Impressum

Alexander Kröger

Vermisst am Rio Tefé

 

ISBN 978-3-95655-688-3 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1995 im Krögervertrieb Cottbus. Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2010 im Projekte-Verlag Cornelius GmbH, Halle erschien.

 

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1. Kapitel

Jonathan McLand blickte zum ...zigsten Mal über die unzähligen Instrumente. Das war Routine, Routine aus Hunderttausenden Flugmeilen. Freilich würde der Bordcomputer, eine Art geheime Wundermaschine mit unvorstellbaren Eigenschaften - wie man auf dem Lehrgang hörte -, jede Unregelmäßigkeit sofort optisch und akustisch signalisieren, aber Jonathan McLand frönte der altmodischen Ansicht, der Mensch mit seinen Sinnen, sofern sie intakt sind, sei das Maß aller Dinge.

Seit 20 Minuten befand er sich mit seinem, wie er überzeugt war, mehr als fabelhaften Flugzeug - weshalb überhaupt noch diese Testflüge! - im Bereich des Satelliten MC 17, und er würde von diesem betreut werden bis 11 Minuten nach dem Überflug der Grenze, so die gestrenge Instruktion.

Jonathan McLand drückte die Taste - unnötigerweise. Aber er empfand Spaß an der neuartigen Positionsbestimmung. Der Bildschirm zeigte sofort die Karte des Überfluggebietes - 50 Quadratmeilen - und in der Mitte der Projektion ein stehendes Kreuz, unter dem die Landschaft hinwegfloss. Willkürlich veränderte Jonathan den Maßstab, überblendete die Landkarte mit der Momentan-Luftaufnahme, und er freute sich, als er die im Grunde unvermeidlichen Abweichungen entdeckte, die dem Kartografen unterlaufen oder der Generalisierung geschuldet waren. Im 30-Sekundentakt blendete der Satellit die augenblicklichen Standortkoordinaten des Flugzeuges ein.

>Angeblich, so der Volksmund, verrinnt die zweite Hälfte einer Unternehmung scheinbar schneller als die erste.< McLand hatte mit einem Blick zur Uhr festgestellt, dass er diesen ersten Teil des Testfluges hinter sich gebracht hatte; der Kurs verlief genau ostwärts, er würde sich nach weiteren 120 Meilen nach Nordwesten kehren, diagonal über den Kontinent und, wie stets, auf dem Stützpunkt enden - Dutzende Mal vollzogen! Längst hätte man die Erprobung absetzen können. Selten war ein Prototyp eines Flugzeuges, ach was, Flugzeug, eines Wunderwerkes, so gelungen wie der dieser Fee!

Liebevoll strich Jonathan über den Steuerknüppel, dem vom Autopiloten sanfte, kaum merkliche Regungen diktiert wurden.

>Fee! Da haben sich die Jungs - vielleicht als Geschenk für mich - einen schönen und endlich einmal treffenden Spitznamen ausgedacht: Fliegt leise, langsam und schnell, sieht, spürt alles, kann Bösewichter strafen - tja und, im übertragenen Sinne, auch Gutes stiften. Ganz wie meine Fee. Nur fliegen kann diese nicht. Dafür hat die fliegende längst nicht so eine Figur wie meine Felizitas. Obwohl, sehen lassen kann sie sich unter Ihresgleichen allemal.<

Jonathan lächelte. >Welch absurde Gedanken einen heimsuchen, einsam in dieser Langeweile.<

Er blickte wieder über die Instrumente. 21 000 Fuß. Flach wie ein grüner Noppenteppich lag das Land unter ihm. Und der Einschnitt im Norden, der Vater aller Ströme, der Amazonas ...

Sehr langsam wanderte das Bild. Wie Wattebäusche standen da und dort Dunstschwaden in Niederungen, bildeten lose geknüpfte Züge. Nur selten blitzte es dazwischen auf: Wasser. Die unzähligen Flüsse, die dem großen Strom zueilten ...

Plötzlich fiel Jonathan aus seinem seichten Denken. Der Schnarrton machte ihn nachdrücklich darauf aufmerksam, dass das Flugzeug von einem Radarfächer getroffen worden war.

»Na, da wollen wir«, er verzog geringschätzig den Mund und übernahm das Steuer, wie es Programm und Instruktion vorsahen.

Im Steilflug zog er die Maschine nach unten, dem unübersehbaren grünen Meer vor dem Cockpit entgegen. >Nichts da! Es wird auf euren Schirmen der grüne Punkt nicht aufleuchten. Fee hat euch entdeckt, noch lange bevor ihr einen Schimmer von ihrer Anwesenheit hattet. Sie wird über eurem Riesenland fliegen, heimlich, könnte, was sie nicht macht weil wir befreundet sind, fotografieren was beliebt, könnte Leute absetzen - da müsste ich welche mit haben, könnte ... Nein, wir führen nichts im Schilde, wir testen unser Flugzeug live. Solltet ihr mich entdecken, was Gott verhüten möge, meine Güte, es ließe sich bestimmt regeln. Aber ihr werdet es nicht!<

Jonathan fing die Maschine dicht über den Wipfeln ab, freute sich ein weiteres Mal, wie leicht der schwere Vogel reagierte. Er schaltete den Autopiloten ein, und die Maschine zog nun in 600 Fuß Höhe über dem Mato erneut sturen Kurs ostwärts. Der Schnarrton hatte sich nicht wieder hören lassen.

>Noch vier Stunden.< Jonathan versuchte, im Sessel eine noch bequemere Haltung einzunehmen, und er begann sich auszumalen, wie er den Kurzurlaub, der ihm nach dem langen Flug zustand, verbringen würde. Nein, die undichte Stelle im Dach des Hauses würde er abermals nicht reparieren. >Ich werde Fee überreden, endlich den Kanutrip, den sie mir lange versprochen hat, wahr zu machen. Wir könnten meinetwegen die Tanners mitnehmen, macht vielleicht mehr Spaß zu viert. Sind sympathische Nachbarn, Glück gehabt mit ihnen. Das Schleppen der Boote um die Stromschnellen fiele auch leichter.

Ah, dort prasselt ein Tropenregen nieder! Imposant, die Wolkenberge, wie aus dem Nichts gekommene

Rechts aus dem Horizont hatte sich, gleichsam aus dem Urwald aufsteigend, eine mächtige schwarze Wand herausgetürmt, in der unaufhörlich Blitze zuckten und deren Ränder in den blauen Himmel hineinfransten.

McLand korrigierte leicht den Kurs. Er flog nun parallel zum Gewitter, war überzeugt, es nach wenigen Minuten hinter sich zu haben und wieder in seine Linie einschwenken zu können. Ein Zeitverlust von vielleicht drei Minuten.

Da ging das rhythmische Heulen los.

