Impressum

Alexander Kröger

Der Geist des Nasreddin Effendi

Science Fiction-Roman

 

ISBN 978-3-95655-660-9 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien erstmals 1984 im Verlag Neues Leben, Berlin (Band 186 der Reihe „Spannend erzählt“). Dem E-Book liegt die überarbeitete Auflage zugrunde, die 2013 im Projekte Verlag Cornelius GmbH, Halle unter dem Titel „Der Geist des Nasreddin“ erschien.

 

© 2016 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: verlag@edition-digital.com
Internet: http://www.ddrautoren.de

In Chiwa

Ganz behutsam drang es in sein Bewusstsein - als zersprängen Wassertropfen auf heißem Stein, und jedes Kügelchen verzische mit eigenem Geräusch: Da murmelten Stimmen, ein Esel schrie; von dorther scholl das Knirschen eisenbeschlagener Räder auf Kies. Auch undefinierbares Brummen war zu hören. All das aber klang wie unter einem Tontopf hervor, gedämpft, entfernt, unwirklich.

Und dann war alles wieder vorbei, bis auf ein dumpfes Rauschen vielleicht, von dem man nicht wusste, ob es vom Umfeld oder von innen aus dem Kopf kam. Es schien, als bilde sich irgendwo einer jener Tropfen neu, würde schwerer und schwerer, bis er sich schließlich löst und abermals auf dem Stein zerschellt; denn wieder und wieder sprangen die Geräusche auf.

Zu irgendeinem Zeitpunkt wurde ihm bewusst, dass sich der Abstand zwischen den Tropfen verringerte, als bahne sich das Wasser mehr und mehr Durchgang durch ein löchriges Gefäß.

Plötzlich gellte eine schrille Frauenstimme: »Willst du wohl den Apfel zurücklegen, du Schlingel!«

Ein Kind rief: »Aua!«

Gelächter kam auf.

Dann drängte ein Mann: »He Onkelchen, wach endlich auf. Dein Zeug ist sonst verschwunden, bevor du einen einzigen Sum dafür eingenommen hast.«

Und wieder die Frau: »Dieser Gottlose wird sich einen angetrunken haben. Und Allah straft ihn mit einem Brummschädel, kein Auge kriegt er auf. Schaut ihn euch an, Leute, diesen Saufbold.«

Auf einmal rief der Mann in einem anderen Tonfall: »Komm, kauf! Die besten Trauben, die wunderbarsten Granatäpfel von Chiwa, süß und billig, eingefangene Sonne!« Und nach einer kleinen Weile murmelte er: »Der Scheitan soll dich holen!«

»He, wach auf, du Taugenichts!« Diesmal war die Stimme des Mannes barscher, vielleicht vor Ärger, weil der Kauflustige seine Ware verschmäht hatte.

»Dummkopf!«, sagte die Frau gedämpft. »Seine Granatäpfel sind viel schöner als unsere, und er hat angeschrieben, dieser Esel, dass er fürs Kilo nur sechshundert Sum haben will. Der schnappt uns die Käufer weg. Lass ihn also in Ruhe, wenn Allah ihn schon mit Dummheit geschlagen hat.«

>Basar, ich bin auf dem Basar!<

Das Dumpfe im Kopf schwand. Scharf drangen die Geräusche auf den Mann ein. Gefeilsche in der Nachbarschaft, Anpreisen von Granatäpfeln, wie sie schöner auf Gottes Erdboden nie gewachsen sind, Melonen, Gewürze ... >Ah! Gewürze!< Und sofort verspürte er ihren Duft, glaubte die Aromen zu schmecken. Und einmal gerochen, gab’s da noch mehr: Rauch, Eselsdung und Schweiß. Darüber lagen dumpfes Gemurmel, das Schlurfen unzähliger Schritte und Staub, den man ebenfalls roch. Basar!

>Basar?<

Eine siedende Welle durchfloss den Mann, gab Kraft, die schweren Augenlider hochzureißen und sich kerzengerade aufzurichten. Gleichzeitig, wie im Reflex, flogen die Hände an den Hals, als wollten sie würgen. Eine Flut von Eindrücken ergoss sich über den, der da, gelehnt an eine Mauer, inmitten bester, ausgebreiteter Früchte saß.

Das nahm der Mann zuerst wahr, aber auch eine wogende Menge Menschen, die zwischen den Ständen und Waren, Eseln und Karren auf und ab defilierten, bunt gemischt, wie stets auf einem großen Basar.

>Wie stets?<

Da gab es etwas Störendes, Fremdes.

Ah, aus der Menge zwei Frauenaugen - Frauenaugen!, das Antlitz des Weibes umrahmt von einem bunten Kopftuch. Augen auch, die sich sofort von ihm wandten, als sein Blick den ihren traf. Ihm war noch, als lächelte das Gesicht, zu dem diese Augen gehörten.

Aber was überwog, Basar und Menschen, Früchte und, oh Allah, unbedeckte, liebliche Frauengesichter, was alles zu einem flüchtigen Streiflicht, einer Traumsekunde machte, war der Gedanke: >Ich lebe ja, ich lebe!<

Kaum hatte er den freudigen Schreck genossen, überfiel ihn mit niederschmetternder Wucht die Angst. Er riss den Kopf nach links, nach rechts, gewärtig, dass dieser vielleicht doch noch herunterfiele, aber mehr darauf gefasst, die Faltstiefel und Pluderhosen der Häscher neben sich zu erblicken, Männer, die sich - wie die Katze mit der Maus - mit ihm einen Spaß, einen letzten Spaß, verschafften.

Aber noch gewahrte er diese typischen Kleidungsstücke nicht, sah keine Spitze eines herabhängenden Krummsäbels.

Rechts neben ihm kauerte das ältere Paar hinter einer sehr niedrigen Bank, auf der die Ware lag. Links ein Karren, dahinter die Hufe eines Esels, dazwischen ein Haufen Heu.

Ein ungeheurer Drang, aufzuspringen, zu laufen, davonzulaufen, erfasste den Mann. Sein Blick ging auf einmal wie bei einem gehetzten, in die Enge getriebenen Tier. Heiß und kalt überlief es den Körper. Übermenschlich drängte der Wunsch, das auf so wundersame Weise erhaltene Leben festzuhalten, zu retten. >Ein Irrtum des Emirs, eine Unachtsamkeit der Häscher? Ich lebe!<, jubelte es in ihm. >Ich will leben!< Und fieberhaft jagten die Gedanken.

Eine Sekunde wurde er sich bewusst, dass er nicht an sein lumpiges Leben gedacht hatte, als sie ihn gebunden zum Richtplatz führten, als er zusehen musste, wie das Haupt der Geliebten in den Sand rollte.

