Impressum

Hildegard und Siegfried Schumacher

Der Junge mit dem großen schwarzen Hund

ISBN 978-3-86394-458-2 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1981 beim Kinderbuchverlag, Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Der Schwarze

Ulf verspürte zuerst Angst, als der große Schwarze auf ihn zukam, und dachte einen Augenblick lang daran, wegzulaufen. Dann dachte er, dass es sinnlos wäre, und blieb stehen, und als der Schwarze dicht vor ihm stoppte, nahm Ulf all seinen Mut zusammen und sagte: "Na, Alter?"

Sicher hätte der Schwarze dasselbe erwidert. Nur können Hunde nicht reden. Er wedelte mit dem Schwanz. In der Hundesprache könnte das: Na, Alter! heißen, aber vielleicht hieß es auch gar nichts und zeigte einfach die Freude an, die der einsam vor sich hin Trottende für das freundliche Wort empfand.

"Na, komm schon, komm", sagte Ulf, und er streichelte den Hund.

Dem Schwarzen schien das zu gefallen. Er begann Ulfs Knie zu belecken. Ulf störte es nicht, und um sich mit dem Hund näher bekanntzumachen, fragte er: "Wie heißt du denn?"

Klar, die Frage verfehlte ihren Zweck. Selbst bei einem schwerhörigen Regenwurm wäre der Erfolg nicht geringer gewesen. Ein Hund ist aber keinesfalls dumm. Er merkt, dass mit ihm gesprochen wird. Sofort bemühte sich der Schwarze, seine Dankbarkeit noch spürbarer zu machen, und leckte aktiver, doch nun Ulfs anderes Knie.

"Ist ja gut", sagte Ulf und blinzelte dem Hund zu. Der blinzelte zurück.

"Du bist mir schon einer", sagte Ulf und legte ihm beide Arme um den Hals. Der Schwarze schmiegte sich an, als wäre er froh, nicht länger allein zu sein. "Bist du auch neu hier?", fragte Ulf, und er erzählte, dass er erst vor drei Tagen mit seinen Eltern ins Neubauviertel gezogen sei. Lange haben sie davon geschwärmt: Junge, eine neue Wohnung, immer warmes Wasser aus der Wand und Fernheizung, und du, du kriegst dein eignes Zimmer. Alles war prompt eingetroffen.

Und trotzdem! Richtig wusste Ulf nicht, was mit ihm war.

Vielleicht lag es an den hohen hellen Häusern mit den langen Balkonreihen, eins wie das andere aussehend, so dass man dort, wo schon Plattenwege und Rasenflächen angelegt waren, glatt Straße und Hausnummer verwechseln konnte. Seinen Block kannte Ulf auf den ersten Blick heraus. Es war der letzte vor der Baustelle. Dort wurden schon die nächsten Blocks hochgezogen. Da war der riesige Kran, der die Bauplatten an die richtige Stelle hob, und da waren die Bauarbeiter. Sie trugen Schutzhelme, und mit dem Kranführer unterhielten sie sich über Sprechfunk. Natürlich hatten Kinder dort nichts zu suchen. Auf einem Schild stand mit Ausrufezeichen zu lesen: Unbefugten ist das Betreten der Baustelle verboten! Die Bauarbeiter aber waren richtige Menschen. Sogar über Sprechfunk ließen sie Ulf mit dem Kranführer reden. Wie der Brigadier hatte er gerufen: Hallo, Franz! Der fragte sofort zurück: Ein Neuer? Und der Brigadier hatte mit: Genau! geantwortet.

"Moderne Technik, verstehst du", sagte Ulf zu dem Schwarzen, "die Bauarbeiter sind schwer in Ordnung."

Ulf konnte also nicht behaupten, dass es in Eberswerda langweilig war. Während er den Schwarzen an sich drückte und mit ihm redete, wusste er plötzlich, was ihm fehlte. Andi fehlte ihm und Frank und Ralf auch. Immer hatten sie zusammengehalten, und wer ihnen etwas tun wollte, der sollte nur kommen! Nachmittags hatten sie sich im Wald Buden gebaut oder waren mit ihren Rädern zum Krebssee gefahren, und wenn sie plötzlich mächtigen Hunger oder Durst verspürten, war es von dort bis zu Andis Großmutter nur ein Katzensprung.

"Weißt du, Alter", sagte Ulf, "sie kocht die beste rote Grütze, die du dir denken kannst. Eine prima Oma."