»Verdammt!« Schnell legte Jonathan den Schalter des Radar- Sichtgerätes um. Drei grüne Punkte standen mittig auf dem Schirm. Also kamen drei Flugzeuge entgegen und beinahe auf seinem Kurs. »Machen es wohl wie ich, umgehen das Unwetter. Ha, sie haben aber keine Fee!« Jonathan griff fester in das Steuer. »Nützt nichts, Mädchen, da verschwinden wir halt, lassen uns ein wenig durchschütteln und nassregnen, macht uns doch nichts aus, was? Aber weißt du, am Ende verlieren die noch die Nerven, wenn sie deiner plötzlich ansichtig werden - unangekündigt, und - so etwas haben die noch nicht gesehen. Letztlich denken die vielleicht, du willst ihnen was. Also komm, dreh’ ab, hinein in den Brei, noch ein Stückchen tiefer, dann sind wir garantiert unter deren Radar!«

In aller Ruhe führte Jonathan das leichte Manöver aus. Nach einem leichten Bogen strebte die Maschine gehorsam der Wetterfront zu.

Visuell waren die drei Flugzeuge nicht auszumachen, und Jonathan war sich sicher, dass man ihn noch nicht erspürt hatte. >Da müssten sie ein ähnliches Fernradar-System haben, und das ist mehr als unwahrscheinlich.<

Dann tauchte das Flugzeug in den Brodem. Es prasselte und rauschte, Turbulenzen ließen den zarten Flugkörper erbeben.

Der Pilot schaltete, wie ihm die Anzeige empfahl, auf Blindflug.

Auf dem Bildschirm beobachtete Jonathan, wie die drei grünen Punkte zu einer Jägerkette anwuchsen, sich alsbald an der Stelle befanden, an welcher er vor wenigen Minuten rechtwinklig zu seinem ursprünglichen Kurs abgewichen war. Und die drei zogen stur ihre Bahn.

»Na bitte!«, murmelte Jonathan befriedigt. Und er leitete von Hand die Wende ein, die ihn auf die alte Route zurückbringen würde.

Plötzlich schrillte die Gefahrenglocke auf. Gleichzeitig riss der Sicherheits-Controler Jonathan das Steuer aus der Hand, im Versuch, die Maschine steil nach oben zu zwingen. Auf dem Vorausbildschirm wuchs rasend schnell schemenhaft Dunkles auf das Flugzeug zu.

Jonathan McLand spürte noch das splitternde Bersten. Aber, ein Reflex, da hatte er bereits den Schleudersitz aktiviert ...

2. Kapitel

»Achtung!« Langgezogen und laut schallte der Ruf durch den Wald. Einige Männer in lädierter Arbeitskleidung traten aus dem Dickicht und eilten die Schneise zurück. Das Gekreische einer Motorsäge verstummte.

Dort, wo die Gasse bereits an die zehn Meter breit und bis auf den rotlehmigen Boden beräumt war, sammelten sich die Leute, tauschten Bemerkungen aus, brannten sich Zigaretten an. Manche wischten das schweißnasse Gesicht, tranken aus Korbkrügen.

»Achtung!« - Der gleiche Ruf in eine plötzlich entstandene Stille hinein.

Entfernt krächzte ein Vogel.

Wenige Sekunden lang heulte noch einmal volltourig, dort, wo auch der Ruf hergekommen war, eine Säge auf. Dann wurde es abermals still, scheinbar stiller als vordem, als hielte die Natur den Atem an. Auch der Vogel ließ sich nicht mehr vernehmen.

Die Männer standen und schauten nach vorn, dorthin, wo sich die Schneise in den Regenwald fraß. Sie schienen in ihren Verrichtungen erstarrt.

Eine kleine Weile hielt die unwirkliche Stille an. Dann setzte ein Rauschen ein, als begänne hoch oben - nicht sichtbar - in der dichten Pflanzendecke auf kleinstem Raum ein Wind zu wirbeln. In Sekundenschnelle verstärkte sich das Geräusch, steigerte sich zum Tosen, hinein mischten sich schussartiges Bersten, Splittern, Krachen, dazwischen ein Sirren, als schnellten Pfeile von Bögen, als rissen Saiten von Riesengeigen.

Dann ein Schlag, dumpf, endgültig.

Doch noch eine Weile hielt Getöse an. Zunächst verstummten das Krachen und Splittern, dann das Rauschen.

Plötzlich ringsum ein Gezeter von Hunderten Vogelstimmen, ohrenbetäubend schrill, und man nahm wahr, wie sich die Tiere in Panik entfernten. Es wurde erneut still.

Von oben begann es zu rieseln: Blätter, Blütenfetzen, Dornen, Teile von Zweigen und - Insekten.

Es kam wieder Leben in die Gruppe der Männer. Sie schlugen um sich, streiften Kleingetier und Pflanzenstücke von ihren Körpern, und mancher Fluch wurde laut, wenn man nicht schnell genug war und Insekten zubissen oder stachen, Dornen die Haut ritzten oder Blätter an den schweißnassen Leibern kleben blieben.

Der Motor des Bulldozers, der einige Dutzend Meter im Hinterland stand, pfoffelte los, das Fahrzeug kam näher, schob sich auf Haufen von Ästen und Unterholz, die sich vor ihm, bevor die unberührte Front des Mato begann, emportürmten.

Doch dann wurde die Maschine abrupt in den Leerlauf geschaltet und Marko, der Sohn des Padron, sprang ab, sichtlich wütend, und er schrie gegen das Gestrüpp: »Ihr Blödmänner, könnt ihr denn nicht aufpassen! Ihr Ochsen sollt die Bäume in Arbeitsrichtung schmeißen, verdammt nochmal! Begreift ihr Rindviecher denn nicht, dass ihr beim Vorrücken dann nur halbe Arbeit habt und beim Ausästen?«

Vorn aus den Büschen krochen zwei Männer, sie trugen gemeinsam eine schwere Motorsäge. Offensichtlich galt ihnen die Tirade. Sie blieben ohne die geringste Verteidigungsgeste in einer devoten Haltung stehen, blickten zu Boden.

Der Sohn des Chefs hatte sich noch nicht beruhigt. »Das arbeitet ihr mir nach!« Während er das rief, wendete er den Kopf zu der hinter ihm stehenden Gruppe. »Bedankt euch bei denen.« Er hob lässig die Hand und wies auf die beiden Männer, die noch immer die Säge zwischen sich hielten und ihre Haltung nicht verändert hatten.

Marko schwang sich wütend in die Maschine, gab Gas und steuerte auf die Stelle zu, wo die helle, fast zwei Meter durchmessende Schnittstelle des gefällten Urwaldriesen durch das Buschwerk schimmerte.

Doch da geschah etwas seltsam Schreckliches:

Aus dem Gestrüpp, seitlich vom Bulldozer, blitzten zwei blaue Strahlen. Sie zeichneten in der noch immer mit Schwebepartikeln durchsetzten Luft zwei feine, flirrende Linien. Eine drang funkenstiebend in das Fahrerhaus, drin ein erstickter Schrei ...