Und es war, als wollte der Schmerz den Mann erneut überfallen. >Nilufar - du bist gestorben, weil wir uns liebten. Glaube mir, ich bin dir gern in den Tod gefolgt. Es ist Allahs Wille, muss Allahs Wille sein, dass ich lebe.<

Wieder sah er sich erschrocken um. >Wie, bei Allah, bin ich vom Richtplatz auf den Basar geraten? Und weshalb sind hier unverschleierte Frauen, ebenso viele wie Männer? Ah, es ist ein Traum, du träumst, Nasreddin, du bist in der Welt der Toten.< Einen Augenblick war ihm nach diesem Gedanken leicht.

Ein Granatapfel, der ihm mit ausgestrecktem Arm entgegengereckt wurde, brachte ihn in die momentane Wirklichkeit zurück. Es war ein Apfel aus seinem - >Weshalb eigentlich meinem?< - Bestand, und ihn hielt eine sehr schöne hellhäutige Frau, und der Arm war nackt bis zur Schulter. Diese Frau redete ihn in einer fremden Sprache an.

Der Mann blickte sich noch einmal um, aber nach wie vor zeichnete sich keine Gefahr ab. Mit der Rechten wehrte er die zudringliche Nachbarin ab, nahm den Apfel verwirrt aus der Hand der Frau und sagte sanft und wunderte sich über seine wohlklingende tiefe Stimme: »Ein Akscha.«

Die Nachbarin lachte hell auf, wies mit ausgestrecktem Arm auf den Verkäufer, tippte sich mit der anderen Hand nachdrücklich an die Stirn und ermutigte andere, in ihr schrilles Lachen einzustimmen. »Ein Akscha«, gluckste sie nachäffend mit zahnlückigem Mund.

Verunsichert blickte der Mann, sah auf den Apfel in seiner Hand, in das Gesicht der schönen Käuferin, die dem Geschehen offenbar ebenfalls nicht folgen konnte, und zur Nachbarin.

Da lächelte die Kaufwillige, die zu einer Gruppe eigenartig angezogener hellhäutiger Passanten - zu denen noch viele Frauen gehörten - zählte.

Und als wurde es dem Mann erst jetzt bewusst: In der Tat, die Frauen zeigten ihre Gesichter ohne Scham, als sei es für sie etwas Alltägliches. >Oh Allah!< Und er schaute in den Himmel, der blau war, und sah über die niedrigen Schuppendächer jenseits der Straße die schlanke Spitze des Minaretts, eines Minaretts. >Ja, bin ich denn nicht in Chiwa?< Er blickte die Straße hinunter, und dort sah er, zwischen den Körpern der Leute hindurch, das Eingangstor zur Karawanserei. >Doch Chiwa ...! Aber das Minarett? Was ist geschehen? Die Frauen ohne Schleier, ein falsches Minarett? Also doch tot, in einer anderen Welt. Aber in einer, die nicht minder schön ist.< Und er sah in das Gesicht der Frau und nickte ihr froh zu.

Diese steckte den Apfel in einen Beutel und legte ein grünliches Scheinchen auf das Brett.

Dann drängten andere aus der Gruppe vor, hielten ebensolche Papierchen oder auch Münzen hin, und der Mann, verwirrt, aber dennoch ein wenig geschmeichelt ob des regen Zuspruchs, verteilte seine Waren mit beiden Händen. Auf das ausgebreitete Tuch purzelten Scheine und Münzen, er achtete nicht darauf.

Er fand zunehmend Gefallen an seinem Tun, begann sogar, die Früchte zu preisen, obwohl es nicht notwendig war; und das Gekeife der Nachbarin, die ihm die Pest an den Hals wünschte, belustigte ihn.

Fast jeder der Gruppe nahm etwas. Und als der Letzte die letzte Melone erwarb, war kaum eine Viertelstunde verflossen. Lachend und schnatternd zogen sie weiter. Die, die zuerst den Apfel gekauft hatte, hielt dem Händler etwas in Silber und Grün Eingepacktes hin, das nach Pfefferminz roch, und bedeutete ihm, es als Geschenk anzunehmen. Er nahm es, roch daran, und als sie ihm durch Gesten zu verstehen gab, dass es etwas Essbares sei, nickte er dankend und lächelte.

Der Mann achtete nicht auf das schadenfrohe Gelächter anderer Händler, die seinem Schnellverkauf zugesehen hatten. Er raffte das Tuch mit den Scheinen und Münzen zusammen und versuchte, was natürlich bei der Aufmerksamkeit, die man ihm im Augenblick schenkte, nicht möglich war, sich unauffällig hinwegzustehlen.

Schließlich befand er sich im Strom der Passanten, das Tuch verkrampft in der Linken, als der Nachbarhändler aufsprang, einen Esel hinter dem Karren hervorzerrte und hämisch rief: »Hier, vergiss deinen Lehrmeister nicht, du Narr aller Narren!« Und er warf unter erneutem Gelächter Umstehender dem Mann den Strick über die Schulter.

Der also Verspottete ergriff mit der Rechten den Zügel, drängte sich, den widerstrebenden Vierbeiner zerrend, durch die Menge und hatte den Ort des für ihn so unrühmlichen Geschehens bald hinter sich.

Einmal, als er sich umsah, meinte er unter denen, die in seine Richtung zogen, wieder jene schöne Frau zu sehen, das Gesicht vom bunten Tuch umrahmt.

*

Nach etlichen hundert Schritten jedoch war der Ärger über die Schmach von dem Mann gewichen. Mehrmals fuhr er sich verstohlen mit der Hand, die das Tuch hielt, über den Nacken. >Ich habe meinen Kopf<, jubelte es in ihm, >meinen Kopf! Ein Wunder ist geschehen, oh Allah, Allah, sei gepriesen!<

Einige Male sah er sich noch um, doch niemand folgte ihm. Aber immer klarer wurde ihm in der Freude, dass etwas mit ihm und um ihn herum geschehen sein musste. >Tot? In einer anderen Welt, in der Allahs?< Zweifel kamen auf. Auch wenn sie fremde Sprachen sprechen, hellhäutig sind und ohne Schleier gehen, die Schamlosen. Es ist die Welt, die ich kenne. Das Pflaster, grob und holprig, das ist Chiwa!<

Er fuhr mit der Hand die Lehmmauer entlang, die zum Eingangstor der Karawanserei führte. Das keifende Weib vorhin, die Schadenfreude, der Spott? >Nichts hat sich verändert. Das alles hat nicht Platz in Allahs Reich, so sagt Mohammed, der Prophet.<

Der Mann war, obwohl er sich immer wieder vergewisserte, dass niemand ihm folgte, bemüht, schnell voranzukommen, darauf bedacht auch, dass der Esel keinen rempelte, damit nicht etwa neuer Ärger provoziert wurde und Leute aufmerksam würden. Er blickte wenig nach links und rechts, eilte gesenkten Kopfes und durchquerte die Karawanserei. Kauflustige, Händler und Passanten drängten sich. Gelegentlich hörte man unwillige Bemerkungen, weil wohl Esel diesen Weg nicht benutzen sollten. >Da wären dann die Gewölbe leer<, dachte der Mann einen Augenblick in einem Anflug von Spott. Aber er beschleunigte noch den Schritt, als er den Ausgang im gleißenden Licht vor sich sah.

