Titelbild

Impressum

Gerhard Branstner

Der verhängnisvolle Besuch

ISBN 978-3-86394-583-1 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 1972 im Verlag Das Neue Berlin

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2012 EDITION digital®
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Alte Dorfstraße 2 b
19065 Godern
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Prolog

Der Morgen graute. Die Tür des Dorfkruges wurde aufgestoßen, sechs oder sieben Burschen traten heraus. Sie hatten getanzt und getrunken und waren guter Stimmung. Sie riefen sich Scherzworte zu, stupsten sich in die Seite und machten sich schließlich auf den Weg ins Dorf, das einige hundert Meter von der Schenke entfernt lag.

Noch ehe sie die ersten Häuser von Schloßmühlen erreicht hatten, gerieten sie in eine dichte Nebelschicht, eine riesige Milchlache, die ihnen bis zur Hüfte reichte. Sie hatten ihren Spaß daran. Einige tauchten unter, um sich an die anderen heranzumachen und ihnen die Beine wegzuziehen.

Von ihrem geisterhaften Spiel gefangen genommen, gaben sie nicht auf ihre Umgebung Acht. Erst als eine krächzende Stimme an ihr Ohr schlug, hielten sie in ihrem Spiel inne und blieben wie angewurzelt stehen. "Heute Nacht war der Teufel im Dorf!", hörten sie es rufen. Der Mann, der sie mit dieser Nachricht schreckte, fuchtelte einige Male mit einem Knotenstock in der Luft herum und stapfte dann weiter. Erst jetzt erkannten sie den alten Wirsel, den Wächter aus der Ziegelfabrik in Klein-Seligen.

Die Burschen erholten sich schnell von ihrem Schreck. Scherzworte sprangen wieder auf und verloren sich in der Dämmerung. Wer von ihnen glaubte schon an den Teufel? Und wem bei den Worten des alten Wirsel ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen war, entschuldigte das mit der gespenstigen Morgendämmerung. Die jungen Leute waren jedoch kaum in die Betten gekrochen, als der Wagen der Mordkommission mit hoher Geschwindigkeit in die Kurve an der Schenke einbog und wenige Augenblicke darauf in Schloßmühlen hielt.

 

Doch bevor es dazu kam.

1

"He, Marga, noch ein Bier!", rief der alte Sellmann und strich sich mit den Händen über den Leib. "Stramm wie eine Tonne. Macht das Bier, macht nur das Bier. Bin jetzt über die Sechzig. Aber einen Zweizentnersack auf die Schulter nehmen, das ist eine Kleinigkeit." Sellmann schnickte mit den Fingern. "Da staunst du, wie?"

Günter Mechler hörte gar nicht zu. Seine Augen waren während der Rede des Alten auf die Frau hinter der Theke gerichtet.

Als sie das Bier brachte, dankte Mechler ihr mit einem Lächeln. Die Frau nickte ihm zu und ging zurück zur Theke. Der junge Mann schaute ihr nach. Keine von denen, die mit dem Hintern wackeln, wenn man ihnen nachblickt, dachte er.

"Schwarze Haare, grüne Augen", flüsterte Sellmann so laut, dass es ein Toter hören konnte. "Ein Prachtstück, unsere Kellnerin. Konsumgaststättenleiterin, wollt' ich sagen. Seit der dicke Makosch abgehauen ist, sind wir Konsum. Aber es ist nichts mehr los seitdem. Den hättest du noch erleben müssen. Makosch, mein' ich. - Was wollt' ich sagen?"

"Dass nichts mehr los ist."

"Richtig! Die reine Friedhofsruhe. Kein Krawall, keine Schlägerei, keine umherfliegenden Stuhlbeine. Dort, die Blesse an der Bierreklame", Sellmann wies auf ein Emailleschild neben der Tür, "die stammt von einem eisenbeschlagenen Stiefel. Hätte ich mich nicht gebückt, als er geflogen kam, wär' das Schild noch heil." Bruno Sellmann hieb mit der Faust auf den Tisch. "Noch ein Bier!" Sein gerötetes Gesicht strahlte. "Ja, da ging es hoch her. Der Schnaps floss in Strömen. Und jetzt sind wir Konsum. Prost!"

Der Alte erhob sich schwankend, nahm ein Glas vom Tablett, noch ehe es die Frau auf den Tisch gesetzt hatte, und trank das Bier im Stehen. "Und nun ab in die Falle. Morgen früh geht's wieder sozialistisch lang. Und das auf nüchternen Magen."