Der Schwarze leckte sich die Schnauze. Ulf aber fuhr in Gedanken mit seinen Freunden durch Ranklitz, vorbei an den ein- oder zweistöckigen Häusern, kein einziges glich dem andern, mal über Holperpflaster, mal auf dem Fußsteig, wie es in einem so kleinen Ort fernab von den großen Straßen üblich ist, sie fuhren unterm grünen Dach der Linden- und Rotdornalleen, und bei Eisenschmidt parkten sie ihre Räder und beguckten sich das Schaufenster, ob er neues Angelzeug oder Fahrradspiegel mit extralangem Stiel ausgestellt hatte. Das Neuste legte Eisenschmidt immer ins Schaufenster. Nebenan befand sich die PGH-Metall, wo der Vater gearbeitet hatte, und eine Straßenecke weiter der rote Backsteinbau der Schule mit den Säulen vorm Haupteingang. Und als Ulf an das alles dachte, sehnte er sich nicht nur nach seinen Freunden, sondern noch mehr nach Ranklitz, das über zweihundert Kilometer weit weg war. "Ach, Schwarzer", sagte Ulf und umarmte ihn noch fester. Als er dessen feuchte Zunge spürte, wurde dem Jungen leichter ums Herz. So schlossen die beiden Freundschaft.

"Ich heiße Ulf", sagte Ulf. Der Schwarze wedelte mit dem Schwanz. "Also Ulf", sagte Ulf noch einmal, damit sein neuer Freund es sich fest einprägte. "Und dir gebe ich einen Namen, der zu dir passt."

Leichter gesagt als getan.

Unmöglich konnte Ulf das große starke Tier Mohrli nennen, eher schon Räuber oder Pirat. Aber nein, es musste ein besonderer Name sein, den nicht jeder Allerweltshund trug. "Was hältst du von Simba?"

Der Schwarze schüttelte sich. "Hast Recht", sagte Ulf, "ist mehr ein Löwenname."

Er setzte sich in Bewegung. Der Schwarze blieb dicht neben ihm und stupste ihn mit der Schnauze an, als wollte er sagen: Komm, Kumpel, schneller! Ulf begann zu laufen. Der Schwarze rannte voraus, warf sich mit Schwung herum, raste auf Ulf zu und sprang ihn an. Beinahe hätte er ihn umgeworfen. "Mein lieber Mann", sagte Ulf, "bist du stark!"

Im selben Moment fiel ihm ein Name ein. Einer, der fremd und gewaltig und geheimnisvoll klang. "Nepomuk", sagte Ulf, "du wirst Nepomuk heißen!"

Der Schwarze bellte. Sein neuer Name gefiel ihm also. Jedes Mal, wenn Ulf "Nepomuk!" rief, drehte der Hund sich um, guckte und raste ihm entgegen und ließ sich den Rücken klopfen.

Bald waren sie an der Baustelle angelangt. Der Brigadier stand mitten auf dem Plattenweg, hatte den Schutzhelm nach vorn geschoben und rieb sich das Genick, als täte es ihm weh vom dauernden Emporstarren zum Baukran, der gerade ein Stockwerk fertig aufgesetzt hatte. "Verschnaufpause", sagte der Brigadier zu Ulf, und als Nepomuk ihn beschnupperte, "ist das deiner?

"Klar, das ist mein Nepomuk." Der Brigadier beugte sich hinunter und kraulte den Schwarzen hinter den Ohren. Plötzlich schallte Franz' Stimme aus dem Sprechfunkgerät: "Hallo, ihr da unten!" Darüber erschrak Nepomuk sehr. Nach seiner Hundeerfahrung sprachen die Menschen mit dem Mund und nicht aus der obersten Brusttasche. Er ließ einen Beller los. Franz lachte und fragte: "Noch ein Neuer, Brigadier?"

"Ein Nachtwächter", antwortete der, "und stark wie'n Bär." Er hielt dem Hund das Sprechfunkgerät hin. "Sag dem Kollegen guten Tag, Nepomuk."

Der Schwarze kläffte. Als aus der Brusttasche ebenfalls Gebell kam, kroch er knurrend zur Seite. "Na, was hast du denn, Alter", sagte Ulf, "das ist doch bloß Franz auf dem Kran."

Egal, Nepomuk war die moderne Technik unheimlich. Er mochte sie nicht, und er hob sein linkes Hinterbein an einem Stapel Großbauplatten. Der Brigadier lachte und Franz aus dem Sprechfunkgerät auch. Nepomuk aber guckte sich nicht mehr um. Er trottete weiter. Ulf rief den Bauarbeitern: "Tschüs!" zu und lief seinem Hund nach bis dorthin, wo noch keine Baustelle eingerichtet war und die Planierraupen erst vor kurzem so etwas wie eine Wüste hinterlassen hatten.