Das wenige, was er so von der Umgebung wahrnahm, war Bekanntes und wieder Nichtbekanntes, eine Tatsache, die durchaus nicht dazu angetan war, seine Gedanken zu entwirren. Mit aller gebotenen Scheu blickte er in offene, lachende oder auch verschlossene, besorgte junge und alte Gesichter, in solche von Männern und ebenso oft in die unverschleierter Frauen.

Als er das neue Mausoleum Pachlawan-Machmuds erreicht hatte, fiel er in leichten Trab. Unbewusst nahm er wahr, dass etliche der im vorigen Jahr erst verlegten Keramikfliesen fehlten. Schlechte Arbeit, dachte er. Aber dieses Verwunderliche wurde von anderem, noch weniger Fassbaren, verdrängt. Plötzlich merkte er, dass er völlig anders bekleidet war als zu dem Zeitpunkt, da er den Kopf auf den Richtklotz legte. Ein sackähnliches, ärmelloses Hemd hatte man ihm übergestülpt, schön halsfern ... Trotzdem hatte dieses Gewand im Nacken heftig gescheuert, und er erinnerte sich, wie er dem Henker zugerufen hatte, dass er davon wohl einen wunden Hals bekommen würde ...

Dann stellte er verwundert fest, dass er kräftiger auszuschreiten vermochte als vordem, dass auch sein Körperumfang beträchtlich zugenommen hatte, und das bei der mehr als mageren und miserablen Kost der quälenden Tage im Verlies.

Und der Zahn, der Eckzahn! Er verhielt, fühlte mit der Zunge. Beim Handgemenge im Garten des Beis, dort, wo das Unglück begann, war er verlorengegangen. Der Stumpf hatte die Zunge wund gerieben ... Aber dieser Zahn befand sich an seinem Platz!

Trotz all dieser Wunder war das Bestreben des Mannes darauf gerichtet, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen, weg von den Menschen, weg von einer erneut drohenden Festnahme: sich sammeln, alles überdenken ...

Als er so überlegte, stieg abermals Freude in ihm auf, Freude darüber, dass er lebte. Selbst der schmerzliche Gedanke, dass die Geliebte vor seinen Augen starb, trübte das Frohlocken nur wenig. Es war nach Allahs Willen geschehen. »Maschallah«, murmelte er.

Trotz des wehen Verlustes, trotz der Wirrnis in seinem Kopf und all des Unverständlichen und Wunderbaren, der bekannten, unbekannten Welt um ihn her, fühlte der Mann seinen alten Elan, seine Lebensbejahung, die ihm in vielen, manchmal ausweglosen Situationen schon den rechten Pfad gewiesen hatten, wiederkehren. Und das in dem Maße, in dem er sich dem nördlichen Tor näherte und ihm immer weniger Menschen begegneten.

Auf dem groben Pflaster ging es bergab dem Ausgang zu. Selbst der Esel schien die Weite draußen zu wittern, denn er ließ sich nicht ziehen und mahnen, sondern trabte flott einher, brachte seinen Herrn außer Atem. >Überhaupt, dieser Esel! Ich hatte ihn doch an den Zaun des Parks am Sommerpalast gebunden?<

Links gewahrte der Mann den blaugefliesten Fuß eines abgebrochenen Minaretts gewaltigen Umfangs, und die Zellen der anschließenden Medrese waren auf einmal zugebaut mit Türen und ganz durchsichtigen starren Häuten, hinter denen sich schillernde Waren befanden. Davor Menschen, die diese Auslagen betrachteten oder aus und ein gingen ... >Und hier haben sie mich vor zwei Wochen vorbei gezerrt, die Hände gefesselt und gebunden an einen Esel ...

Und wie sieht die Festung aus! Oh Allah!<

Der Mann hatte den Blick nach rechts gewandt. Er gewahrte die Regenrillen in den Lehmmauern, die ausgewaschenen Zinnen. >Da hast du stets angenommen, Nasreddin, dass dich so leicht nichts aus der Fassung bringen könnte. Und oft hat dein Leben an einem Faden gehangen. So lange ist es nicht her, dass mich der erzürnte Bayazid auf den Baum jagte, den seine Soldaten umwerfen sollten, damit er mich Bocksprünge machen sähe ... Da noch hast du die Kaltblütigkeit besessen, die Hosen fallen zu lassen und die Soldaten von oben zu bekleckern. Oh Sultan, wie hast du gelacht, lebensrettend ...

Aber das erhobene Schwert ist doch etwas anderes. Vorher sehen müssen, wie der Kopf der Geliebten in den Sand rollt ... Das, Nasreddin, hat dir die Sinne verwirrt! < Einen Augenblick blieb er stehen und drückte verzweifelt das Gesicht in die Mähne des Esels.

>Oh Allah, erleuchte einen Unwürdigen, gib ihm zum Leben auch die Sinne wieder ...

Aber es ist Chiwa, die göttliche Stadt!<

Sein tränengetrübter Blick glitt zurück zum Mausoleum, die Festungsmauer entlang zum nahen Tor. Wären die Rillen im Lehm nicht gewesen, er hätte jeden einen Lügner genannt, der behauptete, dieses sei nicht Chiwa. Aber warum nur gehen diese gottlosen Frauen ohne Schleier?< Und er sah sich um nach einer solchen Frau.

Das Tor, das unmittelbar vor ihm wie eh und je seine Bögen gegen den blauen Himmel wölbte, ergoss soeben eine Gruppe jener eigenartig gekleideten, hellhäutigen Leute auf die Straße wie jene freundlichen, die ihm im Handumdrehen die Waren abgekauft hatten. >Die Waren! Wie, zum Scheitan, bin ich zu Waren gekommen?<

Die ersten dieser Menschen blieben stehen, einer rief etwas. Nasreddin grüßte. »Salam aleikum!« Einige nahmen kleine Kästen, die sie an Riemen über der Schulter trugen, richteten sie auf den Mann mit Esel. Es klickte mehrmals, und sie winkten dankend.

Da sie sich freundlich gaben, lächelte und winkte er zurück. Und natürlich befanden sich in der Gruppe auch viele Frauen, einige mit dunklen Scheiben vor den Augen, die sie eulig aussehen ließen. Aber sie waren unverschleiert, nicht nur unverschleiert, sondern, oh Allah, beinahe durchsichtig angezogen ...

Und wenn bei diesem Anblick die Verwirrung in Nasreddins Kopf auch nicht eben geringer wurde, er begann Gefallen an dieser unerklärlichen Neuheit zu finden. Der Gedanke, dass der Prophet gegen solchen Frevel sein könnte, störte ihn im Augenblick nicht im Geringsten. Schließlich waren es Ungläubige. >Der Emir wird sich etwas dabei gedacht haben, wenn er seine Stadt für solche Leute öffnete. Allah sei Dank!