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Sellmann setzte sich schnei! wieder auf seinen Stuhl. Es konnte ja einer sein, der eine Lage springen ließ. Der späte Gast drückte sich jedoch ohne Gruß an den Männern vorbei und nahm in der hintersten Ecke des Schankraumes Platz.

"Jetzt kommt er schon besoffen in die Kneipe ", grunzte der Alte und schüttelte missbilligend den Kopf. Mechler amüsierte sich über Sellmanns Entrüstung. "Ist es einer aus dem Dorf?"

"Der Schäfer? Der ist hier geboren und sein Lebtag nicht aus Schloßmühlen rausgekommen. War Knecht bis voriges Frühjahr. Als wir Genossenschaft wurden, haben wir ihm die Schafe gegeben. Da kann er nichts verderben. Den paar Viechern wächst die Wolle auch ohne ihn. Ist ein Elend mit dem Kerl. Säuft wie ein Fürst und ist arm wie eine Kirchenmaus. Na ja, in der Genossenschaft kommt's auf einen Hungerleider mehr nicht an. Das sag' ich, obwohl ich selber drin bin."

Günter Mechler war erst vor kurzem als Agronom nach Schloßmühlen gekommen und hatte noch keine Gelegenheit gehabt, den Schäfer kennen zu lernen. Er blickte zu ihm hinüber. Die Kellnerin stellte gerade eine halbe Flasche Schnaps und ein Glas auf den Tisch. Der Schäfer bediente sich jedoch nicht. Er stützte den Kopf in die Hände und starrte mit ausdruckslosen Augen die Flasche an.

Sellmann hatte ebenfalls den Schäfer beobachtet und wandte sich jetzt wieder Mechler zu. "Mal was anderes. Stiert den Schnaps an, trinkt aber nicht. Ein schlimmes Zeichen."

"Oder ein gutes."

"Bei dem nicht", widersprach Sellmann. "Als er mal für ein paar Tage mit der Sauferei aufgehört hat, es ist schon eine Weile her, war er überhaupt nicht mehr zu gebrauchen."

Ein Schatten fiel über den Tisch. Der Schäfer drückte sich grußlos, wie er gekommen war, wieder an ihnen vorbei und verließ den Schankraum.

Sellmann stopfte seine klobige Pfeife. Genießerisch stieß er den Rauch aus. "Hat wohl spitzgekriegt, dass vom ihm die Rede war."

Beide standen auf.

Mechler trat an die Theke. "Bleibt es dabei, Sonntag Vormittag?", fragte er leise.

Die Frau stand mit dem Rücken zu ihm und stellte Schnapsgläser in den Wandschrank. Sie ließ ihn ein Weilchen warten. Endlich drehte sie sich um. "Es bleibt dabei. Sonntagvormittag am Weidentor."

Mechler atmete auf. Die Frau lachte und reichte ihm die Hand "Und bring gute Laune mit. Jeder muss sich etwas ausdenken, was wir unternehmen wollen. Aber was Lustiges."

"Ich bin ein ernster Charakter", sagte Mechler und lachte nun auch.

Dann verließen die Männer die Schenke und machten sich auf den Weg ins Dorf.

Als sie Schloßmühlen erreicht hatten, deutete Sellmann auf ein Häuschen, das etwas abseits der Straße stand. "Er hat noch Licht."

"Wer?"

"Der Schäfer." Bruno Sellmann stolperte über den Bordstein und fluchte auf die schlechte Straßenbeleuchtung.

"War Makosch eigentlich verheiratet?", fragte der Agronom nach einer Weile.

"Der Kneipwirt? Wie kommst du jetzt auf den? Er war geschieden, schon bevor er die Schenke übernahm. Aber keine Sorge. Marga hat ihn nicht 'rangelassen. Auch keinen andern, obwohl sie's versucht haben. Dem langen Böckel hat sie sogar mal eine gewischt. Du kennst ihn, der mit den Sommersprossen und der elend großen Nase. Er wurde handgreiflich. Sie hat ihm ein paar hinter die Ohren gegeben, dass er unter den Tisch gesaust ist. Du bist der reinste Glückspilz. Kaum eine Woche im Dorf, und schon hast du sie rumgehabt. Das wird dir manchen Feind schaffen."

