in dem der Pfeffer wächst. Dort hauste er inmitten einer Dorfgemeinschaft mit Gleichgesinnten, und sie pflanzten gemeinsam mit den Einheimischen Bäume und Sträucher, regulierten das Wasser, damit es den Bauern dort nütze und er lernte vieles. So gab er ihnen und nahm von ihnen.

Eines Tages kam in dieses Dorf ein Mädchen, welches dunkle, wunderschöne Augen und ein bezauberndes Lachen hatte. Sie stammte aus einem Landstrich, welcher früher das Heilige Land genannt wurde und war auf der Suche nach denselben Erkenntnissen, die auch der Junge suchte. So sahen sie sich, sprachen miteinander, spürten, wie sie sich mochten und immer besser verstanden, und schließlich verliebten sich beide und wurden ein Paar, ganz ohne den Segen eines Priesters oder eines Rabbis.

Viele Monate zogen sie gemeinsam durch das große Land, sahen viel Schönes, aber auch viel Elend, übernachteten in Herbergen und einfachen Häusern. Ihre Liebe wuchs und wuchs. Und als das Mädchen mit den dunklen Augen und dem bezaubernden Lachen das Land verlassen musste, da ihre Zeit abgelaufen war, spürten beide einen großen Schmerz und eine heftige Sehnsucht, dass sie beschlossen von nun an auf immer zusammenzuleben.

Der Junge Hannes und das Mädchen Tali zogen gemeinsam in das Land seiner Vorfahren, um weiter gemeinsam nach Weisheiten zu forschen.

Natürlich darf in einem Märchen ein Schloss nicht fehlen. Und so heirateten sie in einem wunderschönen kleinen Schloss am Ufer eines großen Sees nicht weit von seinem Heimatdorf entfernt. Freunde kamen aus vielen Ländern, die sie während ihre Reisen und Studien kennengelernt hatten. Und auch ihre Mutter und ihr Vater und die Freundin ihres Vaters, ihre Schwester und die Brüder aus dem Land dort unten am Mittelmeer brachen auf, um die Hochzeit zu feiern. Und sie feierten mehrere Tage und Nächte, alle verstanden sich gut und mochten sich, tranken Wein und Met, aßen Brot, herrliche Salate und süße Kuchen - aber kein Fleisch. Als die Familien sich wieder trennen mussten, waren alle traurig. Und so beschlossen sie, sich wiederzusehen.

Einige Monde vergingen, dann wurde die Familie des Jungen in das Land ihrer neuen Tochter eingeladen. Und nun beginnt die eigentliche Geschichte ...

Mittwoch, 26.08.15, Tel Aviv

Unser erster Urlaubstag in Israel!

Den gestrigen Anreisetag können wir nicht zählen, denn von Erholung war nicht viel zu spüren.

In der Nacht davor mein ewiges Reiseproblem: Ich kann nicht schlafen, bin immer viel zu aufgeregt, obwohl das nicht mehr sein muss. Fliegen ist ja nun nicht mehr „das Ereignis". Gut, auch die Berlin-Geräuschkulisse für mich immer ungewohnt. Der Lärm aus der Eckkneipe gegenüber, selbst die wenigen Autos störten. Die heimatlich-dörfliche Nachtruhe, von seltenem Hundegebell unterbrochen, ist wirklich Erholung.

Früh um 2.00 Uhr aufgestanden, Blick vom Balkon - es regnete, nein, es goss aus Eimern. Der Trübsinn hielt sich in Grenzen. In wenigen Stunden Sommer. Aber wie! Die Webseite von Tel Aviv zeigte vorgestern 34 Grad und Sonne.