Der zweite Strahl sägte durch die wie erstarrt stehende Gruppe der Männer, durchdrang die Körper, zerschnitt sie, brannte Gliedmaßen von den Leibern, ließ Schreie ersterben, noch ehe sie die Lippen passiert hatten.

Zwei, drei Mal senste der Strahl hin und her, dabei den Höhenwinkel um ein Weniges verändernd, erwischte noch die letzten, sich gerade zur Flucht wendenden Männer.

Dann trat in diesem Teil der Schneise Ruhe ein. Da und dort kräuselten dünne Rauchsäulen, erhob sich ein letztes Stöhnen, Röcheln.

Vorn aber war der zweite Strahl nicht müßig geblieben. Er war blitzschnell vom Bulldozer auf die beiden davor wie erstarrt stehenden Männer geschwenkt, durchtrennte den einen in Hüfthöhe, geriet an die Säge, erzeugte dort eine übermannshohe Funkengarbe, erwischte offenbar die Benzinleitung; denn eine Stichflamme zischte meterweit auf. Der Strahl schwenkte, als könne er seinen Schwung nicht so plötzlich abbremsen, über die Gruppe hinaus. Das und die den Strahl behindernde Säge gaben dem zweiten Mann seine Chance: Entsetzt hechtete er mit einem Salto in das Gebüsch, aus dem er vor wenigen Augenblicken in Demut gekrochen kam.

Aber da war der Strahl bereits wieder heran. Als sei er wütend, bohrte er sich wendelnd in die Hecke hinein, Dampf und Rauch fuhren auf, kleine Flammen züngelten kurzlebig, abgetrennte Zweige stürzten geräuschvoll zu Boden.

Es dauerte noch etliche Sekunden, bis das Sensende sich endgültig beruhigte. Urplötzlich fiel der Strahl in seine Quelle zurück - ein schwarzes Loch im Blattwerk hinterlassend, groß wie ein Garagentor.

Fast gleichzeitig würgte sich der Motor des Bulldozers ab, der führerlos weitergefahren war und an der weißblutenden Schnittfläche des getöteten Urwaldriesen seinen Halt gefunden hatte.

Totenstille herrschte in der frisch geschlagenen Schneise. Lautlos wirbelte der Rauch, sickerte das Blut der Männer in den entblößten, geschundenen Boden.

3. Kapitel

»Danke fürs Mitnehmen!«, Manuela sprang leichtfüßig in den Staub. Unter den Sandalen pufften kleine Wölkchen hervor.

Das Mädchen beugte sich über den Sitz und drückte Miguel, dem Dorfpolizisten, einen Kuss auf die stachlige Wange. Als der sie packen und den Vorgang offenbar wiederholen, wenn nicht gar intensivieren wollte, zog sich Manuela gewandt zurück. Sie lachte, ergriff die Umhängetasche, drehte sich jäh zum Gehen, dass ihr volles Haar wie eine Krinoline tanzte.

»Geizkragen!«, rief ihr der Gesetzeshüter hinterher. »Wenn du nichts anderes gefunden hast, kannst mit mir zurückfahren, gegen fünf ...«

Manuela wandte den Kopf nur halb, verzögerte den forschen Schritt um ein weniges, hob die Hand, »Okay!«

»Ferkel!«, rief sie dem Jeep hinterher, der sie, von Miguel angeberisch mit Vollgas angetrieben, in eine undurchsichtige Wolke gelben Staubes hüllte. Sie spuckte aus, weil es zwischen den Zähnen knirschte. >Wenn ich mit ihm zurückfahre, wird er mehr von mir wollen, der Frechdachs. Und was schadet es? Lässt man eine wie mich wochenlang auf dem Trockenen?<

Manuela klopfte den Staub von den Schultern, dann verlangsamte sie den Vorgang, ihre Hand umfasste die Brust, umschmeichelte sie einen Augenblick, fuhr dann, wie entdeckt, im Staubklopfen fort. >Manuela lässt man nicht allein! Aber seine Maria kratzt mir die Augen aus, wenn ich mit Miguel etwas anfange. Na, sie müsste es ja nicht gerade erfahren ...<

Es ging stark auf Mittag zu. Die Sonne stand beinahe im Zenit, und es war, als müsse sie den kleinsten Winkel der Hauptstraße von Conquista ausleuchten und ansengen. Die wenigen Autos, die am Straßenrand parkten, warfen den Schatten genau unter sich. Einen einzigen Menschen, eine alte Frau ganz in Schwarz, sah Manuela in der Ferne, bevor sie in die Nebenstraße bog, an deren Ende sie die Polizeistation wusste.

Sie erreichte das kleine, ehemals weiße Haus, dessen Fenster vergittert waren. Und sie hatte den Eindruck, auch hier existiere keine Menschenseele.

Einen Augenblick verspürte Manuela etwas von dem Ärger, der sie befallen würde, hätte sie sich den Weg umsonst gemacht. Aber sie wusste um die Gepflogenheiten in Polizeistationen, zumindest in jenen in ihrer Region. Man würde sitzen, Limonade oder auch Gehaltvolleres trinken oder dösen. Gab es etwas zu tun, würde dieses den Abendstunden vorbehalten bleiben, dann wenn die niedrigen Häuser die Straße überschatten, die Leute aus ihren kühlenden Behausungen krochen und eigentlich erst zu leben begannen.

Manuela wusste auch, dass sie zu dieser Tageszeit mit ihrem Anliegen ungelegen kommen würde. Aber was soll’s, man muss die Gelegenheit nehmen, wie sie kommt. Und die Gelegenheit hieß heute eben Miguel.

Einige Hühner gackerten aufgestört, als Manuela die wenigen Stufen zum Eingang hinaufstieg. Die Tiere verließen ungehalten ihre Staubkuhlen, die sich, geschützt vor der sengenden Sonne, im Schatten der Treppe befanden.

Manuela durchdrang den klappernden Perlenvorhang, und noch bevor sich ihre Augen auf das Dämmerlicht im Raum eingestellt hatten, wurde sie überraschenderweise angesprochen. »Sie wünschen?«

»Guten Tag«, grüßte Manuela ein wenig verunsichert in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, wo sie dann langsam, hinter einem Schreibtisch, die Konturen eines massigen Menschen in Uniform ausmachen konnte.

»Guten Tag!«, entgegnete der Mann phlegmatisch, dennoch richtete er sich hinter seinem Möbel ein wenig auf.