Sie waren an Sellmanns Haus angelangt. Der Alte gab dem Agronomen die Hand und stieg die zwei Stufen zur Haustür hinauf. Günter Mechler stapfte allein weiter.

 

Die Frauen auf dem Feld waren fleißig bei der Arbeit. Mit flinken Händen sammelten sie Kartoffeln vom sandigen Boden und warfen sie in runde Drahtkörbe. Nicht weniger flink waren sie mit dem Mundwerk. Als Günter Mechler auf dem Nachbarfeld auftauchte, zogen sie gerade über die neue Frau des Bürgermeisters her. "Sie ist mir ein bisschen zu hübsch. Aber ordentlich scheint sie zu sein", meinte die alte Reschkorn.

"So eine hätte er auch hier kriegen können. Aber die Männer denken, eine Auswärtige ist was Besseres", entgegnete Lisa Dreßler, eine schon etwas in die Jahre gekommene, jedoch noch immer unbemannte Bäuerin.

"Für dich ist unser Bürgermeister doch viel zu alt", stichelte Frau Reschkorn. "Du kannst noch auf einen Jungen und Knusprigen aus sein. Auf einen wie den da." Sie wies auf den Agronomen, der jetzt zu ihnen herüberkam.

"Da ziehe ich mir einen Praktischeren vor", parierte Lisa Dreßler. "Ein wissenschaftlich Gebildeter macht immer erst eine Theorie. Und hat er sie endlich, ist die Nacht vorbei."

Die Frauen lachten. Die alte Reschkorn gab sich jedoch nicht geschlagen. Wenn sie es einmal darauf angelegt hatte, jemanden aufzuziehen, hörte sie nicht so schnell damit auf. "Der sieht nicht so aus, als ob er's nur mit der Theorie hält. Wäre ich in deinem Alter, würde ich nicht warten, bis mir 'ne andre so einen stattlichen Kerl wegschnappt."

Tatsächlich war Günter Mechler von großer athletischer Statur, hatte jedoch einen saloppen, fast trägen Gang. Auch sein Gesicht zeigte keine energischen oder gar harten Züge. Kinn und Nase wirkten unter der stark gewölbten Stirn und dem kräftigen, kurzgelockten blonden Haar beinahe klein.

Mechler bückte sich und schüttete eine Handvoll Ackerkrume in eine Papiertüte, auf der er mit Kopierstift einige Daten vermerkt hatte. Die Frauen beobachteten ihn und lachten aufs Neue.

Der Agronom richtete sich auf. "Was tun Sie, wenn Sie wissen wollen, ob genug Salz in der Suppe ist?", fragte er unverhofft eine der Frauen.

"Ich nehme einen Löffel und koste", antwortete verblüfft Lisa Dreßler.

"Aha! Und so ähnlich ist das mit den Bodenproben auch, die ich mir von den Feldern hole. Darüber gibt es doch nichts zu lachen, oder?"

"Nein, natürlich nicht." Lisa Dreßler hatte einen roten Kopf bekommen. Die Frauen schwiegen verlegen. Nur die alte Reschkorn stemmte die Fäuste in die Seiten und riss den dünnlippigen Mund auf, dass von ihrem faltigen Spitzmausgesicht kaum noch etwas zu sehen war. "Da hast du dein Fett weg, Lisa! Der ist praktischer, als dir lieb ist; hab' ich Recht?"

 

Günter Mechler stand am Fuße des Scharhügels und blickte die Anhöhe hinauf. Er gewahrte den Schäfer, der sich auf einen alten Pflug gehockt hatte und vor sich hin döste. Die Schafe schnubberten lustlos an dem spärlichen Gras und kümmerten sich nicht um ihren Hirten. Nachdem Mechler den Hügel erklommen hatte, begrüßte er den Schäfer und setzte sich neben dem Pflug auf den Boden. Hendrich murmelte etwas Unverständliches und holte sein Frühstück aus der Joppentasche. Er betrachtete es lange, als ob er in seinem Leben noch kein Brot gesehen hätte. Schließlich biss er kräftig hinein.