Immer wieder zu Ulf zurückkehrend, jagte Nepomuk über die öde Fläche. Hinter ihm stiebten Staubwolken auf. Es war wie in der Sahara. Ulf wanderte durch den tiefen Sand, und Nepomuk, sein treuer Gefährte, suchte ihm den Weg zur nächsten Oase. Die Sonne stach, die Kehle brannte vor Durst. Vielleicht würden sie es nie schaffen.

Und dann waren sie doch angekommen. Ein mächtiger Baum, dicht belaubt bis hinunter zu den untersten Zweigen. Sie umschlossen Ulf und Nepomuk wie ein grünes kühles Haus. Die beiden setzten sich ins Gras, und Ulf sah auf die breiten gezackten Blätter, größer als eine Männerhand, er sah den dicken Stamm mit der glatten grauen Rinde. Ulf wusste nicht, was für ein Baum es war. Solch einen hatte er noch nie gesehen. Er musste sehr alt sein. Einsam stand er am Rande der Sahara. Sicher reichten seine Wurzeln tief hinunter zu den Wasseradern in der Erde. Darum war er so groß und stark geworden, und Ulf dachte, an ihn haben sie sich nicht herangetraut, die Leute mit der Planierraupe, er ist noch stärker als sie. Darüber war Ulf froh, und er strich Nepomuk, der neben ihm alle viere von sich streckte, über das Fell. Ringsum war es still. Nur der Wind summte im Baum und spielte mit den Blättern. Ranklitz war weitab und nah zugleich. Zum ersten Mal fühlte sich Ulf in seiner neuen Welt zu Hause.

Als Nepomuk ihn anstupste, knisterte es in Ulfs Hosentasche, und ihm fiel die Zellophantüte voller Himbeerbonbons ein. "Magst du?", fragte Ulf. Nepomuk mochte. Brüderlich teilten sie.

Auf einmal merkte Ulf, dass Dämmerung ihr grünes Haus erfüllte, und als er aufsprang und sie ins Freie traten, sah er, wie weit der Abend herangerückt war. Die Eltern liebten es nicht, wenn er so spät nach Hause kam. Ulf begann zu laufen, und Nepomuk blieb ihm dicht auf den Fersen. Sie durchquerten die Sahara. Auf der Baustelle gingen die Lampen an. Schneller, schneller! Sie rannten auf den ersten Aufgang des Blocks zu, und noch vor Ulf stürmte Nepomuk durch die Haustür. "Stopp, Alter!", rief Ulf.

Nepomuk drehte sich um und guckte. "Du", sagte Ulf, "ich glaube, das geht nicht."

Nepomuk legte den Kopf schief. "Es geht wirklich nicht, Ehrenwort!" Da streckte sich Nepomuk, wo er stand, lang aus. Um die Treppe hinaufgehen zu können, hätte Ulf über ihn hinwegsteigen müssen.

"Glaub mir, die fallen um, wenn ich dich mitbringe."

Selbst das überzeugte Nepomuk nicht.

Warum lief er nicht fort? Hatte er kein Zuhause? "Wenn du wenigstens etwas kleiner wärst!" Ulf schloss die Augen und wünschte, Nepomuk möge sich in eine Art Taschenausgabe verwandeln, doch er wusste, dass es sinnlos war. Solchen Zauber gab es nur im Märchen. Leider.

Ich muss Nepomuk fortjagen! Kaum gedacht, schnürte es Ulf fast das Herz ab. Einen Freund darf man nie im Stich lassen! Der Satz stammte von Andi. Auch Ulf hatte ihm zugestimmt. Dabei hatten sie sich die Hand gegeben im Ranklitzer Wald am Findlingsstein. Der schwarze Nepomuk war Ulfs Freund. Der einzige, den er im Neubauviertel hatte. Er durfte ihn nicht im Stich lassen. Die Eltern mussten ihn aufnehmen!

An sich hatte er ganz vernünftige Eltern, fand Ulf, obwohl mitunter die vernünftigsten Eltern komisch sein konnten. Dem musste er vorbauen. Er beschloss, Nepomuk Verhaltensregeln zu geben. Ulf war es von seiner Mutter gewohnt. Nicht alles kam an, doch er wusste, ein bisschen blieb hängen. "Hör zu", sagte er zu Nepomuk, "benimm dich manierlich und spring Mutter nicht an. Sie ist schreckhaft." Sie begannen die Treppe hinaufzusteigen. "Und sei nicht neugierig! Mutter kann Rumschnüffelei nicht vertragen." Als sie den vierten Stock erreicht hatten, legte Ulf eine kleine Pause ein."Und mit Vater musst du dich gut stellen, dann kriegen wir Mutter schon herum. Verstehst du?" Und Ulf dachte, sie werden einen Heimatlosen doch nicht hinauswerfen! Dann klingelte er.