Berlin im Regen, es glänzt der Asphalt ... mit dem Bus zum Bahnhof Zoo, Nachtgestalten, Verbummelte, Angetrunkene, einige frühe Arbeiter mit Rucksack oder Beutel. Ein Kaffee bei McDonalds gegenüber, stark und schwarz. Die Stadt wirkte nicht wie eine Metropole, seltsam verlassen. Auch im Zug nach Schönefeld nur wenige Fahrgäste, mit Koffern und Taschen wie wir. Müdigkeit: Hannes und Tali nutzten die Zeit und dösten. Erika und ich noch immer unruhig. Unsere erste Reise zu Talis Familie nach Israel. In den letzten Monaten habe ich viel über das Land gelesen. Aber kann man sich ein eigenes, reales Bild aus den Beschreibungen machen? Alles ist doch subjektiv, auch meine Eindrücke werden so sein. Das kleine Land ist so vielschichtig, kulturell und politisch zerrissen. Israelis, Palästinenser, Drusen, orthodoxe Juden, Christen, und, und, und. Alle leben in einem Land, das nicht einmal so groß wie Bayern ist.

Schönefeld empfing uns mit dem morbiden Charme der vergangenen DDR. Etwas aufgehübscht, eigentlich schon längst totgesagt, erfüllt der Flughafen noch immer seine Ersatzfunktion für die größte Lachbaustelle der Nation. Oder ist die Hamburger Elbphilharmonie die Nummer 1 in den Charts der verplanten Großbaustellen Deutschlands?

Zollkontrolle, dieses Mal schärfer als sonst. Ich denke, der Grund dafür ist unser Reiseziel. Hannes und ich stehen, uns nicht bewusst, in der Schlange für den Körperscanner, weigern uns, dort durchzugehen und werden angemacht, ob wir nicht lesen können, dass dies der Durchgang zum Scanner ist. Das Schild war wirklich kaum zu sehen. Berliner Schnauze!

07.05 Uhr. Wir saßen im Flieger. Drei Stunden Flug bis Tel Aviv. Langsam fiel die Anspannung von mir. Endlich Urlaub! Das übliche Prozedere: Lesen, Dösen, ein Blick aus dem Fenster, das Ertragen der kleinen Verkaufsaktion der Hostessen.

In einer eleganten Kurve drehte der Airbus seine Nase in Richtung Flughafen Tel Aviv. Der weiße Strand, eine Kette Hochhäuser und viel Grün. Damit hatte ich nicht gerechnet. Die Landung ohne Komplikationen. Tali gab uns eine kleine Einweisung für die Sicherheitskontrollen, denn die Kontrollen können sehr streng sein. Wir sollen präzise auf die Fragen antworten, nicht diskutieren, gleich berichten, dass wir ihre Familie besuchen wollen. Der Ben Gurion-Airport neu, modern, hell, interessante Architektur im Inneren, arabisch wirkend. Passkontrolle, Israelis werden getrennt vom Rest der Welt abgefertigt. Das kenne ich auch von der Einreise auf deutschen Flughäfen, eben EU- und Nicht-EU-Bürger. Hannes bleibt bei uns in der Schlange. Einige Reisende vor uns ein langhaariger Backpacker. Der Angestellte in der Glaskabine schien nicht zufrieden zu sein. Ein möglicher Terrorist? Stehen Einzelreisende mit Rucksäcken schon unter Terrorverdacht, will er vielleicht nach Palästina? Schließlich musste er zurück, wurde hinter eine Wand geführt. Da war sie: meine Unruhe, obwohl ich weder Bomben am Gürtel hatte, noch terroristische Gedanken in meinem Hirn transportierte. Kurze Fragen des Beamten, knappe Antworten.

„Warum nach Israel?"

Als er erfährt, dass wir die Familie unserer Schwiegertochter besuchen, noch einmal ein tiefer prüfender Blick in meine Augen, dem ich standhalten kann, und er lässt uns in Frieden ziehen. Eigentlich hatte ich mir die Kontrolle schlimmer vorgestellt. Mein für wenige Minuten aufgetauchtes DDR-Grenzgefühl vom Sommer 89, als ich nach Düsseldorf durfte, nicht berechtigt. Statt des Einreisestempels ein Kärtchen. Mit einem israelischen Stempel im Pass würden wir nicht in alle arabischen Länder reisen können. Militär, auch junge Mädchen in Uniformen. Schöne Gesichter, trotzdem maskulin wirkend im Uniformstoff der Hosen. Ich werde mich wohl an Uniformen gewöhnen müssen. Draußen empfängt uns eine Hitze, wie noch nie erlebt. Dann Talis Vater Michael, der uns abholt. Wiedersehensfreude. Ein so gutes Gefühl.