Manuela konnte nun erkennen, dass zwischen einigen Stapeln von Papier, einer Schreibmaschine älteren Modells und einem Telefon ein Steckschachspiel lag, mit dem sich der Ordnungshüter wohl gerade befasst hatte; denn sein bedauernder Blick verriet, dass er sich wohl nur ungern aus einer gedanklichen Zugfolge löste, die den doppelgängerischen Gegner womöglich in Bedrängnis gebracht hätte. »Sie wünschen?«, wiederholte er - bereits versöhnlicher, wahrscheinlich, weil er in seinem Gegenüber die hübsche junge Frau entdeckt hatte.

»Also - mein Name ist Manuela Gracca, Tochter des Augustino Gracca, der gestorben ist. Ich wohne in Emparrado Nummer siebzehn und möchte eine - Vermisstenanzeige aufgeben.« Manuela setzte sich auf die Kante eines geschwungenen Stuhls, der vor dem Schreibtisch stand und keinen vertrauenserweckenden Eindruck machte. Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Ausweis.

»Aus Emparrado, so so. Eine Vermisstenanzeige sagen Sie ...« Er lehnte sich zurück. Schon aus dem Tonfall seiner Worte glaubte Manuela zu erkennen, wie ernst wohl ihr Anliegen genommen werden würde.

»Wer - wer ist es denn, ich meine, wen vermissen Sie in Emparrado?«

»Meinen Mann.«

»Ah, der Ehemann!« Schwang da etwas wie Belustigung in seiner Bemerkung mit?

Manuela blickte auf. Sie fand den Ausweis nicht. Deswegen und auf Grund des Tonfalls stieg Ärger in ihr auf. >Was bildet der Kerl sich ein!<

Der Beamte gab sich einen Ruck. Er fragte sachlicher: »Wie lange ist es her?«

»Drei Wochen.«

Er runzelte die Stirn. »Hören Sie, junge Frau ...«

Erst jetzt betrachtete Manuela den Mann hinter dem Schreibtisch näher. Er trug einen kleinen Schnurrbart, schien ziemlich beleibt. Sein Haar war licht, und das gerötete Gesicht, die dazu passende Nase, deuteten darauf hin, dass er womöglich gern ins Glas sah. Ein Mittfünfziger vielleicht, und eigentlich wohl mehr ein gutmütiger Typ.

»Drei Wochen sind doch keine Zeit!« Er schob ein Formular, das er zunächst an sich herangezogen hatte, wieder von sich. »Was hatte er denn vor, Ihr Mann, wie ist er ab... Unter welchen Umständen kam sein Fernbleiben zustande?«

»Nüsse ...« Manuela zögerte, sie war dankbar, dass die Jalousine nur mäßig Licht in den Raum ließ. Am Ende würde sie vielleicht ob der Lüge rot werden. »Paranüsse sammeln. Sie wissen ...«, die Frau wurde eifrig, »bis Weihnachten ist es nicht mehr weit, und wir brauchen jeden Centavo. Ernesto hat keine Arbeit.«

»Na, da wird er wohl noch nicht genügend gefunden haben. Er ist schließlich nicht der einzige Sammler. Man läuft und läuft, verläuft sich gelegentlich.«

»Nein«, rief Manuela. Sie erkannte das Missverständnis. »Aufgebrochen ist er Mitte Oktober. Zurücksein wollte er vor drei Wochen. Sonst konnte man sich auf ihn verlassen. Er ist nicht so einer ...«

»So«, der Mann runzelte abermals die Stirn, überdachte den neuen Umstand. »Trotzdem - Sie kennen den Dschungel, wissen wie tückisch er sein kann. Eine Verletzung, gründlich verlaufen, manchmal trifft man auch Freunde, bei denen man sich eine Weile aufhält ... ja, ja!« Er wehrte mit einer Handbewegung ihren Protest ab. »Selbst Leute, die Jahrzehnte hier verbringen und meinen, sich auszukennen, haben sich schon hoffnungslos verirrt. Nach Monaten sind sie unversehrt, oft mit guter Beute, wieder aufgetaucht. Sie machen sich unnötige Sorgen.«

»Etliche sind nicht wiedergekommen.«

»Junge Frau, Sie wissen wie ich ...« Er setzte neu an. »Wenn manche nicht wiedergekommen sind ... - Man muss nicht immer gleich das Schlimmste befürchten. Sehen Sie, Sie sind zwar eine hübsche Frau, aber weiß man denn, was in einem solchen Männerschädel ...«, er lächelte vielsagend, »manchmal so vor sich geht? Emparrado ist auch nicht gerade ein Paradies der Kurzweile - entschuldigen Sie ... Hatten Sie vielleicht Streit? War er allein? Wissen Sie, ob er tatsächlich in den Nüssen ist? Und warum sollte er ausgerechnet vor drei Wochen zurück sein? Gibt es einen wichtigen Grund dafür? Ist er womöglich doch zu Freunden - oder einer Freundin? Ich sagte schon, Männer! Man erlebt hier allerhand, junge Frau.«

»So einer ist Ernesto nicht!«

»Das behaupten die meisten«, knurrte der Polizist.

Manuela hatte ihren Protest heftig hervorgestoßen. >Wirklich? Ein Kostverächter ist er gewiss auch nicht. Die Hand für ihn ins Feuer legen?< Innerlich wiegte Manuela den Kopf im Zweifel. >Aber in diesem Fall liegt das anders, nur, das brauche ich dem nicht auf die Nase zu binden, auch nicht, dass er nicht in den Nüssen ist, sondern im - Holz. Das darf der gar nicht wissen.< Manuela beruhigte sich. Gefasst schilderte sie: »Er wollte pünktlich zurück sein wegen einer Verabredung. Von - einem Freund sollte er ein Auto bekommen, das dieser bis zu diesem Zeitpunkt reservieren wollte. Ein günstiges Angebot, etwas Teures können wir uns nicht leisten. Auf ein Auto ist Ernesto schon lange scharf, den Termin hätte er auf keinem Fall verbummelt, er wäre auch mit weniger - Nüssen zurück gekommen.«

»Hm«, der Commissario rieb sich den Schnurrbart. Offensichtlich leuchteten ihre Argumente ein. Er zog das Formular wieder an sich. »War er allein?«

Die Frage hatte Manuela lange erwartet. »Ja«, log sie. >Dass sich Ernesto das gute Geld nur mit Gleichgesinnten verdienen konnte, geht den nichts an. Niemand wird hier angeschwärzt, die Kumpels nicht, der Padron nicht, das ganze Unternehmen nicht. Waldeinschlag für eine Urwaldstraße und für’s Holzgeschäft, nicht genehmigt, versteht sich. Zweimal war Ähnliches schon geglückt, und gut hat er dabei verdient. Und außerdem noch etliche Kilo Nüsse mitgebracht, also ist das nicht gelogen. Vielleicht bringt er sogar wieder welche mit. Der Commissario würde mich nach den Freunden fragen und nicht glauben, dass ich sie nicht kenne. Denkbar aber, dass ihm einige nicht fremd sind. Sie sollen ihn suchen, nicht nach ihm fahnden.<