Schritte. Ulf hörte die Mutter schon, ehe er sie sehen konnte. "Was denkst du dir überhaupt!" Dann war die Tür auf, und die Mutter verstummte, als sie den Schwarzen erblickte. Ja, sie schnappte nach Luft wie ein Fisch im Trocknen.

"Der ist mir zugelaufen", erklärte Ulf, und es war ihm nicht wohl dabei.

Der Zugelaufene hatte sich bereits an der Mutter vorbeigeschoben, stand auf dem Flur und witterte in Richtung Wohnzimmer. Von dort rief der Vater: "Bist du endlich da, du Stromer!" Nepomuk. bezog es auf sich. Er bellte freudig und rannte in das Zimmer hinein.

"Mich laust der Affe!", schrie der Vater und dann: "Hilde! Hilde!" Es hörte sich wie Hilfe! Hilfe! an.

Die Mutter stürzte ins Wohnzimmer, Ulf hinterher. Nepomuk hatte seine Vorderpfoten dem Vater, der im Sessel saß und die Zeitung gelesen hatte, auf die Schultern gelegt. Dabei musste er etwas unsanft mit dem Neuen Deutschland umgegangen sein, wie man aus den zerknitterten Seiten auf dem Boden schließen konnte. Der Vater war in den Sessel hineingerutscht, es war ein bequemer und breiter Sessel, in den man sehr gut hineinrutschen konnte, und Nepomuk besah sich den Vater, das heißt, er besah ihn nicht nur, er schien ihn auch beriechen zu wollen.

"Du brauchst keine Angst zu haben", sagte Ulf, "das ist unser Nepomuk."

"Unser?", fragte der Vater, als hörte er nicht recht.

"Sofort bringst du den Köter hinunter!", befahl die Mutter. "Der hat doch Flöhe!"

"Ich merke nichts", verteidigte Ulf seinen Freund, "und wir waren den ganzen Nachmittag zusammen."

"Oder er ist krank. Solche Hunde sind meist krank!"

"Krank?" Der Vater schüttelte den Kopf. "Nein, nach krank sieht der mir ganz und gar nicht aus."

Ulf erblickte daraufhin im Vater einen Bundesgenossen und sagte sofort: "Nepomuk ist ein kräftiges Tier. Das hat der Brigadier extra gesagt."

"Zu kräftig", bemerkte der Vater.

"Auf alle Fälle muss der hier raus!" forderte die Mutter. Nepomuk rührte sich nicht. Er tat, als wäre sie gar nicht vorhanden, und richtete seine Augen auf den Vater. Eine so dickfellige Haltung war die Mutter in ihrer Familie nicht gewohnt. Der Vater versuchte ihr das zu erklären. "Er erkennt dich nicht an, Hildchen."

"Der wird mich schon anerkennen!" sagte die Mutter, verärgert über diese Respektlosigkeit, und holte einen Besen.

"Sei vorsichtig!", warnte der Vater. "Das ist so bei Hunden, sie gehorchen nur dem Leittier."

Da stellte die Mutter den Besen hin. Sie schien die Welt nicht mehr zu begreifen, und der Vater, der nun völlig Herr der Situation war, sagte: "Ulf, du bringst den Hund hinunter. Du siehst, Mutter regt sich zu sehr auf."

Nein, das konnten sie nicht von ihm verlangen! Ulf beschloss, seinen Kopf durchzusetzen. Nicht mit Dickkopf. Man hatte schließlich seine Erfahrungen. Ulf beschloss, es ganz ruhig und mit Vernunft anzufangen. Sie redeten doch immer, wenn du groß sein willst, musst du dich auch vernünftig wie ein Erwachsener benehmen. Er hockte sich neben Nepomuk hin, streichelte ihn und sagte: "Guckt mal, wie brav er ist. Zuerst war ich auch erschrocken, aber vor dem brauchst du überhaupt keine Angst zu haben, Mutti. Komm hoch, Alter, lass dich mal anschauen." Und der Hund erhob sich tatsächlich.

"Siehst du, Ulf erkennt er an", sagte der Vater. Die Mutter wies mit dem Finger zur Tür. "Wer mich nicht anerkennt, der hat hier nichts zu suchen."

Ulf bat: "Lass ihn doch hier, Nepomuk ist ein Heimatloser."