Im Ausland nennt man Tel Aviv „Big Orange", in Anlehnung an New York. Ich kann es verstehen. Gestern, während der Fahrt vom Flughafen in den Norden, zum Haus der L.'s hatte ich schon so etwas wie ein „New York-Gefühl": die breite Stadtautobahn, die Riesenbaustelle der Metro, Hochhäuser, fast Wolkenkratzer, wie man sie in Berlin nicht findet. Michael erklärte uns die Gebäude. Die Silhouetten der Azrieli Towers, einer der Türme mit 189 Metern das höchste Gebäude lsraels. Ein Straßenverkehr wie in den Metropolen Europas. Die neue Architektur voller Kontraste, man erkennt die Lust und Unlust der Architekten. Häuser, austauschbar, wie man sie in allen großen Städten finden kann, aber auch Gebäude, die sich architektonisch auf ihren geografischen Standort beziehen.

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Bild 1 und 2: New York-Gefühle in Nahost. Big Apple grüßt Big Orange.

Kochav ha Tzafon, unser Ziel. Hier leben die L.'s in einem Haus zur Miete. Ein gehobenes Viertel, man sieht es an den SUVs und der ruhigen Lage. Der Strand von Tel Aviv nur 20 Fußminuten entfernt. Die grüne Oase des Yarkon Parks am gleichnamigen Fluss - früher eine Kloake, seit einigen Jahren wieder sauber, nicht weit von der Wohnung entfernt.

Arielle empfängt uns, fast die gesamte große Familie ist anwesend. Sofort ist wieder dieses so warme, herzliche Gefühl spürbar, obwohl wir uns doch bisher nur einmal gesehen haben. Das Haus riesengroß.

Wir leben seit gestern in Yarons Zimmer, Arielles ältester Sohn studiert Landwirtschaft, irgendwo unten im Süden und ist selten zu Hause. Sein Zimmer, ganz oben. Im Erdgeschoss das große Wohnzimmer, Michaels Masken, Mitbringsel von seinen Reisen, an den Wänden zum Essbereich. Gegenüber, auch im Treppenhaus, Bilder von Arielles Mutter, sie hatte während des Krieges in Paris Kunst studiert. Das war möglich, weil sie erst später, nachdem sie ihren jüdischen Mann kennenlernte, zum Judentum konvertierte, wie Arielle mir heute erzählte. Kurze Führung durch das Haus. Neben der Eingangstür der Schutzraum. Vorschrift in jedem Neubau in Israel. Zuflucht der Bewohner bei Raketenangriffen, ausgestattet mit dem Lebensnotwendigen für einige Tage. Die Familie sieht dies, wie die meisten Israelis, moderat und lagert Koffer und andere nicht lebensnotwendige Dinge in dem Raum.

Warten auf Rike und Yoav - sie haben nur einen Flug später buchen können, da sie erst vor einigen Wochen wussten, dass sie mitkommen. Yoav, Talis Bruder, lebt seit dem letzten Jahr in Berlin, wie fast 30 000 andere Israelis.

Telefonate, Grund für die Verspätung: ein vergessener Rucksack im Zug. Alles klärte sich schließlich auf, das Willkommensessen konnte starten. Babylonisches Sprachengewirr am Tisch. Joanna, Yoavs Freundin, er hat sie vor einigen Monaten in Berlin kennengelernt, sie ist schon seit einigen Tagen in Tel Aviv und stammt aus Portugal, die israelischen Gastgeber in Handballmannschaftstärke und wir vier Deutsche. Englisch, Hebräisch, Deutsch, Lachen, Handyfilmchen zeigen ... willkommen im Klub! Und Michael, ganz Patriarch der Familie saß an der Stirnseite und lächelte.