Mechler legte die Arme um die angezogenen Knie und schaute auf Schloßmühlen hinab. Das Dörfchen lag wie ausgestorben in der warmen Septembersonne. Seine Gehöfte waren um eine Straßenkreuzung gruppiert. Etwas außerhalb stand das ehemalige Rittergut, in dessen schlossähnlichem Hauptgebäude sich jetzt der VEAB befand. Mechlers Blick ruhte eine Weile auf dem verwilderten Schlosspark, wanderte dann, der schmalen Straße folgend, zum Dorf zurück bis zu dem auf der entgegengesetzten Seite befindlichen Grubenwäldchen, dem einzigen zu Schloßmühlen gehörenden Waldbestand. Endlich blickte Mechler hinüber zum Dorfkrug, der durch die breite Landstraße mit Schloßmühlen verbunden war. Seine Gedanken waren bei Marga. Als er sie das erste Mal gesehen hatte, war er eigentlich verwundert gewesen, in dieser dörflichen Einsamkeit solch eine Frau zu treffen, noch dazu in einer Kneipe. Und nur, um eine Erklärung dafür zu erhalten, hatte er ein Gespräch mit ihr gesucht. Seine Verwunderung war jedoch immer größer geworden, denn Marga Falk war ohne jede Ziererei auf eine Unterhaltung eingegangen. Und statt der erwarteten üblichen Klagen über das Leben auf dem Dorfe hatte sie ihm mit klugen Fragen zugesetzt, vor allem, was seine Pläne als Agronom anging. Sie verwickelte ihn in ein regelrechtes Wortgefecht, in dessen Hitze er völlig vergaß, einer Frau gegenüberzusitzen, die ihm bis zu diesem Tage noch unbekannt gewesen war. Am Ende des Gesprächs war sie ihm bereits so vertraut geworden, dass er meinte, sie hätten schon als Kinder miteinander gespielt.

Ein Rascheln neben ihm ließ den Agronomen aus seinen Betrachtungen auffahren. Hendrich faltete das Fettpapier zusammen und schob es in die Joppentasche. Günter Mechler rückte halb herum und versuchte, den Schäfer in ein Gespräch zu ziehen. Der schien jedoch nicht viel vom Reden zu halten. Kaum, dass er drei, vier Sätze über die Lippen brachte. Und als Mechler gar auf die persönlichen Verhältnisse des Schäfers zu sprechen kam, war es mit der Unterhaltung vollends aus. Hendrich fuhr plötzlich hoch, als ob er sich auf den Agronomen stürzen wollte, sackte jedoch sofort wieder in sich zusammen und antwortete überhaupt nicht mehr.

2

Sie warf die Haare zurück und strich mit den angefeuchteten Fingerkuppen über die Brauen. Marga Falk war mit ihrem Aussehen zufrieden. Sie schob die weiße Bluse noch ein wenig straffer unter den Bund des dunkelblauen Plisseerocks, drehte sich einmal um sich selber und verließ dann eilig das Zimmer. Bis zum Weidentor war es nicht weit, und bald erblickte Marga die beiden ineinander verwachsenen Bäume, die diesem Ort den Namen gegeben hatten. "Das nenne ich pünktlich!", rief Günter Mechler und lief ihr ein Stück entgegen.

Als er heftig atmend vor ihr stand, brachte er kein Wort heraus.

Marga lachte und tippte mit dem Zeigefinger an seine Brust. "Ist dir die Puste ausgegangen?"

"Es ist seltsam", sagte Mechler. "Als wir uns das erste Mal unterhielten, war mir so..."

"...als hätten wir schon als Kinder miteinander gespielt."

"Ja. Und jetzt denke ich manchmal, dass wir uns fremd sind und du plötzlich Herr Mechler und Sie zu mir sagst. Freitagabend, als ich dich fragte, ob es bei unserer Verabredung bleibt, hatte ich richtig Angst, du würdest nein sagen und dich an nichts erinnern können."

Marga Falks Augen verdunkelten sich, und sie wandte sich ab. Ehe Mechler ihr merkwürdiges Verhalten auffiel, hatte sie sich jedoch wieder gefasst. Sie hakte sich bei ihm unter und schlug die Richtung zum Grubenwäldchen ein. "Das kommt, weil du dich inzwischen in mich verliebt hast." Marga Falk schien ihre Sicherheit wieder gefunden zu haben. "Wer liebt, hat immer Angst. Mir geht es nicht anders. Ich denke manchmal, du kommst eines Tages zu mir und sagst, wir wollen gute Freunde bleiben, aber das andere, das war ein Irrtum." Sie blieb stehen und sah ihn an. "Dabei weiß ich, dass das alles Unsinn ist. Und trotzdem habe ich Angst."