»Wo, in welcher Gegend ungefähr ihr Ernesto Nüsse suchen wollte, wissen Sie nicht?«

»Er ist mit dem Boot bis zum Rio Concordia gefahren und hat von einem Nebenfluss des Jurua gesprochen.«

»Liebe Frau ...«

>Ich bin nicht seine liebe Frau, verdammt noch mal!<

»... können Sie mir sagen, wie wir dort einen einzelnen Menschen suchen, geschweige denn finden sollen. Haben Sie gar keine Anhaltspunkte? Ist er vielleicht ins - Holz, hm?«

»Nein! Aber Sie können ja nachforschen, vielleicht hat er sich doch jemandem angeschlossen; Sie sind die Polizei!« Manuela Gracca erregte sich. Sie begann zu glauben, man wolle den Fall gar nicht zur Kenntnis nehmen, Ernesto am Ende nicht suchen. Einen Augenblick wurde es ihr siedendheiß, als sie daran dachte, vielleicht in Emparrado zu versauern, allein mit den alten Leuten. Wer im Dorf gäbe sich mit einer Alleinstehenden, deren Mann verschwunden ist, offiziell schon ab. Wenn Ernesto auch ein wenig windhündisch war, immerhin hatte er ihr Hoffnung gegeben, dass sich dieses triste Leben noch einmal zum Besseren wenden könnte. >Das Auto wäre ein Anfang gewesen. Nein, sie müssen ihn suchen, auch wenn dabei herauskommt, dass er im Holz ist. Er könnte ja tatsächlich in einem Krankenhaus sein. Wie schnell passiert ein Unfall. Und wenn er bei einer Nutte ist ... Aber wiederkommen muss er, ich hole ihn auch selber.< - »Commissario, Sie müssen helfen, Sie müssen Ernesto suchen. Hier, hier habe ich ein Foto. Einen rosa Strohhut hatte er auf ...« Es sprach Verzweiflung aus Manuelas Gesicht.

Der Commissario zuckte mit den Schultern, nahm das Foto, betrachtete es einen Augenblick, beugte sich über das Papier. »Name?«, fragte er amtlich, und er begann das Formular auszufüllen.

4. Kapitel

Dolores Sendela trank den letzen, kalt gewordenen Schluck ihres tuscheschwarzen Kaffees, langte, fingerte nach einer Zigarette im Fach unter der Schreibtischplatte, suchte nach dem Streichholzbrief, den sie klemmend zwischen Monitor und Prozessor ihres Computers fand, brannte sich das Stäbchen an, drückte es aber sogleich in der Bodenvertiefung einer Cola-Dose wieder aus. >Wie hat er gesagt, dieser Gringo, dieser freche, sympathische? Wenn ein Nichtraucher eine Raucherin küsst, sei es, als schlecke man einen Aschenbecher aus. So ein Miesling! Aber sein muss die Raucherei wohl nicht; vielleicht komme ich dieses Mal davon ab.< Sie lächelte sarkastisch, als sie an einige davor liegende gleichgeartete Versuche dachte, ergebnislose. >Mit meinen, na, höchstens zehn Zigaretten pro Tag bin ich noch längst kein Aschenbecher, und - ist er es überhaupt wert, dieser Mensch, dass man seinetwegen auf einen, und wenn auch zweifelhaften, Genuss verzichtet? Ach, er ist ein Leichtfuß, gewiss. Aber ein angenehmer. Geht mir nichts, dir nichts aufs Ganze - drängend, nicht aufdringlich! aber besitzergreifend - und, ein Ausbund von Zärtlichkeit ... Sicher war es falsch, ihn gleich zu mir einzuladen. Für ihn wohl eindeutig ...

Was wäre ich für ein Schaf gewesen, es nicht zu tun!<

Selbst in der Erinnerung an den vergangenen Abend überrieselte Dolores ein Abglanz jener wohligen Schauer, die seine Hände durch ihren Körper gezaubert hatten.

Sie seufzte, warf einen entsagenden Blick auf die zerdrückte Zigarette, und sie griff nach der Post.

>Mal sehen, ob er sein Versprechen, mich zum Feierabend abzuholen, wahr macht. Schlecht wär‘s nicht. <

Dolores zog die Brauen hoch. >Du wirst dich doch nicht verlieben in den Kerl! Ein Windhund ohne Woher und Wohin. Der wird verschwinden, wie er aufgetaucht ist. Wer außer einem Dummerchen würde schon so einem glauben, und wenn er hundert Mal beteuert, es sei Liebe auf den ersten Blick - wie abgedroschen! Bei keiner anderen hätte er je so empfunden, ha! Am Ende fällst du drauf rein, dumme Pute. Also, Dolores, klaren Kopf behalten und das Angenehme mitnehmen, einfach genießen. Was sonst bliebe einem in diesem Carrhauarie, diesem vor Tristesse triefenden Nest. Was für ein Schwachsinn, hier überhaupt herzukommen, ein solches Angebot anzunehmen!< Dolores Sendela seufzte abermals. >Müßige Gedanken, hundert Mal ohne Ausgang im Kreise gedacht. Zwei Jahre! Der Teufel muss mich geritten haben. Es ist Pepe zu verdanken!

Ach was, wer schon war Pepe! Ein fernes Phantom, ein Spuk. Bin ich wirklich ausschließlich seinetwegen ...? Und warum werde ich diese blöden Gedanken nicht los? Ich brauche nur meine gegenwärtige Situation zu überdenken, und schon fällt mir Pepe ein.<

Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass die Erinnerung an Pepe wohl noch schmerzte, ein bisschen - aber doch. >Wenn ihm die Familie, der Clan, eben wichtiger waren ... Soll er glücklich werden mit dieser Harriet!

Es wäre schon schön, wenn er mich abholte, nachher, dieser freche große Gringo Nat.< Dolores sah zur Uhr. >Mein Gott, noch zweieinhalb Stunden.<

Dolores schlug ziemlich missmutig die Mappe mit den Tageseingängen auf, die der Bürobote schon vor einigen Stunden auf ihrem Schreibtisch abgelegt hatte. Sie sortierte die ihr zugeschriebenen Vorgänge nach den von ihr festgelegten und bewährten zwei Kategorien: In solche, deren Erledigung ihr notwendig, wenn nicht gar dringend erschien und solche, die warten konnten, ja sich vielleicht gar von selbst erledigten.

Allzu viel Vorgänge offenbarte die Mappe an diesem Tage nicht, das stimmte Dolores wieder froher; denn der Feierabend war auf jeden Fall gerettet. Wie stets gab es etliche Kleinanzeigen, Diebstähle, Beleidigungen, Anschuldigungen, oft anonym. Bei Letzteren fiel Dolores die Wahl des Stapels, dem sie sie zuordnete, nicht schwer.