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Bild 3: Kochav ha Tzafon - nicht aus gigantischen LEGO-Bausteinen entstanden

Dann, nach der Übergabe unserer Gastgeschenke, gemeinsamer Beschluss: Ab ans Meer, die Temperatur jetzt erträglich, auch spielte eine angesagte israelische Band im alten Hafen: Hadag Nahash, israelischer Hip-Hop mit Jazzanklängen, wie mir Tali sagte. Die Band soll auch in Europa in der Szene erfolgreich sein. Halb Tel Aviv schien auf den Beinen zu sein, um die Band zu hören.

Der Straßenverkehr auf der Ibn Gabirol wie zum Feierabend, am Yarkon entlang, einige Drachenboote lagen auf Kiel - ach ja, den Sport haben wir viele Jahre gepflegt, ich würde gerne sehen, wie man hier sticht. Üppiges Grün entlang des Flusses. In den kühleren Abendstunden geben dünne Plastikschläuche tropfenweise Wasser für den gestressten Rasen ab. Hier herrscht kein Wassermangel. Das Patent für diese sparsame Bewässerung ist israelisch.

Mit der Besetzung der West Bank 1967 hat sich Israel einige wichtige Wasserressourcen gesichert: die Jordanquellen, der See Genezareth, das Westufer des Jordans werden ausgebeutet. Viele Brunnen entstanden in den besetzten Gebieten, die aber hauptsächlich von den Israelis genutzt werden. Mein allwissender Baedeker teilte mir auf dem Hinflug folgende Daten mit: Pro Person und Tag verbrauchen Israelis 280 Liter, Palästinenser lediglich 70 Liter. Mit den Waschgewohnheiten der verschiedenen ethnischen Gruppen wird dies nichts zu tun haben. Allerdings wird in der Westbank auch Wasser schwarz entnommen. Verschmutzung und Versalzung der Reservoirs, steigende Einwohnerzahlen und der Klimawandel sorgen für wachsende Probleme. Neue Brunnen werden geschaffen, das Wasser entzogen, wachsende Trockenheit. Blühende Parks in Tel Aviv, trockene Felder in Palästina und Jordanien. 2007 begann eine fünfjährige Dürre mit biblischen Ausmaßen, die die verantwortlichen Stellen in Israel nach neuen Lösungen suchen ließ. Inzwischen werden 86 Prozent des Abwassers für die Landwirtschaft genutzt. Israel ist darin deutlich Vorreiter, denn Platz zwei hat Spanien mit lediglich 17 Prozent. Über 50 Prozent des Trinkwassers wird aus recyceltem Wasser und durch vier große Meerwasserentsalzungsanlagen gewonnen. Die anfangs als Energiefresser verschrienen Anlagen sind inzwischen, dank neuer Technologien, weitaus effizienter.

Das alte Hafenviertel nahm uns auf. Jetzt Flanier-, Shopping- und Fressmeile. Die Speicher renoviert, haben ihren ursprünglichen Charakter behalten. Die Band in Hochform, das Publikum ging mit, wir nicht so, sind Nordleute, brauchen eine Weile. Kinder, Jugendliche, alte Herrschaften, die jetzt halbwegs gemäßigte Temperatur schien alle hinter den Ofen (den hier niemand hat) hervorzulocken. Ich habe nicht einen orthodoxen Juden gesehen. Die Frauen freizügig gekleidet. Alle wirken in der Mode sehr europäisch. Menschen, wie du und ich ... Da ist einmal wieder ein Vorurteil von mir abgefallen. Wir zogen weiter und fanden eine Strandbar, Stühle und Tische im Sand, das Mittelmeer nur einige zig Meter entfernt, die Luft angenehm, und ich testete das Wasser mit den Füßen: Badewannentemperatur ... wenn ich da an die Ostseetemperaturen in Estland im Sommer denke ...  und das einheimische Bier.

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Bild 4: Ausklang in der Strandbar.