Aber das von gestern auf heute?

Als sie mich vorhin, heute früh, mit Geschrei zum Richtplatz führten, standen Frauen vermummt an den Türen. Und diese bunten Leute befanden sich nicht in der Stadt ... Ja, es war Vormittag, als sie mich aus dem Verlies zerrten. Jetzt steht die Sonne hoch, es ist Mittag, also stimmt die Zeitfolge ... Das Einzige, was bisher wirklich stimmt.<

Der Menschenstrom durch das Tor ließ nach, als verhindere die stechende Sonne den Zugang zur Stadt.

Nasreddin Chodscha zog mit seinem Esel weiter durch das Nordtor der Itschan-Kala, der Innenstadt Chiwas, ins Freie. Der Hufschlag des Esels dröhnte von den Gewölben wider.

Draußen blieb er stehen, breitete die Arme. Ja, das war es, sein Land! Erst jetzt hatte ihn das Leben wieder. Im Augenblick fiel alles Wirre, Unklare, auch Wunderbare ab von ihm. Sonnen überglüht lag die Ebene da, gelb, baumlos und dennoch fruchtbar und lieblich, die Oase Choresm, die er im Gefolge Timurlenks, des Gewaltigen, bereist und in der er die glücklichen Stunden mit Nilufar erlebt hatte.

*

Als nun Nasreddin den Kopf drehte, die Arme noch immer weit geöffnet, erstarrte er in dieser Pose. Was, zum Scheitan, bedeutete das schon wieder?

Aufgereiht wie die Kamelreiter des Bayazid, standen da im Schatten des Festungswalls langgestreckte Häuschen, glänzend und bunt bemalt, mit Reihen großer Fenster an den Seiten. Und unten hatten sie wulstige Räder.

Eine Weile starrte er auf das abermals Unfassliche. Dann ließ er die Arme sinken. Langsam kehrte Gleichmut in sein Denken. Er wandte das Gesicht erneut der Ebene zu. In der Ferne stieg aus einem Kischlak Rauch. >Allah ist groß, seine Wege sind unerforschlich. Wenn es ihm also eingefallen ist, dass die Menschen, seine Kinder, Häuser auf Rädern bauen sollen, dann bauen sie eben. Aber warum habe ich sie unlängst nicht gesehen? Na, sie haben Räder! Also werden sie daher gekommen sein, wo ich nicht war. Die Erde und das Reich Timurs sind allemal unermesslich.<

Nasreddin fasste den Strick des Esels fester; zögernd, aber stetig trat er an die Kolosse heran, klopfte mit dem Knöchel an die Außenhaut. Aus Lehm waren sie nicht. Es hörte sich an wie der eherne Gong des Muezzins. Welche Verschwendung! Und außerdem roch es in der Nähe dieser Merkwürdigkeiten nicht besonders gut.

Er stellte sich auf die Zehenspitzen, spähte in das Innere eines solchen Hauses. >Eigenartig<, dachte er. >Wo sie wohl schlafen mögen, und eine Feuerstelle besitzen sie auch nicht. Ob auf den wulstigen Thronen ein angenehmes Sitzen ist, wer weiß.<

Nasreddin runzelte unentschlossen die Stirn, dann setzte er sich auf den harten Boden, mit dem Rücken gegen eines der dicken Räder gelehnt, faltete das Tuch auseinander und sortierte die kleinen Scheine und unbekannten Münzen. Einen Augenblick dachte er daran, diesen unbrauchbaren Plunder wegzuwerfen, aber irgendetwas sagte ihm, dass das töricht wäre. Schließlich hatte sich der Handel auf dem Basar zugetragen - wie auf jedem Basar. Er hatte etwas gegeben - auch wenn er sich nicht erinnern konnte, dass ihm das jemals gehört haben sollte -, und er hatte dafür etwas bekommen: diese Scheine und Münzen, als seien es Goldstücke. Also verstaute er die Dinge in seinem Gewand, das sich, nun bei näherer Betrachtung, als äußerst neu herausstellte und den Schein weckte, als sei er wohlhabend.

Neugierig geworden, durchsuchte er die in den Chalat eingenähten Säcke und die Taschen der Unterkleider. Er war schon gar nicht mehr überrascht, dass er noch etliche solcher und anders gefärbte Scheine zu Tage förderte. Was ihm aber einen Schreck einjagte, war ein zusammengefaltetes Papier, aus dem ihm, als er es auseinander klappte, das Abbild eines unbekannten männlichen Gesichts entgegenschaute. Es befanden sich darauf ferner seltsame Schriftzeichen und das sehr blasse Petschaft mit einem fremden Wappen. Doch plötzlich stutzte er. Da stand auf einer solchen Zeile »Omar Anoraew« in der Schrift, die er gelernt hatte. Ein Name! >Anoraew? Und wie überhaupt komme ich zu diesem Papier?<

Nasreddin wiegte den Kopf. Er sah nach oben. Über den Zinnen der hohen Lehmmauer gleißte die Sonne. Aber dennoch wurde sehr deutlich, dass ebendiese Zinnen verfallen und verwaschen die Anlage säumten. Gleichzeitig aber ging von diesem hohen Wall etwas Bedrohliches aus. Dem Mann fiel ein, dass der Herrscher nicht selten beim Bau von Befestigungen dieser Art Gefangene, an Pfähle gebunden, als Bewehrung mit einstampfen ließ. »Es wird besser sein«, murmelte er, »wenn zwischen mir und diesem Chiwa ein gut Stück Weges liegt!«

Mit einem Seufzer stand er auf, blickte noch einmal in das Räderhaus hinter seinem Rücken, stutzte, als er sein Spiegelbild in der harten, durchsichtigen Haut des Fensters erblickte. Er zog das Papier aus der Tasche, verglich das Bild dort mit dem, was er sah, und stellte verwundert fest, dass sich die Abbildungen einigermaßen glichen. Er wiegte erneut den Kopf, strich sich den Bart, rollte die Augen. Kein Zweifel, nicht nur um ihn her hatte sich vieles verändert, auch er selbst war auf einmal ein anderer.

»Nein!« Er sprach langsam. »Mein Ich ist hier drin«, und er tippte sich an den Kopf. »Aber der Bart ist dichter und schwärzer, das Gesicht dicker und runder, und niemals, Nasreddin, hattest du eine gerade Nase und diese schönen Zähne! Ach, Teufelszeug!« Und er hieb mit der flachen Hand gegen das Fenster, dass es dröhnte und das Bild verzitterte. »Dieser Unboschi, der aufgeblasene Wachführer, wird mir in den Trank etwas gemixt haben, den er mir als Gruß des Beis so großherzig kredenzte. Und ich Esel habe ihn mit Genuss getrunken! - Ach, warum, Nasreddin, solltest du nicht? Es war dein letztes Labsal!«

>Eben nicht!< Er blickte noch einmal in das Fenster, strich sich über das Gesicht, fletschte die Zähne. >Es war gut, dass ich getrunken habe.< Er betrachtete sich nun wohlgefällig. >Das hat er nun davon, dieser Unboschi, einen schönen Nasreddin hat er aus mir gemacht.< Er hob die Arme an und wiegte sich auf Zehenspitzen vor dem Fenster.