"Wenn der bleibt, werden wir alle heimatlos."

"Wieso?", fragte Ulf. Darauf antwortete die Mutter nicht, aber von ihrem Gesicht war abzulesen, dass sie eine Menge Schwierigkeiten befürchtete. Was sollte jedoch schwierig sein? Wenn Nepomuk sein Futter und einen Platz zum Schlafen bekam, genügte es völlig. Mehr wollte Ulf gar nicht. So ein Theater, dachte er, und bloß weil Nepomuk Mutti nicht anerkennt.

"Bitte, Vati", sagte Ulf, und er erzählte, wie er seinen Freund kennen gelernt hatte. Die Eltern unterbrachen ihn nicht. Es wurde ganz friedlich im Zimmer. Ulf hielt das für ein gutes Zeichen.

"Nur Himbeerbonbons hat er zu fressen bekommen?", fragte die Mutter. - Ulf nickte.

"Dann werde ich ihm mal was geben. Aber danach..." Ihre Stimme wurde wieder lauter. "...danach bringst du ihn gleich hinunter." Sie wich Ulfs Blick aus und ging schnell in die Küche. Nepomuk trabte hinterher.

"Bleib mal hier, mein Junge", sagte der Vater, und er räusperte sich. "Du... du wirst schon wieder Freunde finden."

Ulf blickte misstrauisch auf. Was hatte das mit Nepomuk zu tun?

"So ein Hund, so ein großes Tier... Junge, den können wir nicht behalten. Es geht einfach nicht. Das musst du einsehen, du bist ja kein kleines Kind mehr."

Immer, wenn man etwas einsehen sollte, rechneten sie einen plötzlich zu den Großen. Geschenkt! dachte Ulf, und er ließ den Vater weiterreden, ohne ein Wort zu sagen. Ulf guckte nur auf besondere Art. Er hatte es öfter ausprobiert, wie man damit die Eltern herumkriegt.

Der Vater stand auf aus seinem Sessel, ging auf und ab und sprach davon, dass der Hund viel zuviel allein bleiben müsste, den ganzen Vormittag. Das wusste Ulf selbst, aber nachmittags war er zu Hause. Ulf wollte auch nicht einsehen, dass das Eingesperrtsein für den Hund eine Tierquälerei wäre. Wenn Nepomuk kein Zuhause hatte, war es erst recht Tierquälerei. Dass der Vater das nicht begriff! Und immer wieder fing er von der Wohnung an und wie die Mutter sich darüber freute, es endlich schön zu haben, und nun dieser Hund. "Ulf", sagte der Vater schließlich und blieb stehen, "guck doch nicht dauernd wie ein krankes Huhn! Also gut, heute behalten wir den Nepomuk hier, aber morgen suchst du seinen Herrn. Irgendwem muss er gehören. Wir können ihn unmöglich nehmen. Begreifst du das?"

Bis morgen war es lange hin, und mehr konnte Ulf im Augenblick nicht verlangen.

Sie gingen in die Küche, wo Nepomuk beim Fressen war. "Einen Appetit hat der!", sagte die Mutter. Sie mochte Leute mit Appetit. "Ich hab die Kotelettknochen für ihn abgeschnitten, die waren weg wie nichts." Ulf sah, dass sie ihm auch das Fleisch gegeben hatte. Gerade verputzte er den letzten Happen. Und danach eine Scheibe Zungenwurst und den Rest Bierschinken vom vorigen Tag.

"Der Köter frisst uns arm", stellte die Mutter kopfschüttelnd fest. Nepomuk blickte sie aus treuen Augen an und wedelte in seiner erprobten Hundesprache mit dem Schwanz. Die Mutter stöhnte und angelte ein paar Bockwürste aus dem Kühlschrank, die Nepomuk ohne Schwierigkeiten hinterherschickte.

"Eigentlich ein friedliches Tier", sagte der Vater.

"Weil er jetzt satt ist", sagte die Mutter mit Nachdruck und füllte eine Schüssel voll Wasser. Nepomuk schlappte sie leer, und die Familie sah ihm dabei zu. Während des Abendbrots lag er höchst zufrieden und ohne zu betteln auf dem Teppich.

"Gut erzogen und freundlich ist er wirklich", sagte der Vater. "Wahrscheinlich ein Neufundländer, die sind so."

Die Mutter zog zweifelnd die Augenbrauen hoch und tippte auf eine starke Beimischung von Schäferhund und Dogge, womöglich auch Windhund.

"Dackel aber nicht", sagte Ulf.

"Jedenfalls eine ganz gewöhnliche Promenadenmischung", behauptete die Mutter.