Spät sanken wir ins Bett. Die Zimmertemperatur oben unterm Dach heiß wie in der Hölle.

Klimaanlage an, auf 23 Grad. Gefühlte zehn Grad, nach einer Weile wieder aus, da sie laut ist und wir froren. Gefühlte zwei Minuten später wieder eine Höllentemperatur, an Schlaf nicht zu denken, also wieder an ... nach etlichen Spielrunden fand ich irgendwann am frühen Morgen meinen Schlaf.

 

Heute unsere erste Expedition nach Tel Aviv-City und Jaffa oder Yafo, wie die Israelis sagen. Für mich ist es immer noch Jaffa, der gleichnamigen Apfelsinen wegen, die in den Weihnachtspaketen meiner Düsseldorfer Tante lagen und den Weihnachtsduft verbreiteten. Nur einmal nicht, da hatte ein neidischer Zöllner eine zerdrückt.

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Bild 5: Ordnung muss sein

Der erste Eindruck von Tel Aviv, jedenfalls von den Vierteln, die wir heute gesehen haben:

Architektur der letzten 90 Jahre, wie man sie auch in europäischen Städten findet. Am Vormittag mit dem Bus nach Jaffa, davor strammer Fußmarsch entlang der Ibn Gabirol, eine Hauptstraße die in die Innenstadt Tel Avivs führt. Auffallend wieder das viele Grün: Dattelpalmen, die in Reihe gepflanzt, die vierspurige Straße teilen, Ficusarten, mit dreißig, vierzig Zentimeter Stammdurchmesser, bei uns als spindeldürre Bäumchen in den Wintergärten schmachtend, hier erreichen sie mitteleuropäische Laubbaumgröße. Zweckbauten, 30/40 Jahre alt, verputzt, mit den Aggregaten der Klimaanlagen „verschönt", aus den Schläuchen tropft Kondenswasser. Natürlich mir in den Nacken - learning by doing - jetzt passe ich auf.

In den Arkaden Läden und Cafés. Davor Tische und Stühle, schon um diese Zeit gut besetzt. In den Läden Schuster, Schneider, Bistros, Handyshops. In Israel scheint es noch die alte Ladenkultur zu geben. Orte, an denen man nicht nur einkauft, sondern sich auch noch auf einen Plausch zu treffen scheint. Alte Männer sitzen, genießen rauchend ihren Kaffee und lesen Zeitungen, junge Paare, vom Typ mal Mitteleuropäer, Südländer oder arabisch wirkend. Man unterhält sich hebräisch, auch englisch. Viele gut aussehende Frauen, sie haben Rasse. Die Mischung der Völker wird es machen.

Und die Schönheiten wissen ihre Reize zu zeigen, der Anteil an kurzen Röcken und Kleidern schwindelnd hoch, Frauenbeine nicht so verhüllt wie bei uns.

Mit dem Bus in Richtung Jaffa. Die Klimaanlagen so eisig, ein Hammerschlag vor dem Kopf beim Einstieg, ein Polarsturm umweht mich, und ich bin mir sicher, dass ich in den nächsten Minuten zu einem Eisblock gefriere, was dann doch nicht geschieht.

Hochhäuser, Plätze, Kreuzungen, dichter Straßenverkehr, viele Cafés. Das Stadtbild so bunt hinter den Scheiben des Busses. Hannes versucht, uns einige Orte, die draußen vorbeihuschen, zu erklären. Das Buspublikum interessant, wie in jeder Großstadt. Die Sprachen ebenso. Englisch, arabisch, russisch. Hebräisch klingt angenehm, vom Lautbild weich.