»Seht euch den an!«

Erschreckt hielt Nasreddin ein, wandte sich der Stimme zu.

Im Tor stand eine kleine Gruppe von Leuten. Ein Mann, der sich in der Kleidung deutlich von den anderen unterschied - er trug eine Pluderhose, darüber einen kurzen Chalat, der sich über dem Bauch spannte, und auf dem Kopf eine Kappe mit einem lächerlichen Rand ringsum -, wies mit ausgestrecktem Arm herüber und lachte breit. Die anderen, unter denen sich abermals Frauen befanden, lächelten freundlich.

Nasreddin streckte, einer plötzlichen Eingebung folgend, die Zunge heraus, drehte sich um, reckte dem Mann sein Hinterteil zu, ergriff den Esel und machte sich davon, der Sonne abgewandt, nach Norden, den Weg, den er vor einigen Wochen in Fesseln gekommen war.

Zunächst trottete er im Schatten des Walls schnell und ohne sich umzublicken. Er hatte auf einmal Bedenken, ob sein ungehöriges Verhalten nicht vielleicht Folgen haben könnte. Dann, als die Mauer winklig nach Osten abwich, er in die blendende Helle trat, verhielt er doch den Schritt. >Das ist nicht der Weg<, dachte er, >den du gekommen bist.< Nur zu gut erinnerte er sich des spannentiefen Lehmstaubs, in den seine wunden Füße eintauchten wie in heißes Wasser. Ihm war, als spürte er zwischen den Zähnen das Knirschen des Sandes, den die Hufe der Esel, an deren einen er gebunden war, aufwirbelten, oder das Brennen in den Augen von Hitze, Schmutz und Helle. Statt dessen schritt er auf einer schwärzlichen, reinlichen, harten, aber nicht zu harten breiten und ebenen Fläche, die dem Hof des Sultanspalastes alle Ehre gemacht hätte, einer Fläche, die sich bis zum Horizont erstreckte, dort flimmernd in den Konturen von Büschen und einem fernen Kischlak verschwand.

Nasreddin blickte zurück. Dort lag Chiwa wie er es kannte: Ein Lehmwall aus der flachen Ebene heraus ... Chiwa, das Kleinod der Oase Choresm, der sagenhaften. >Erst wenn du das Tor durchschreitest, umfangen sie dich, Wanderer, die himmelblauen Kuppeln, die hohen Bögen der Gewölbe, machen dich die Minarette schwindlig.

Ganz anders hast du es gesehen, dieses Chiwa, Nasreddin Chodscha. Als sie dich durchs Tor schleiften, der du lechztest nach einem Schluck Wasser, versuchtest, einen letzten Blick der Geliebten zu erhaschen, die im schwankenden Korb auf dem Dromedar nicht weniger litt als du, Nilufar, die dir im Mondlicht die Schönheit dieser Stadt gepriesen hatte.<

Nasreddin straffte sich. >Ha<, dachte er. »Ha!«, rief er ergrimmt. »Noch lebt er, der Chodscha. Und ich werde im Anblick deiner Schönheit, Chiwa, der Geliebten gedenken, und dir sage ich, Bei, der du sie köpfen ließest, ich werde, wenn Allah mir die Kraft gibt, dein Scheitan sein, so wahr ich Chodscha Nasreddin bin und lebe!« Dann drehte er sich brüsk um, riss den Esel vorwärts, und kräftig schritten sie aus gegen Norden.

*

Es war noch keine Stunde vergangen, als Nasreddins Schritte kürzer, sein Elan kleiner geworden waren, das um so mehr, als der Mann immer stärkeren, schon quälenden Hunger und noch mehr Durst verspürte. Dem Esel schien es nicht anders zu ergehen, denn immer fester spannte sich der Strick zwischen den beiden, und oft wandte das Tier den langen Kopf nach rechts, wo auf unüberschaubaren Feldern Hirse stand.

Die Straße, auf der sie zogen, rollte unter den Füßen hinweg, als sei sie ein zu einem Reif gebogener endloser Streifen. Das Vorankommen ließ sich eigentlich nicht mehr recht feststellen; Chiwa, im Rücken liegend, war längst den Blicken entschwunden. Und der Kischlak, den Nasreddin meinte vom Tor aus gesehen zu haben, lag nun weit links vom Weg, von diesem nicht berührt.

Gesenkten Kopfes trotteten sie dahin, Nasreddin weitgehend unentschlossen, aber sich doch gewiss, dass irgendwann, bald, etwas geschehen müsse. Ihm schien, als sei sein Blick vor Hunger, Durst und Erschöpfung bereits mit einem Schleier verhangen. Und noch immer wies die Straße, gesäumt von Hirsefeldern, in die Unendlichkeit.

Plötzlich klang von hinten ein Brummen auf, das, den Eindruck hatte Nasreddin, bevor er im Stande war, sich umzuwenden, sehr schnell lauter wurde und rasant näher kam.

Er hatte dann auch kaum mehr die Zeit, das Tier in den Graben zu drängen und sich selber dorthin in Sicherheit zu bringen, als das Ungetüm laut heranbrauste.

Nasreddin duckte sich hinter den Grauen. Er konnte nicht verhindern, dass Angst ihn förmlich schüttelte. Der Esel blieb, und das überraschte Nasreddin, völlig gleichmütig.

Ein solches Haus auf Rädern kam herangedonnert, hinter sich eine aufwallende Staubwolke.

Wäre der Esel nicht so ausstrahlend ruhig geblieben, Nasreddin hätte sich mit aller Macht rückwärts in das Feld geschlagen und wäre gelaufen ... So aber schämte er sich vor dem Tier, krampfte die Hände in dessen Fell und harrte zähneklappernd aus.

So ließ er das, was da auf sie zukam, stoisch über sich hereinbrechen, wunderte sich dann aber doch, dass es so schnell ging, er dabei nicht den kleinsten Schaden erlitt und nicht die geringste Rolle spielte, weil dieses Ding keinerlei Notiz von ihm nahm.

Das Haus rollte vorbei, und hinter dessen Fenstern konnte Nasreddin lachende Menschen sehen. Und einer, der ihn und das Tier im Graben entdeckt hatte, winkte freundlich.

Nasreddin hustete, schüttelte den Kopf vor grenzenloser Verwunderung und schickte sich gerade an, den Esel aus dem Graben zu lotsen, als er wieder einen mächtigen Satz über den Streifen zwischen Straße und Feld machte, dort etliche der Pflanzen niederdrückte.