Dann, beim folgenden Vorgang, stutzte sie. Sie hatte den Brief bereits dem weniger bedeutenden Packen zugeordnet, hatte lediglich den Betreff überflogen, eine Vermisstenanzeige, was ist das schon. Routinehaft griff ihre Hand nach dem nächsten Vorgang, als sie das Wort »Tefé« las. >Tef... Tef... Ja, Rio Tefé! Das hatten wir doch schon mal?<

Sie nahm den Brief auf, dem das typische Formular anhing, und begann aufmerksam zu lesen.

Der Text machte sie nachdenklich. >Emparrado - eine kleine Gemeinde, 70, 80 Kilometer flussaufwärts. Ja, freilich!< Plötzlich erinnerte sich Dolores der Motorbootparty und des wider Erwarten guten Kaffees, den sie dort in einem mäßigen Restaurant getrunken hatten - und nicht nur Kaffee. Wenn Joe zu tief ins Glas geschaut hatte, war er nicht zu genießen. Ja, klar, dieses Nest war es! Verdammt armseliges Leben dort, gefangen die Leute in ihrer Not, gehalten von Angst und Hoffnung. >Wie wird die junge Frau nun empfinden, da ihr mit diesem Ernesto wohl das bisschen Hoffen, dieser Strohhalm, abhanden gekommen sein muss ... Oder ein Windhund, dem man keine Träne ... So einer wie dieser Nat. Na, um den wär’s schon irgendwie schade ...<

Wieder traten Augenblicke des vergangenen Abends in Dolores’ Erinnern, und eine Sekunde verspürte sie den Drang, sich dem Körper dieses Gringos entgegenzurecken.

Die junge Frau verscheuchte die Gedanken, überlegte einige Augenblicke, ob sie sich aufraffen und in den Vermisstenakten suchen sollte. Ihr war, als wäre der jetzige nicht der erste Vorgang aus dieser Gegend. Nicht nur von der Bootsparty her erschien ihr der Fluss bekannt. Träge begab sie sich zum Schrank, weil ihr das Pflichtbewusstsein eingab, sie würde wohl dem Amtsleiter melden müssen, wenn sich herausstellte, dass sich die Vorkommnisse auf eine bestimmte Region konzentrierten.

Sie hatte sich nicht geirrt: Vermisst ein junger Wanderarbeiter, ein Waldhüter - besonders tragisch, weil Vater von fünf Kindern, und, Dolores stieß einen Pfeifton aus, ein weiterer einheimischer Nusssammler.

Sie ließ von ihrer ursprünglichen Absicht ab, dem neuen Vorgang einen Merkzettel anzuheften und ihn in die Post des Amtsleiters zu geben, entschloss sich hingegen, den Vorgesetzten sofort telefonisch zu informieren.

Seine Reaktion auf ihren Anruf klang leicht gereizt, und die Antwort empfand sie unbefriedigend. Allein - Dolores sah danach keinen Anlass, einen über den des Chefs hinausgehenden Handlungsbedarf zu entwickeln. Was wäre das schon für ein Ereignis, vier Leute in diesem riesigen Gebiet, und was sie meine, was er nun veranlassen solle. Sie sei Neuling, da sähe man das vielleicht noch anders. Sie möge ein Auge darauf halten. Ginge eine der Routine-Patrouillen in die Region, könne man ja einen Hinweis geben, sich dort einmal umzusehen. Solches solle sie selbstständig veranlassen, versteht sich. Das müsse nicht über den Tisch des Leiters.

Dolores’ Einwand, dass die Anzeigen alle in den zurückliegenden zehn Wochen registriert worden waren, tat er nonchalant ab: Ob sie eine Vorstellung hätte, wie viele Menschen jährlich im Mato verschwänden, über die niemand eine Anzeige mache. Dies hier sei blanker Zufall!

Also heftete Dolores die Vermisstenanzeige der Manuela Gracca aus dem Dorfe Emparrado zu den anderen vier, zog sich die Datei auf den Bildschirm, tippte Ernesto zu den anderen Vermissten, schubste den Ordner in das Regal, klappte die Postmappe zu und wartete endgültig auf den Feierabend.

5. Kapitel

Dolores Sendela wollte es sich selbst nicht eingestehen: Dieser Nat war ihr nicht gleichgültig geblieben. Wäre ihr unterstellt worden, sie sei verliebt, sie hätte es abgestritten. Aber aus welchem Grunde sonst dachte sie täglich mehrfach, insbesondere vor dem Einschlafen, an den Mann? Und obwohl ihr der Verstand dringend abriet, hoffte sie inständig, dieser Gringo möge sein Versprechen wahr machen und sie nach dem großen Coup - wie er jene dubiose Unternehmung großsprecherisch bezeichnete und deretwegen er Carauari verlassen hatte - wieder aufsuchen. Er behauptete nach wie vor, dieses Verhältnis sei anders als andere vorher, sei einmalig.

Darauf gab Dolores freilich nichts. Vielleicht befand er sich an jenem Punkt seines Lebenslaufes, an dem man des Vagabundierens müde ist, sich nach Solidem, nach Beständigkeit, vielleicht auch nur Bequemlichkeit, umtut.

Nunmehr kam Dolores das Leben in Carauari noch trister als vordem an. Sie versah ihren Dienst, mied weitgehend - im Gegensatz zu früher - die drei Gasthäuser, in denen anhanglose Frauen, noch dazu blonde, permanent Objekte für Anbandelungsversuche sind. Ausgemacht hatte ihr das freilich wenig. Zur Frau des einheimischen Amtskollegen, dem das Verkehrsressort unterstand, einer vollschlanken, gutmütigen jungen Person indianischer Abstammung, entwickelten sich zufällig bekanntschaftliche Beziehungen, die mitunter gegenseitige Besuche einschlossen.

Je weiter der Zeitpunkt überschritten war, zu dem Nat zurück sein wollte, desto unruhiger und sorgenvoller wurde Dolores, obwohl sie sich das keineswegs eingestehen wollte. Und es half auch nicht, sich ständig vorzuhalten, er ließe es sich längst in anderen Gefilden wohl ergehen.

Einige Male schon hatte sie den Ordner über die Vermissten aus der Region des Rio Tefé vorgenommen, durchblättert, die Vorgänge gründlich gelesen. Namen und Orte konnte sie schon auswendig. Sie telefonierte mit den Stationen, in denen die Anzeigen aufgenommen worden waren, fragte mehrmals nach, ob sich die betreffenden Personen womöglich wieder eingefunden hätten, und einmal ersuchte sie selbstständig - wie der Herr Chef empfahl - eine nahe dem Gebiet operierende Naturschützer-Gruppe um Obacht, ohne positives Ergebnis.