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Bild 6-9: Carmel-Markt-Impressionen

Wir kommen nach Jaffa, und das Straßenbild ändert sich. Hier sind die Häuser älter, kleiner. In der Nähe des Carmel-Marktes steigen wir aus, wollen uns etwas später mit Yoni treffen, Talis Freund und Trauzeuge. Wir kennen ihn von der Hochzeit, er wohnt in Jaffa, will mit uns essen gehen. Doch vorher geht es ans Meer und auf den Markt. Arabisch wirkende Häuser, kleine Hinterhöfe, manchmal nur Buden, eine Moschee - dieser Teil Jaffas ist dem Untergang geweiht. Die Besitzer werden unter Druck gesetzt, sollen verkaufen. Die Stadt ist ein Moloch und will wachsen, Bauland ist teuer, das Meer nahe. Einzelne Penthouse-Hochhäuser ragen wie Pfähle in dem über Jahrhunderte gewachsenen Quartier. Wohnungen von Ausländern, die nur wenige Wochen im Jahr genutzt werden. Das Viertel wird zu einem Schlafviertel verkommen. Metropolenprobleme, wie überall auf der Welt. Franzosen, Engländer, Deutsche, Russen, die hier ihr Geld anlegen, einige Wochen Sonne während des fast ganzjährigen israelischen Sommers genießen wollen. Mehr nicht. Die Apartments werden leer stehen, die einzigartige Atmosphäre des Viertels wird verschwinden. Wo werden die alten orientalisch wirkenden Männer sitzen und ihre Wasserpfeifen rauchen, die wir in einem kleinen Hauseingang entdecken? Die alten Häuser sterben, die Moschee wird stehen bleiben. Ein Denkmal inmitten der Moderne, kündend von einer anderen Zeit. Wird sich jemand an sie erinnern? Die Baukräne setzen schon jetzt ein deutliches Zeichen.

Wir finden einen Platz unweit einer steinernen Buhne, hinter uns einige mit gekonntem Graffiti verzierte Ruinen. In wenigen Monaten werden sich hier sicher Hotelhochhäuser recken. Der Sandstrand herrlich fein und böse heiß. Die Reihe der Hotels zieht sich entlang der Strandstraße in den Norden. Urlaubsgefühl kommt auf.

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Bild 10: Die Hotelkette am Strand

 

Die ersten Schwimmzüge im Mittelmeer. Das Wasser zu warm, doch nach wenigen Minuten hat man sich daran gewöhnt. Schöne Wellen, kleine bunte Muscheln am Strand.

Als ich meine Brille wieder aufsetze, verwandeln sie sich in winzige Plastikteilchen. Willkommen - Umweltprobleme des 21. Jahrhunderts!

Ich döse in der Sonne, Hannes und Tali reden über ihren letzten Israelbesuch. Erika und Rike stehen im warmen Meer, genießen das Wetter, den Urlaub und reden über Gott und die Welt.

Neben ihnen ein Schild mit der dreisprachigen Aufschrift, dass man in diesem Gebiet nicht schwimmen soll, da es hier Felsen gibt. Wen kümmert es? Sich einmal nahesein! Unser erster richtiger Familienurlaub seit fast zehn Jahren. Mir fiel es schon gestern auf, wie schön es ist, spontan, ohne über skype oder andere Technik sich miteinander mit den Kindern auszutauschen. Gut, Berlin ist fast um die Ecke. Man ist auch verwöhnt durch die neue Zeit, hätte früher Briefe geschrieben und Tage auf eine Antwort gewartet. Trotzdem, ein Gespräch, die Nähe und Vertrautheit des anderen zu spüren, ist nicht ersetzbar.

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Bild 011: Mutter und Tochter im Gedankenaustausch

Talis Handy reißt mich aus dem Dösen, Yoni ist dran, will wissen, wann wir uns treffen. Treffpunkt ist der nahe Carmel-Markt, wir brechen auf. Ein breites Lächeln im Gesicht, kommt er uns entgegen, für einen Moment denke ich, dass Hannes uns begrüßen will, so ähneln sich beide von weitem. Sogar die Farbe der Shirts ist die selbe.