Der Vater hustete, als wäre ihm etwas in die falsche Kehle gekommen. "Hildchen", sagte er dann und holte tief Luft, "das ist nämlich so, der Hund bleibt über Nacht bei uns." Und er erklärte der entgeisterten Mutter seinen Beschluss. Sie fasste sich schnell. "Ulf", befahl sie, "bring den Hund hinunter!"

"Aber ich hab versprochen...", fuhr der Vater auf.

"Soll er hier Pfützen machen? Erst muss er mal runter!" Ulf verzog sich mit Nepomuk im Eiltempo. Bevor er noch die Wohnungstür hinter sich zumachte, hörte er, wie die Mutter ihren berühmten Satz abschoss: "Was denkst du dir überhaupt!" Der Vater bekam eins aufs Dach, hinterher diskutierten sie, zum Schluss aber richtete sich die Mutter doch nach ihm, und das Gewitter war vorüber. Ulf ließ sich Zeit, um nicht ins letzte Wetterleuchten zu geraten. Jedenfalls durfte er Nepomuk wieder mit hinaufnehmen. Dass er weglaufen würde, hoffte die Mutter vergeblich. Diese Nacht also. Aber morgen und übermorgen? "Alter", sagte Ulf, "ich versteh nicht, warum sie sich so haben."

Seite an Seite gingen sie bis zur Baustellenstraße. Dahinter in der Dunkelheit lag die Sahara, und an ihrem Ende stand der große Baum. Ulf sah ihn nicht, doch er wusste, dass er da war. Vielleicht wurde alles gut.

Als sie nach Hause zurückgekehrt waren, legte die Mutter eine dicke Decke für Nepomuk auf den Flur. Solange er da war, sollte er es gut haben. Ein bisschen mag sie ihn doch, dachte Ulf, und er schlug vor, was er sich wünschte: "Mutti, Nepomuk kann bei mir..."

"Nein", unterbrach sie ihn streng, "in deinem Zimmer nicht! Mensch ist Mensch, und Tier ist Tier. Und dass du ihn nicht mehr anfasst, wenn du dich gewaschen hast!"

Ulf wollte die Mutter nicht aufregen und ging schnell ins Bad. Das gefiel ihm mit am besten in der neuen Wohnung. Die ersten beiden Abende hatte er lange getrödelt, die blitzenden Hähne und die Dusche ausprobiert und sich in so viel Schaumbad geaalt, dass er es kaum aus der Wanne gespült bekam. In Ranklitz hatten sie mit dem Waschbecken in der Küche zufrieden sein müssen. Sicher verzichtete die Mutter des Badezimmers wegen auf die Fußkontrolle, die ihn immer so geärgert hatte, dass er abwechselnd nur das linke oder das rechte Bein wusch und ihr hinhielt. Nie war die Mutter dahinter gekommen. Ulf kicherte, als er daran dachte.

"Na, wieder vergnügt?", erkundigte sich der Vater, und die Mutter sagte wie immer: "Schlaf schön, Ulf." Sie saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher, Friede war eingekehrt, und das fand Ulf viel versprechend.

Nepomuk hatte sich der Länge nach auf seiner Decke ausgestreckt und bildete auf dem Flur ein Verkehrshindernis. "Hast du es gemütlich?", fragte Ulf.

Nepomuk blinzelte und rekelte sich noch breiter hin.

"Fühlst dich zu Hause, was?" Die Mutter rief: "Ins Bett, schnell!"

Ulf gehorchte ohne Widerrede. Für sehr vernünftig hielt er sich, und er glaubte, dass das belohnt werden würde. Vielleicht... Ach was, ganz sicher!

Ulf sah sich bereits tagein, tagaus mit seinem Nepomuk umherspazieren. Kunststücke würde er ihm beibringen. Vielleicht konnten sie später im Zirkus auftreten. Zuerst natürlich vor der Klasse. Hochverehrtes Publikum, wir geben uns die Ehre, euch eine Galavorstellung vorzuführen. Und dann ging es los: der Rad fahrende Hund, der boxende, der singende, der fliegende Hund... Und eines Tages dann, wenn sie hundert Kunststücke konnten, starteten sie in die weite Welt, und von jedem Ort schickten sie den Eltern eine Ansichtskarte, eine ganz bunte. Aus Berlin und Leipzig und Moskau, aus Paris und Havanna und wer weiß woher noch. Sicher lernte Nepomuk sogar, auf jede Karte mit eigenhändiger Pfote zu setzen: Viele Grüße Euer Nepomuk, und die Eltern staunten darüber, schreiben kann er auch schon! Wer weiß, dachte Ulf, was aus Nepomuk alles wird. Womöglich auch ein Lebensretter, oder ein berühmter Kriminalkommissar borgt ihn sich als Spürhund. Wer weiß... Und darüber war Ulf eingeschlafen.