Als Nat vom großen Coup zu faseln begann und Dolores die dahinter stehende ernste Absicht verspürte, fragte sie ihn natürlich, worum es sich eigentlich handele. Zunächst wollte er mit der Sprache nicht heraus, er hätte Hemmungen, wolle sie, die sie ja Beamtin sei und daher besonders loyal eingestellt sein müsse, nicht belasten, sie nicht in eine Gewissensnot bringen. Schließlich aber gestand er ihr, sich einer Gruppe von Holzfällern anschließen zu wollen, eine äußerst lukrative Unternehmung, die am Rio Tefé operiere, weil man sich gerade dort, des Baumbestandes, aber insbesondere bequemen Transports der Stämme auf dem Fluss wegen, in kurzer Zeit eine reiche Ausbeute verspräche. Bevor die Behörde Wind davon bekäme, wäre das Heu rein.

Natürlich vereinbarte sich solches Wissen nicht mit Dolores’ Dienst. Aber das ließ sie verhältnismäßig kalt. Sie spürte allenthalben, dass die Leute in ihrem Umfeld, vornweg der Amtsleiter, den Eifer wohl nicht erfunden hatten. Und sie fand schnell heraus: Von Neulingen wurde in erster Linie Einfügung, Anpassung erwartet. Freilich, eine Riesenschweinerei, das Holzwildern! Was aber sollte ein Kampf einer Elevin gegen eine Mafia von skrupellosen Geschäftemachern und korrupten Beamten außer persönlichen Ärger wohl einbringen? Als Heldin fühlte sich Dolores nicht. Was ihr aber nach der Offenbarung Nats wieder einfiel, insbesondere bei der Nennung des Rio Tefé, waren die Vermisstenanzeigen. Die Vermutung lag nun sehr nahe, dass es sich samt und sonders um Leute handelte, die zu Gruppen von Holzwilderern gehörten, Habenichtse und Abenteurer, die ein schnelles Geld lockte, das dort wohl, so Nat, zu holen sein sollte. Dass sie zwar die ersten, aber bei weitem kleinsten Verdiener in einer Kette von dubiosen kaltschnäuzigen Händlern und Maklern waren, blieb unwichtig - vor allem dann, wenn in einer ärmlichen Hütte fünf hungrige Kindermäuler gestopft sein wollten oder auch nur die Zaungucker ein Stück vom Kuchen abbekommen wollten.

Natürlich würden die Angehörigen, die die wahren Motive der nun Vermissten kannten, diese den Behörden nicht angeben; schließlich stand die Holzwilderei offiziell unter strenger Strafe.

Nat schlug - was ganz und gar seinem Naturell entsprach - die Warnungen in den Wind. Es sei Zufall, dass sich die Anzeigen gehäuft hätten, ein Argument, das Dolores schon kannte. Ob sie eine Ahnung habe, wie viele Gründe es gab, die Männer zum Verschwinden bewegten, zumal dann, wenn sie Geld zwischen die Finger bekamen? Er könne da manches Beispiel nennen. Und außerdem - dabei ließ er seine Muskeln spielen - müsse der erst geboren werden, der ihm, Nat, im Mato etwas anhaben könne. Schließlich sei er kein heuriger Hase und, sie werde schon sehen, welche Wünsche man sich gemeinsam, ja, er sagte nachdrücklich »gemeinsam«, werde erfüllen können, wenn er zurück sei ...

>Großmaul<, dachte Dolores.

Sie lag in Kleidern auf ihrem Bett, und es war ihr ein weiteres Mal, als müsse ihr jeden Augenblick die Decke auf den Kopf fallen. Sie spürte, sie würde sich für die Zukunft etwas Vernünftiges, Auslastendes vornehmen müssen, das diese lästigen, lähmenden Gedanken an diesen Hallodri überdeckt, wollte sie in diesem penetranten Nest nicht ganz und gar versauern.

Die Treppe herauf mühte sich jemand schweren Schritts.

>Nanu!< Dolores setzte sich auf, knöpfte die Bluse zu, sah zur Uhr. >Wer in drei Teufels Namen ... Nat!< Ein freudiger Schreck durchrieselte sie. >Nie im Leben! Der nimmt die alte Stiege stets gleich zwei, drei Stufen auf einmal.<

Dolores’ Blick ging über den unaufgeräumten Tisch. >Sei’s drum!< Dann beschlich sie Angst. >Es wäre nicht das erste Mal, dass man eine Alleinstehende ...<

Die Schritte verhielten vor der Tür.

Die junge Frau warf sich schnell zum Kopfende des Bettes, entnahm dem Nachttisch die Gaspistole, ihr steter Begleiter, dessen Anwesenheit beruhigte. Bislang aber hatte sie die Waffe nie gebraucht.

Dolores hatte sich noch nicht wieder erhoben, als es klopfte und sich die Tür gleichzeitig öffnete.

Sie benötigte Sekunden des Erkennens, Erschreckens und der Sammlung. »Nat, Nat!« Sie schrie es, außerstande, sich zu rühren.

»Ja, Lola, ich bin es, Nat.« Und was über das verkrustete Gesicht des Mannes lief, sollte wohl ein Lächeln sein.

»Nat, um Himmels Willen, was ist mit dir?« Dolores war aufgestanden, langsam auf den an der Türfüllung Lehnenden zugeschritten. Nahe vor dem Mann musterte sie diesen, offensichtlich noch immer fassungslos, und dann sagte sie, und es klang, als stände sie unter Schock: »Komm doch näher, du wirst Hunger haben.« Doch dann wurde sie lebhaft. »Sag mir, um Himmels Willen, was mit dir passiert ist. Wie siehst du denn aus? Ich hole sofort einen Arzt, komm, setz dich, setz dich erst einmal hierher, wirf die Fetzen ab!«

»Halt, halt!« Der Mann hob müde abwehrend die Hände. »Es ist halb so schlimm, ich bin nur ein wenig erschöpft, wollte schnell zu dir. Ich muss mich nur gründlich waschen. Ja, Hunger habe ich auch. Die paar Kratzer kannst du behandeln, ich brauche keinen Arzt.« Seine Stimme klang rau wie bei einem Anginakranken.