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Bild 12 und 13: Beim Einkauf auf dem Markt

Das ist der Orient! Auch wenn die T-Shirts am ersten Stand stören. Eine Gasse nimmt uns auf, Menschengewimmel, auf beiden Seiten Stand an Stand, hinter den Tischen Verkäufer, die ihre Waren anpreisen. Sie sind keine Marktschreier, die so arabisch aussehenden Verkäufer, Frauen kann ich nicht entdecken. Sie wissen, ihre Waren haben Qualität, sind etwas Besonderes, wollen das dem Kunden suggerieren. So schreien sie nicht, sie weisen dezent auf ihre ausgestellten Waren. Ein fragender Blick. Ein kleiner Hinweis auf Englisch, denn sie sind Profis, erkennen Touristen sofort, auch wenn sie keinen Rucksack tragen oder schweigen. Hier gibt es alles: Hosen, Hemden, Fisch, CDs, Handyhüllen, jüdische Accessoires wie Kippa, Menora. Doch dies ist kein reiner Touristenmarkt, auf dem Tinnef (auch eines der hebräischen Worte, die wir im Deutschen benutzen) verkauft wird. Juden mit Kippas und schweren Plastiktüten kommen uns entgegen, Hausfrauen feilschen an den Gemüseständen. Die sind für mich als Nordlandreisenden eine Augenweide. Diese Farben! Granatäpfel, Feigen, Tomaten, die kleinen, so süßen israelischen Bananen, Datteln ... ein Händler bietet mir eine Feige an. Sie schmeckt so anders, so gut. Der nächste Rausch, nicht nur aus Farben. Die Gerüche! Ein Gewürzstand. Das Morgenland ist nahe. Immer mehr Menschen um uns herum, es wird geschoben. Mein Portmonee ist schon in der Vordertasche der Jeans. Man weiß ja nie! Ich will gucken, riechen, sehen, doch die anderen haben Hunger.

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Foto 14: Yoni als Topfgucker

Dann, in einer Nebengasse ein kleines Eckhaus, Yonis Stammlokal. Kälte schlägt uns entgegen. Diese Klimaanlagen! Drei Tische, einige Stühle, ein alter Küchenschrank, an den Wänden Bilder von Nasser, Anwar as-Sadat, Männer mit Fez auf den Köpfen, Familienbilder. Der eine Tisch besetzt, eine kleine Familie, man unterhält sich hebräisch. Neben dem Raum eine kleine Küche, aus der herrliche Gerüche dringen. Eine alte Dame dreht sich um, ihr Gesicht zeigt Spuren vergangener Schönheit, sie begrüßt Yoni herzlich. Er isst hier regelmäßig. Wir werden in die Küche gebeten, spielen Topfgucker, sollen unsere Gerichte zusammenstellen. Der Gast in der Küche, in Deutschland unvorstellbar.

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Bild 15: Hannes und Tali beim Fachsimpeln

Warum? So wird der Koch aus seinem unbekannten Dasein hinter dem Herd entrissen, wird Mensch, Gesprächspartner, ein Bezug zwischen Mahl und Schöpfer und Gast entsteht. Dann warten wir auf unser Essen, erzählen, die alte Dame, sie ist Ägypterin, serviert, scherzt. Wir sitzen in keiner Gaststätte, sondern bei Muttern in der Küche. Und das Essen - unbeschreiblich, eine Premiere für die Geschmacksknospen.

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Bild 16: Bei Muttern in der Küche

 

Der Preis pro Mahlzeit: 50 Schekel, nicht ganz zehn Euro. Und das Wasser ist umsonst. Noch ein kurzes Gespräch. Danach wieder zurück auf den Markt.

An der Ecke einer Gasse ein kleiner Laden, zwei Tische, ein Tresen für die Laufkundschaft, an den Wänden lange Glasröhren mit Kaffeesorten und Regale mit Teedosen.

Tali empfiehlt mir einen Kaffee mit Kardamom. Der erste Schluck, na ja, sehr ungewohnt, der nächste interessant, dann habe ich mich an das etwas strenge Aroma gewöhnt. Er schmeckt. Nach dem Abschied von Yoni, er wird in Jerusalem unser Stadtführer werden, erkunden wir Jaffa.