Aus dem Staub vor ihnen, also dorther, wo das Haus hin entschwunden war, kam plötzlich eine merkwürdige-ja - kleine Hütte heran, rollte deutlich auf ebenfalls wulstigen Rädern, besaß Fenster, die die Sonne reflektierten, und hinter diesen saßen abermals Menschen, drei oder vier.

Allmählich legte sich der Staub, und langsam schwand die Furcht. Nasreddin kam wieder zu klarerem Denken.

Der nach wie vor gleichmütige Esel rupfte Gras, vergriff sich an der Hirse, und es war, als vertiefte das Mahlen der Zähne Nasreddins eigenen Hunger ins Unermessliche.

Noch immer ein wenig wie in Trance, strich er die Körner von einer Rispe, rieb in den Händen die Spelzen ab und warf sich die Körner in den Mund. Es schmeckte mehlig, und er hatte das Gefühl, dass ihm, äße er mehr davon, zum Sterben übel werden würde.

Dann hatte Nasreddin seinen Schreck überwunden. Er überlegte: >So wie diese rollenden Häuser könnten natürlich auch die Soldaten des Beis daherkommen, mich festnehmen, erneut ins Verlies werfen, das Ganze noch einmal ...<

Aber je intensiver er so dachte, um so weniger wahrscheinlich schien es ihm. Irgendetwas Unfassliches war geschehen, das stand fest - mit dem Bei in Chiwa und vielleicht sogar mit dem großen Timur selbst. Schließlich passierte das alles in seinem Reich, und das hatte er weiß Gott mit grausamer Strenge in der Hand. Das Wichtigste aber: Über alldem, was da unbegreiflich eingetreten sein musste, waren Nasreddin und Nilufar - vergessen. Andere Ereignisse, größere sicher, verlangten offenbar die volle Aufmerksamkeit des Herrschers. Vielleicht sind fremde, mächtige Völker ins Reich gedrungen, haben es ganz und gar erobert? Das aber musste sehr schnell gegangen sein. >Einen halben Mond nur war ich im Kerker ...<

Nasreddin zog den Esel, der sich nur schwer vom Grünfutter trennen ließ, auf den Weg, kratzte sich unter dem Fes am Kopf, schnallte den Gürtel enger und - schwang sich schließlich auf das Tier. »Der Dampf meines Hungers macht mich leicht, und du hast dich gestärkt. Also nützt es uns beiden, wenn ich auf dir sitze. Du hast es nicht so schwer, ich brauche nicht zu laufen, und du vertust deine Kräfte nicht umsonst.«

Kaum dass er saß, dem Tier die Fersen in den Leib gedrückt hatte, hieb er sich mit der flachen Hand an den Kopf, dass es bis weit in die Felder schallte. »Es scheint, der größere Esel von uns beiden bin ich«, rief er laut. Unten in den schmalen Tragekörben, die links und rechts am Zaumzeug des Grauen baumelten, lagen in dem einen große saftige Birnen und Gurken, im anderen, gewickelt in Papier, kalte Mantys, die usbekischen Teigtaschen, deren Aussehen sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Daneben gluckste in einer durchsichtigen Flasche eine Flüssigkeit.

Nasreddin drehte die Augen gegen den blendenden Himmel, breitete die Arme aus und rief mit unernster Inbrunst: »Oh Allah - was bin ich für ein Unwürdiger. Wie konnte ich einen Augenblick annehmen, dass du mich in deiner Weisheit vom Tode durch das Schwert erretten könntest, um mich dann in der Unendlichkeit dieses Höllenbands von einer Straße verhungern zu lassen?« Schon bei den letzten Worten tastete Nasreddins Linke, ohne dass er den Blick vom Firmament gewandt hätte, nach einer Birne. Im Hineinbeißen ließ er sich vom Esel gleiten, löste die Riemen der Körbe und machte es sich am Feldrand gemütlich. Nur zu gern folgte ihm der Esel, um das unterbrochene Mahl genüsslich fortzusetzen.

Nasreddin schien, er habe noch niemals so gut und fürstlich gegessen wie in dieser Stunde zwischen Chiwa und nirgendwo.

Unterwegs

Die rollenden Häuser und Hütten nahmen zu, je weiter der Tag fortschritt. Sie kamen mit Gebrumm aus beiden Richtungen, und manchmal stießen sie auch ein gequetschtes Gebrüll aus, um den Mann mit dem Esel auf sich aufmerksam zu machen.

Anfangs drückte sich Nasreddin ganz weit an den Straßenrand, und es suchten ihn Angstschauer und Gänsehaut heim. Aber sehr bald hatte er sich mit der neuen Situation abgefunden, sich überzeugt, dass diese Dinge trotz ihres respektablen Äußeren und angsteinflößenden Getöses harmlos und im Ganzen dumm waren, eben wie Häuser, und von ihnen keinerlei Gefahr ausging, wenn man sich ihnen nicht in den Weg stellte.

Nasreddin winkte sogar schon zurück, wenn ihn Insassen grüßten.

In dem Maße, wie er sich an sein neues Dasein gewöhnte, fand er Gefallen am wiedergewonnenen Leben, und es störte ihn nicht im Geringsten, dass so viel Unerklärliches um ihn herum geschah. Satt und im Grunde zufrieden und mit nachklingender Freude, davongekommen zu sein, ritt er einher, ließ den Esel laufen, wie es dem gefiel, und sang. Fehlten ihm da und dort die Worte, setzte er neue ein. Immer aber waren es solche, die sein Geschick priesen.

Rechterhand hörte das Hirsegebiet plötzlich auf. Knie- bis hüfthohe Stauden standen in Reih und Glied mit weißen Bäuschen an den Ästen, manchmal mit großblättrigen gelben Trichterblüten oder grünen strotzenden Kapseln.

Beim ersten Anblick hätte Nasreddin geschworen, es sei Baumwolle. Als er aber die riesige Fläche überschaute und sich erinnerte, dass er sich nicht in seiner Heimat, sondern in der Oase Choresm befand, dort niemals Baumwolle gezogen wurde, begann er zu zweifeln. Er stieg ab, vergewisserte sich: es war Baumwolle. >Gut, ist es eben Baumwolle und viel Baumwolle.< Nasreddin hatte eine Handvoll gepflückt, warf sie in den Wind, der leicht über das große flache Feld wehte. Im Aufrichten gewahrte er weit zum Horizont zu, gegen eine schwärzliche Buschgruppe, blaue Kästen, die emsig im Feld umherwanderten, und ihm war, als seien hinter ihnen dunkle Streifen im sonst insgesamt weißlichen Wolleflor. Wenn er sich anstrengte, glaubte er auch ein Brummen von dorther zu vernehmen.