Natürlich träumte er von sich und seinem Hund. Gerade hatten sie ein kleines Mädchen aus dem Wasser gerettet, und sie gingen eine breite Straße entlang. Links und rechts standen viele Leute, die ihnen zujubelten und abwechselnd: Hoch, Ulf! Hoch, Nepomuk! riefen. Der Schwarze wedelte und bellte. Das Bellen wurde lauter, immer lauter, und davon wurde Ulf wach.

Tatsache, Nepomuk bellte. Er bellte wie rasend draußen auf dem Flur. Dazwischen Stimmen. Nicht nur die von Vater und Mutter, sondern unbekannte, viele unbekannte Stimmen.

Ulf sprang aus dem Bett, und auf dem Flur sah er, dass sich Nepomuk wie wild gebärdete. Er sprang gegen die Wohnungstür, drehte sich um die eigne Achse, sprang wieder und bellte, bellte, bellte.

"Ruhe, du Köter!", schimpfte der Vater.

Die Mutter schrie: "Aufhören hab ich gesagt! Aufhören!"

Und der Vater: "Sei endlich still, du weckst das ganze Haus!"

Nepomuk war nicht still, und der Vater brauchte sich um das Haus keine Sorgen zu machen. Nach dem, was Ulf vernahm, hatten sich sämtliche Bewohner des Aufgangs vor der Tür versammelt. Unaufhörlich wurde dagegengetrommelt, und je aktiver man das betrieb, desto wütender zeigte sich Nepomuk. Es war ein Höllenlärm. Einer wollte sich beschweren, ein zweiter verlangte die Polizei, ein dritter die Feuerwehr, und dauernd schrie jemand: "Ein Untier! Ein Untier!"

Der Vater überbrüllte alle. "Hören Sie endlich mit dem verdammten Getrommel auf! Sie machen den Hund total wild!"

Höhnisches Lachen. "Wir machen den Hund wild! Wir! Ha-haha!"

"Tollwut!", kreischte eine Frau dazwischen.

"Was hat das verdammte Vieh bei Ihnen zu suchen!", krakeelte ein Mann, und eine hohe Stimme keifte: "Sie da! Sie fliegen raus hier! Kennen Sie die Hausordnung nicht!"

"Ich schon", brummte der Vater verzweifelt, die Mutter hielt sich die Ohren zu, und Nepomuk tobte und bellte in voller Lautstärke weiter. Die Hausordnung schien ihm schnuppe zu sein. In diesen Wirrwarr hinein rief Ulf: "Nepomuk, kusch!" Auf einmal war der Hund still. Er knurrte zwar noch die Tür an, weil die Leute auf der anderen Seite keine Ruhe gaben. Ulf fasste ihn um und streichelte ihn. "Ruhig", sagte er, "sei ruhig, Alter, mach uns keinen Ärger." Schließlich legte Nepomuk sich hin, ohne die Tür aus den Augen zu lassen, denn dort war nach seiner Hundemeinung etwas nicht in Ordnung.

"Pst!", machte draußen jemand. "Der scheint sich nicht mehr zu mucksen."

Einen Moment war es zu beiden Seiten der Tür totenstill. Dann drohte die Keifstimme: "Das war Hausfriedensbruch! Sie werden von uns hören!"

Die Mutter stöhnte auf. "Nun mach doch was, Mann!"

Der Vater straffte sich, er drehte den Schlüssel im Schloss und wollte die Tür öffnen. Da schrie jemand völlig außer sich: "Jetzt lässt er den Hund los!"

Rennen, Kreischen, Türenknallen! "Hilfe, das Untier!", brüllte einer, als wäre Nepomuk dicht hinter ihm, aber das kam schon von weit unten im Haus.

Die Mutter schlug beide Hände vors Gesicht. "Du machst uns total unmöglich, Mann."

"Ich wollte doch nur..."

"Wollte, wollte!" Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die wieder festverschlossene Tür. "Der Hund muss weg, das halt ich nicht aus."

"Jaja", versprach der Vater, "beruhige dich nur." Vergeblich, sie war nicht zu beruhigen. Sie weinte und jammerte, nie würde sie es vergessen können, der Hund habe die ganze Familie in Schande gestürzt.