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Bild 17: Der alte Bahnhof von Jaffa

Erste Etappe, nicht weit vom Strand entfernt: der alte Bahnhof von Jaffa. Ha Tachana, 1892 von den Osmanen mit britischer Hilfe erbaut, als Station der Eisenbahnlinie Jaffa - Tel Aviv - Jerusalem.

Früher brachen von hier die jüdischen Siedler auf, um im Landesinneren schwitzend ihre neuen Existenzen aufzubauen. Jetzt ist auf diesem jahrelang heruntergekommenen Areal eine Kultur- und Shoppingmeile entstanden. In der Umgebung des Gebäudes hatte sich um 1900 die deutsche Templarfamilie Wieland angesiedelt. Die Geschäfte liefen gut, mehrere Fabrikgebäude, eine Villa entstanden. 1940 wurden die Deutschen nach Australien umgesiedelt, die Briten vermuteten, dass sie mit Nazideutschland zusammenarbeiteten.

Wir streifen über das Gelände, einige Boutiquen, Restaurants, die Tische verwaist. Alles sehr neu, restauriert, für meinen Geschmack zu glatt. Etwas Kohlengruß und der Geruch nach getränkten Schwellen gehören hierher.

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Bilder 018 bis 026: Jaffa-Impressionen

Das Quartier von Jaffa nimmt uns auf. Fast Kleinstadtcharakter, ein- bis zweistöckige Häuser mediterran wirkend, Balkone, viel Grün in den Vorgärten, teilweise heruntergekommene Fassaden, die Fassade des „Eden", das erste Kino, 1924 errichtet, schon lange geschlossen. Zwei Katzen lungern auf einer Mauer, strafen mich mit Nichtachtung, als ich sie locke. Sie sind aus Ton. Der wievielte Passant bin ich, der auf sie hereingefallen ist? Etwas weiter eine uralte Trinkhalle, in Kioskgröße. Auch sie hat schon bessere Tage erlebt. Was heißt hier uralt? Kaum eines der Wohngebäude, die sich erhalten haben, ist älter als 100 Jahre.

Die Zeit rennt, wir müssen uns sputen. Heute Abend wollen wir uns mit Anna, Talis Mutter, treffen. Talis Geburtstag ist erst zwei Tage her. Wir wollen feiern, beim Georgier, besser Georgierin, früher ein sehr fleischlastiges Lokal, jetzt vegan und sehr angesagt. Auf dem Rothschild-Boulevard nehmen wir den Bus in Richtung Norden.

In einer „Geo" sah ich ein Bild von 1910. Eine lange Wüstenstraße, links und rechts einige Bretterbuden, inmitten der Sandstraße ein Kiosk. Kein Baum, kein Strauch, nichts, nur Sand, bis auf die paar Bretter. Nur der Name „Tel Aviv", „Frühlingshügel“, für die Vision einer modernen jüdischen Kapitale. Heute ist der Pfad in der Wüste das alte Zentrum Tel Avivs, eine Allee mit Fußweg, gesäumt von zwei Straßen, pulsierender Verkehr, Architektur der dreißiger Jahre bis in die Gegenwart. Baron Rothschild, Kapitalgeber der ersten jüdischen Kolonisten, seine Vision eines funktionierenden Gemeinlebens hat sich erfüllt. Er ist der Namensgeber des Boulevards. Der Kiosk steht übrigens noch, heute wohl das älteste Gebäude der Stadt, an der Ecke zur Herzlstraße.

Am Abend dann das Treffen mit Anna. Ihre Kinder, Schwieger- und Fastschwiegerkinder, wir sind am langen Tisch versammelt. Wir lernen Nadav kennen, den Freund Meravs. Er konnte letztes Jahr nicht zur Hochzeit kommen. Nadav sitzt neben mir, wir verstehen uns sofort, trotz der Sprachprobleme. Und wieder ist dieses gute Gefühl dabei, man versteht sich, auch wenn die Kommunikation auf Englisch etwas holpert, man ist vertraut.