Nasreddin saß auf. Vor ihm, noch fern, stieg Rauch aus der Ebene. Wo Rauch ist, sind Menschen<, dachte er. >Und wo Menschen sind, ist Leben.< Denn langsam ging ihm diese endlose Straße mit ihrem ewig gleichbleibenden schwärzlichen Belag, ihrem Staub und ihrer Geradheit auf die Nerven. Und daran änderte auch nichts, dass sich zu den fahrenden Häusern und Hütten noch eine Vielzahl anderer rollender Merkwürdigkeiten gesellt hatte: riesenhafte Karren, kleinere auch, Fässer, aus denen Timurs gesamtes, stets durstiges Heer einen ganzen Tag wohl hätte trinken können. Und die Formen dieser Dinge, die da ihre Bahnen zogen, waren sehr unterschiedlich, auch die Farben. Aber - sie waren eben gleichgültig, die Bauten und die Menschen darin. Niemand nahm Notiz von dem Mann mit dem Esel, nichts, außer er bezog das gelegentliche Brüllen auf sich, und manchmal sah er deutlich den Bogen, den die Kästen um ihn und den Esel beschrieben, wenn sie auswichen. Man konnte sich da schon verloren und nichtig vorkommen.

Dann war da der Kischlak! Nasreddin atmete auf, glitt vom Esel, führte ihn hinunter von der Straße, auf einen lehmstaubigen Weg, mitten hinein zwischen die Häuser. Er atmete deshalb befreit auf, weil er endlich wieder auf Bekanntes traf, hier fühlte er sich wohler als zwischen diesen eisernen Kästen da draußen, hier standen die Häuser ohne Räder fest verwurzelt mit dem Boden, hatten die vertraute gelbliche Farbe des Lehms, in dem das eingebackene Stroh dort, wo die Sonne es traf, ein freundliches Glitzern hervorzauberte, als sei es ein schmückender Schleier.

Nasreddin wanderte langsam, sah nach links und rechts. Ja, da war Leben. Magere Hunde strichen über die Wege, er hörte Kindergeschrei hinter den Mauern, sah die Kleinen tollen. Zwei Männer, in ein angeregtes Gespräch vertieft, begegneten ihm, im Chalat und mit der Tjubeteika auf dem Kopf, dem Käppchen, das man in Choresm trug.

Und als Nasreddin grüßte, antworteten sie »Salam!«

Die Granatapfelbäume in den Vorgärten trugen rote, reifende Früchte. Manchmal stand eine Tür offen, und man konnte die prächtigen Weintrauben von den Gerüsten, die den Hof überspannten, herunterhängen sehen.

Niemand nahm von Nasreddin weiter Notiz, außer dass man ihn grüßte oder auf seinen Gruß antwortete. >Also bin ich doch einer von ihnen<, dachte er, >also ist mit mir zumindest nichts Außergewöhnliches geschehen.< Kaum hatte er diesen Gedanken gefasst, begann er, seine Umgebung kritischer zu betrachten. Und dann fiel ihm auf, dass es doch etwas Neues war, wenn Türen zu Höfen offen standen und man sehen konnte, was sonst ängstlich den Blicken Neugieriger verwehrt worden war. Gleichzeitig nahm er verwundert wahr, dass die meisten der Häuser Fenster hatten, die zur Straße zeigten und in die er hätte bequem hineinschauen können.

Auf den Dächern türmten sich die Heu- und Strohschober, wie Nasreddin es kannte. Sie waren Vorrat, Futter für die Schafe und Schutz vor den eiskalten Winterstürmen zugleich. Das also war es nicht, was an diesen Dächern auffiel. Eher merkwürdig empfand er die vielen schlanken Stangen, die zwei, drei Mannslängen hochragten und an ihrem oberen Ende sehr verunglückte und sicherlich nur umständlich zu gebrauchende Heurechen trugen.

Nasreddin wiegte nachdenklich den Kopf. >So gut kennst du dich in Choresm nicht aus, Freund, bist zu Besuch hier, auf Einladung Timurs, des Herrschers persönlich.< Nasreddin hätte tatsächlich nicht zu sagen vermocht, ob diese Stangengeflechte schon die Dächer zierten, als er nach Chiwa geschleppt wurde, und ob ihm dieses lediglich nicht aufgefallen war. >Ein Wunder wäre es nicht, habe, weiß Allah, an andere Dinge gedacht ... Sicher ein Brauch zur Abschreckung böser Geister oder ein Platz für die guten, wer weiß.<

Es war dies ein großer Kischlak. Mehr zum Zentrum hin nahm der Strom der Leute zu, und nicht jeder von denen, die ihm begegneten, blickte so, dass er gegrüßt werden wollte, und nur noch wenige grüßten ihn. Dass unter den Passanten sich gleich viele Frauen wie Männer bewegten, verwunderte Nasreddin nicht mehr. Allerdings fehlten hier diese hellhäutigen in ihrem scharenweisen Auftreten. Ab und an einer - aber mit dem gleichen Blick und der gleichen Geschäftigkeit wie diese Usbeken. Manchmal traf Nasreddin einen Mann mit einem Esel, und in nichts unterschied der sich von ihm und seinem grauen Freund.

Dass das Chanat Chiwa so reich war, hätte Nasreddin nicht angenommen. Der Kischlak jedenfalls deutete auf Wohlhabenheit der Leute hin. Es gab sogar Häuser übereinander und mit festem Dach.

Auf einmal stand Nasreddin vor einem - Basarhaus mit jenen blanken Flächen aus durchsichtigen Majolikascheiben in den Fenstern, einem Haus, dessen Decke nicht aus Kuppeln gebildet wurde wie in den Basarhallen in Chiwa, sondern wo sich Platten von Pfeiler zu Pfeiler hinzogen wie ein zweiter, meisterlich gestampfter Boden.

Ein wenig umständlich band Nasreddin seinen Esel fest, sich scheu umblickend. Er war misstrauisch und neugierig, hätte sich zu gern die Waren angesehen, war sich aber keineswegs sicher, ob er nicht in neue, für ihn nicht beherrschbare Situationen geraten würde. Ein wenig Vorsicht schien ihm in dieser verrückten Welt geboten.

Aber die Menschen, Männer, Frauen, Kinder, gingen durch die um sich schlagenden Türen. Und niemand kümmerte sich um den anderen.

Zurückhaltend reihte sich Nasreddin ein, und geschickt fädelte er sich hinter einer dicken Frau durch die pendelnde Tür.

Wenig später kam er sich vor wie in ein Märchen aus tausendundeiner Nacht versetzt. Das war kein Basar, das war das Paradies. Und einen Augenblick dachte er wieder daran, ob er, vielleicht doch getötet, in Allahs Reich Gnade gefunden hatte. Wie im Traum wandelte Nasreddin zwischen den Verkaufstischen und betrachtete gleichsam mit Kinderaugen die Schätze in den Regalen.