"Das ist eben ein Wachhund, der muss bellen, wenn was ist", versuchte der Vater Nepomuks Verhalten zu erklären, aber es brachte nur ein, dass die Mutter wieder zu sich kam. Ulf merkte es daran, dass sie lauter und lauter redete, und wem gab sie schließlich die Schuld an allem? Ihm natürlich! Er sagte nichts. Er drückte Nepomuk an sich und fürchtete nur eins, dass sein Freund in die Nacht hinausgewiesen wurde, wie es die Mutter schließlich forderte, und zwar sofort.

"Geht nicht", sagte der Vater. "Nachher fängt er im Treppenhaus noch mal mit dem Theater an."

Guter Rat war teuer. Allein auf dem Flur konnte Nepomuk nicht bleiben. Es brauchte nur jemand nach Hause zu kommen oder wegzugehen, dann machte er wieder auf Wachhund, wie er es für seine Pflicht hielt, und die Familie war völlig unmöglich.

"Wir nehmen ihn mit ins Schlafzimmer", schlug der Vater vor.

"Niemals!", erklärte die Mutter.

Da sagte Ulf: "Er kann doch bei mir schlafen, auf mich hört er.

Wieder protestierte die Mutter, das sei unhygienisch.

"Willst du Hygiene oder Ruhe?", fragte der Vater, der langsam die Geduld verlor. Er packte die Hundedecke an einem Ende und zog sie vor Ulfs Bett. Nepomuk nahm gehorsam darauf Platz. Er schien rechtschaffen müde zu sein. Auf so viel nächtlichen Betrieb ist ja auch kein Hund trainiert.

Nun war es still in dem großen Haus. Ulf streckte eine Hand aus dem Bett und kraulte Nepomuk. "Du hast vielleicht was angerichtet", sagte er.

Das Fensterviereck hob sich hell von der dunklen Wand ab. Das kam von den großen Lampen auf der Baustelle. Morgen, dachte Ulf, was wird morgen sein? Er machte sich Sorgen um seinen Freund Nepomuk.

Keine ruhige Minute

Sofort nach der Schule hastete Ulf nach Hause. Keine ruhige Minute hatte er während des Unterrichts gehabt, weil er dauernd an Nepomuk denken musste. Kein Wunder, dass er ein paar Mal aus dem Mustopf kam, als die Klassenlehrerin ihn aufrief. Ulf hatte Deutsch und Russisch bei ihr, eine Menge Stunden, deshalb wussten sie schon nach drei Tagen, was sie voneinander zu halten hatten. Er mochte Frau Schmiedel, heute jedoch war sie unzufrieden mit ihm gewesen.

Mehr noch bedrückten Ulf die Worte der Mutter. Kümmere dich gleich nach der Schule um den Hund, damit wir ihn loswerden, hatte sie gesagt und extra noch gefragt, ob er das verstanden habe. Mit ärgerlichem Blick hatte sie Nepomuk gemustert, der lang ausgestreckt vor der Küchentür schlief, so dass ein jeder über ihn hinwegsteigen musste. Der habe es gut, hatte die Mutter gemurmelt, während sie die Nacht über kein Auge Schlaf bekommen habe, dabei sei heute ihr erster Arbeitstag im Textilkombinat. Mächtig nervös war sie davongeeilt. Sie sorgte sich um die Wohnung, in der der Hund allein zurückblieb.

Was soll mit Nepomuk schief gehen, wenn der warm und trocken sitzt, hatte Ulf gedacht. Nun aber rannte er schneller und schneller, und schon in der Haustür hörte er seinen Nepomuk. Der verbellte sich noch alles, der dumme Hund! Ulf kurvte um die erste Treppenbiegung und rempelte in voller Fahrt gegen Herrn Schmidtchen aus der untersten Etage. Der hielt ihn an der Jacke fest. "Du Lümmel, du bist doch der von der Köterfamilie! Horche mal!" Er zeigte nach oben.

"Ich bin nicht schwerhörig!", fauchte Ulf, riss sich los und rannte weiter die Treppe hinauf.

"Entschuldigt sich nicht mal!", zeterte Herr Schmidtchen. "Und das Gekläffe den ganzen Vormittag, aber ihr kümmert euch einen Dreck darum!"

"Kümmern Sie sich um Ihren Dreck!", schrie Ulf nach unten.

"Na wartet, ihr Hausfriedensbrecher!" Herr Schmidtchen donnerte seine Tür zu.

Auf dem Treppenabsatz im dritten Stock traf Ulf auf ein kleines Mädchen. "Euer Hund bellt", sagte es.

"Quatsch, der pfeift!"

"Pfeifen?" Das Mädchen machte große Augen. "Aber vorhin hat er wirklich gebellt."