»Was, Madonna, ist passiert, sag, was passiert ist! Aber zieh dich erst einmal aus, dusch dich, ich mach’ schnell was zu Essen. Ich ruf’ doch einen Doktor!« Sie raffte die Kleidungsstücke, die Nat abwarf, und stopfte sie in den Papierkorb. Das Hemd, nunmehr unbestimmter Farbe, hielt sie hoch und rief: »Das ist ja verbrannt! Und die Hose auch. Was haben sie mit dir gemacht!«

Als Nat hinter dem Duschvorhang hervortrat, musterte ihn Dolores kopfschüttelnd. »Ich hole doch einen Arzt! Die Schulter ist entzündet, Mensch, die Wunde muss genäht werden!«

»Ach was, ein bisschen Antiseptika tut’s. Ist nur verdreckt ... ah!« Er verzog schmerzhaft das Gesicht, als Dolores die Wundränder berührte. »Kein Doktor - der würde zu viel wissen wollen, verstehst du?« Nats Blick hatte den Papierkorb erfasst. »Mann!«, rief er. Mit einem Satz befand er sich bei seinen Kleidern, griff in eine der Hosentaschen und zog ein Bündel Geldscheine hervor. Er hielt es empor, wedelte damit und sagte mit Stolz: »Gelohnt hat es sich aber doch. Nur, es sollte der letzte Einsatz sein, der ging in die Binsen. Ich bin abgehau’n, verstehst du, es war schrecklich, unwirklich ...Viele sind wahrscheinlich nicht davon gekommen.«

»Sag schon, was war!« Sie drängte.

»Lola, wenn ich das wüsste - ich weiß, das klingt blöd. Ich kann nicht mehr sagen.« Nat hatte sich, nackt wie er war, aufs Bett gesetzt. Dolores hatte die Reste ihres Abendmahls, die sich noch auf dem Tisch befunden hatten, mit einigen frischen Früchten und einer Wurst ergänzt.

»Es war ein Einsatz wie jeder andere.« Nat öffnete eine Büchse Bier, trank einen großen Schluck, wischte mit dem Handrücken über den Mund. »Vier-, fünfhundert Dollar hätte er noch gebracht.

Es flutschte nur so. Du glaubst gar nicht, was es ausmacht, wenn du vom Schlag aus das Holz gleich abtransportieren kannst. Wir haben die Stämme einzeln geflößt. Hast immer freie Bahn, keinen mühsamen Landtransport ... Ja, was soll ich sagen. Wir hatten gerade einen umgehau’n, Durchmesser mindestens einsdreißig, auch wenn du es schon hundert Mal erlebt hast, es ist immer ein bemerkenswerter Augenblick ... Ich war mit der Motorsäge am Ausästen, ein Stück drin im Gebüsch - wie eben der Baum gefallen war. Das wird wohl mein Glück gewesen sein. Meine Säge hatte sich verklemmt, ich schaltete ab, und gewöhnlich hörst du dann erst den Arbeitslärm um dich herum. Das war auch in dem Augenblick so. Aber es wurde immer ruhiger. Da und dort erstarb eine Säge. Dann gellten Schreie, einzelne erst, Rufe, angstvoll. Plötzlich schrien, brüllten sie um Hilfe. Es hörte sich schrecklich an. Ausgewachsene und, weiß der Himmel, sonst alles andere als zimperliche Kerle brüllten durcheinander wie Rindviecher in einer Feuersbrunst vielleicht. Ja der Vergleich drängte sich mir dort auf, Todesangst, verstehst du? Und ich stand da auf meinem Stamm, konnte nichts sehen, wusste nicht, was los war, hörte das Geschrei, in welches sich ein eigenartiges, beunruhigendes Zischen mischte. Und weißt du, wie schlimm es ist, wenn der Urwald still wird? Kein Vogel, kein Affe, nicht mal ein Insekt, nur dieses widerliche Gezischle, näher und ferner - bis auch dieses nachließ, verstummte. Ich sage dir, ich brauchte schon Mut, nicht gleich davonzurennen, sondern auf dem Stamm vorwärts zu kriechen, seinem Stubben zu, um zu sehen, was eigentlich geschehen war. Ich roch dann Rauch, hörte da und dort erbärmliches Wimmern, Stöhnen, einen erstickten Schrei und wieder prasselndes Zischen.

Dann konnte ich ein Stück in die Lichtung, die wir bereits geschlagen hatten, einsehen, das heißt, ich blickte in Dunst aus Qualm und Dampf, der über dem Gewirr von abgeschlagenen Ästen, dem Laub und dem lädierten Unterholz stand. Kleine Flämmchen züngelten da und dort. Fernando hing halb aus der Zugmaschine, er blutete heftig aus einer Halswunde, Gesicht und Brust feuergeschwärzt, aber er lebte, atmete noch. Sein herabhängender Arm pendelte nicht leblos. Es war erbärmlich, schien, als suche er nach einem Halt, einem Helfer, der ihm die Hand reiche, ihn aus der schrecklichen Lage zu befreien. Das gab mir den Impuls, ich wollte es.

Ich sprang vom Stamm auf den Boden, sah es jenseits der Lichtung aufblitzen. Es bohrte sich etwas sehr Schmerzhaftes in meine Schulter, warf mich um. Da befand sich der Stubben zwischen mir und dem Unbekannten. Als ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, hieß der nur: Weg, weg, so schnell du kannst weg, Nat!

Ich kroch den Stamm entlang zurück ins Gebüsch. Über mich hinweg blitzten zischend, im Dunst und Rauch aufleuchtend, bläuliche Strahlen. Als ich einmal zurückschaute, sah ich gerade, wie einer dieser Strahlen Fernandos Halt suchenden Arm hinwegfetzte ...

In einem Bogen habe ich die Lichtung umgangen, nein, umkrochen. Keine Macht der Welt hätte mich bewegen können, dorthin zurückzukehren, selbst der Gedanke nicht, einige der Kameraden könnten meine Hilfe brauchen, wären so vielleicht zu retten ...

Ich hab’ auf ‘nem Floß den Tefé erreicht, einem Fischer für viel Geld das Boot abgekauft, und mich zwei Tage flussabwärts treiben lassen, bis zur Stadt Tefé. Der Postkurier hat mich, wieder für gutes Geld, versteht sich, - kein Wunder, dass er mir misstrauisch begegnete, lädiert, wie ich aussah - mit seinem Wasserrutscher sozusagen bis vor deine Haustür mitgenommen. Und da bin ich.« Nat starrte, die Bierbüchse in der Hand hin und her drehend, einen Augenblick ins Leere. Dann setzte er leise hinzu: »Es war schlimm, Lola, schlimm ... Wie sie einer nach dem anderen stumm wurden, nur das Zischen ... Aber ich weiß nicht, was es war und warum ...«

Die beiden Menschen schwiegen.

Dolores trat an den Mann heran, strich ihm übers Haar. Er legte den Kopf gegen ihre Hüfte, umfasste sie und wiederholte: »Es war schlimm, Lola, schlimm.« Dann lehnte er sich zurück. »Darf ich bei dir bleiben, eine Weile wenigstens?«

Sie setzte sich zu ihm, legte den Kopf an die heile Schulter. »Du darfst. Aber du erinnerst dich hoffentlich daran, was ich dir sagte, bevor du zum großen Coup aufbrachst? Es ist nicht geheuer am Rio Tefé ...« Und sie dachte: >Das ist nun der Großsprecher, der freche, der Draufgänger Nat.<

Aber irgendwie und irgendwo innen fühlte sie sich entspannt und froh.