Es musste dies ein Ausstattungshaus für Emire und Chane sein, dessen war er sich nach dem ersten Eindruck sicher. Buntes Geschirr gab es: farbige Schmetterlinge auf schneeweißem Untergrund. Nicht ein Teil als wohlgelungenes Stück eines Meisters, nein, Hunderte. Und Tassen. Glänzende Töpfe, einer wie der andere und ganz ohne Spuren des Treiblings. Dort drüben, ha, Birnen in festen, durchsichtigen und ebenmäßigen Säcken, kleine bunte Häuschen auf Rädern, ganz ähnlich den großen, die nicht weit von hier auf der Straße fuhren.

Plötzlich wich er ein paar Schritte von einem Stand zurück. Ein Teufelsding stand da. Kleine Menschen in farbigen Trachten sangen und tanzten hinter einer Scheibe, die nicht größer war als einer von den Riesenbrotfladen, die es in diesem Ausmaß nur in Choresm gab. Und nicht genug: Ein junges Mädchen mit schwarzen Augen und dicken Zöpfen bis zu den Hüften, auf dem Kopf eine prächtige gestickte Tjubeteika, tat leicht etwas mit den Fingern an dem Kasten, in dem sich der Fladenschirm befand. Und statt der Tänzer und Sänger saß da plötzlich ein dicker Mann, der pausenlos in einer unbekannten Sprache redete und dem Beschauer unablässig in die Augen sah. Erneut gab es einen Knack, und - Nasreddin wagte kaum hinzuschauen, so schämte er sich - wenig bekleidete Mädchen sprangen von einem stattlichen Gerüst unter allerlei Körperverrenkungen. Fast hätte er aufgeschrien, wenn er nicht im letzten Augenblick das Wasser bemerkt hätte, das den Sprung sanft auffing ...

Als er jedoch begriff, dass seine Scham völlig unangebracht war, viele schauten hin - manche gleichgültig, gelangweilt -, gab er sich diesem Anblick hin. Und es waren da schwarze und hellhaarige, schlanke und mollige Mädchen, die ins Wasser tauchten.

Nasreddin stand verzückt und schaute, vergaß die Welt um ihn her ...

»Seht euch den an«, hörte er da plötzlich. Ein Kichern folgte. Erschrocken wandte er sich zur Seite. Hinter einem Tisch standen zwei dieser glutäugigen, drallen Usbekinnen mittleren Alters, hatten die Köpfe zusammengesteckt, lachten und tuschelten, sahen aber unablässig zu ihm herüber.

Schnell hatte er sich gefangen. »Wisst ihr, Tantchen«, sagte er, »auch den Augen muss man eine Freude gönnen. Schon zu viele wie euch habe ich heute gesehen.« Und mit einem letzten Blick auf diese Teufelskiste wandte er sich ab, aber ein kleiner Seufzer der Entsagung rang sich noch aus seiner Kehle.

»Hört euch den Frechdachs an!«, sagte die eine.

»Er ist wohl mehr auf den Kopf als aufs Maul gefallen«, die andere.

Aber sie lachten noch, als er scheel über die Schulter zurückblickte.

Vor ihm kauften junge Frauen Kleider oder wählten zwischen flammend bunt gefärbten Stücken, wie sie nur für Prinzessinnen gefertigt sein konnten oder für die Lieblingsfrau des Chans. Auch Nilufar hätte sich darin sehen lassen können.

Nilufar ...

Aber Prinzessinnen oder gar Lieblingsfrauen glichen diese, die respektlos in den Kostbarkeiten wühlten, wahrlich nicht. Keine sah aus, als käme sie vom Hof des Chans.

Nun schaute Nasreddin genauer hin. Vor ihm kaufte ein alter Mann ein Messer, ein schönes Messer, wie es Schuchrad, der Schmied, niemals hätte anfertigen können. Der Alte trug einen schmuddligen Chalat, und seine Schuhe legten Zeugnis ab, dass er einen weiten Weg in Staub und Lehm zurückgelegt hatte. Der Mann prüfte mit dem Daumen die Schneide, wiegte zufrieden den Kopf und schob, oh Wunder, dem Mädchen hinter dem Tisch, einem schmalen sommersprossigen - >Allah, wie vielfältig sind die Antlitze der Frauen, und gepriesen seist du, dass du sie mich schauen lässt!< -, einige zerknitterte Papierchen über den Tisch. Und diese wie vom lehmigen Regen gesprenkelte Blüte nahm die schäbigen Scheinchen und tauschte dafür das Messer. Der Alte schlurfte hinaus, schob das Erstandene in den fleckigen Chalat.

»Bitte, was wünschen Sie?«

Nasreddin, noch nicht über sein Wundern hinaus, schreckte zusammen. Unmittelbar vor ihm stand schief das schmale Gesichtchen, und die Augen blickten erwartungsvoll.

»Ein, ein - auch ein Messerchen, Sonnenblume!«

Das Mädchen runzelte die Stirn, lächelte dann und holte unter dem Tisch einen Gürtel hervor, in dem an die zehn Messer steckten, eines blitzender und messriger als das andere.

Nasreddin zog laut die Luft durch die Nase ein, nahm dann eines dieser Schneidwerkzeuge nach dem anderen, prüfte, fuchtelte sogar vor den Augen der Verkäuferin in einem Scheinkampf herum, bis er hinter sich hörte: »Ich hab’ ja gleich gesagt, der hats mit dem Kopf ...«

»Na, darf es eins sein?«, fragte das Mädchen. Aber es klang wie: »Hast du nun dein Spielchen gehabt, Narr?«

Plötzlich fühlte sich Nasreddin unbehaglich. »Das«, sagte er und drückte den Finger auf eine Klinge, dass der weiß wurde.

»Gut.« Sie war wieder ganz freundlich. »Ein schönes Messer, Onkelchen. Soll ich es einpacken? Achthundert Sum.«

Nasreddin runzelte die Stirn. Aber pfiffig hob er dann achtungsgebietend den Zeigefinger und schüttete, indem er sich über den Tisch beugte, den gesamten Inhalt des Tuches vom Basar vor dem Mädchen aus, sodass dieses zu tun hatte, die rollenden Münzen vor dem Herabspringen zu bewahren. Dabei schüttelte sie unwillig den Kopf. »Achthundert Sum«, wiederholte sie.

Da sah er sie an, hob langsam die Schultern.

Sie verzog den Mund und schob mit langem Zeigefinger schicksalsergeben Scheine und Münzen aus dem wirren Häufchen und sagte, als sie offenbar hatte, was sie brauchte: »Achthundert Sum.«

Zwei Buben lümmelten schon eine geraume Zeit am Ende des Verkaufstisches. »Der kennt das Geld nicht. Hättest in der Schule aufpassen müssen, Onkelchen«, rief der eine.

Nasreddin blickte hilflos.

»Pass auf!« Der andere Junge tat sich hervor. »Das sind zehn Sum, das drei, und das ist immer einer ...« Und er sortierte aus dem Häufchen die Scheine aus, glättete sie ein wenig und legte sie als Bündel.