Er zog sie an sich und presste seine Lippen auf ihren Mund.

"Und jetzt wollen wir was Lustiges treiben", sagte sie schließlich, nachdem sie sich langsam aus seinen Armen gelöst hatte. "Wir tun so, als ob wir wirklich als Kinder zusammen gespielt hätten, und erinnern uns gegenseitig daran mit 'Weißt du noch?' und so."

Er gab ihr einen Kuss.

"Hallo", rief sie, "soweit sind wir noch nicht!"

"Das war nur für den guten Einfall. Ich erinnere mich genau. Damals, wir gingen noch nicht zur Schule, bekamen wir von unsern Eltern fürchterliche Dresche. Wir hatten uns gegenseitig von oben bis unten mit Dreck beschmiert."

"Aber du hattest damit angefangen!"

"Ich?", fragte er verwundert. "Ach so. Ja natürlich. Das heißt, angefangen hat überhaupt keiner, das wollen wir mal festhalten für spätere Fälle. Vielmehr sind wir beide in eine Pfütze gefallen. Und als ich dir heraushelfen wollte, habe ich dich versehentlich..."

"Versehentlich! Du hast mir eine Handvoll Sand ins Gesicht geworfen!"

"Nein, das würde ich nie tun!", rief Günter Mechler.

"Es war aber so", beharrte sie. "Wir müssen bei der Wahrheit bleiben. Sonst geht das Spiel nicht."

"Also schön. Ich habe dir eine Handvoll Sand ins Gesicht geworfen. Und dann noch eine und noch eine und..."

"Schon wieder geschwindelt", unterbrach ihn Marga. "Das hätte ich mir nicht gefallen lassen. Das wusstest du auch genau, deshalb bist du davongelaufen. Aber ich habe dich eingeholt. Damals konnte ich noch schneller laufen als du. Und..."

In dieser Art unterhielten sich die beiden, bis sie am Grubenwäldchen angelangt waren. Einem stillen Beobachter wären sie sicherlich wie ein verzanktes Liebespärchen vorgekommen. Hätte er jedoch gehört, was sie sagten, würde er die beiden für beschwipst gehalten haben.

Das Grubenwäldchen bestand aus zwei Waldinseln. Inmitten der größeren befand sich eine seit Jahren stillgelegte Kiesgrube. Etwa fünfzig Meter entfernt stand eine kleinere Baumgruppe. Und zwischen beiden lag ein Streifen Heideland, von dichten Brombeerhecken durchzogen.

"Suchen wir uns einen Platz in der Heide?", fragte Mechler.

"Es darf uns aber niemand sehen." Marga suchte nach Worten. "Die Dorfburschen haben nämlich gedroht, es dir heimzuzahlen.''

"Ich verstehe." Günter Mechler grinste. "Kaum bin ich im Dorf, und schon schnappe ich ihnen das schönste Mädel weg."

Marga verzog das Gesicht. "Der lange Böckel ist schon einmal mit dem Messer auf jemand losgegangen. Er kommt leicht auf dumme Gedanken."

Günter Mechler fasste Marga um die Hüften und hob sie hoch. Lachend wirbelte er sie herum und ließ sie wieder zu Boden gleiten. "Noch immer besorgt? Hier, fühl das Herz." Er presste ihre Hand gegen seine Brust. "Es schlägt nicht einen Deut schneller. Und jetzt komm!" Er zog sie zwischen den Brombeersträuchern hindurch. An einer von dichten Hecken umsäumten Stelle warf er sich nieder. "Wie für uns geschaffen", sagte er. "Die Sonne fängt sich hier drin wie in einer Mausefalle."

Marga hatte sich neben ihn gelegt. "Ich mag keine Kraftmeierei. Aber es ist doch ein schönes Gefühl, einen Mann zu lieben, von dem man weiß, dass er einen auf Händen tragen kann." Sie drehte sich auf den Rücken und blinzelte in die Sonne. Bienen und dicke Fliegen summten um sie her und setzten sich auf das Heidekraut. Die Luft flimmerte von der Sonnenhitze. Eine winzige Wolke zog über den wunderbar blauen Himmel. Wie ein kleiner Luftballon, den ein Kind hatte steigen lassen. Marga schloss die Augen.

Sie tastete nach seiner Hand.

"Günter?"

"Marga?"

"Ich liebe dich."

Ein Heidekrautbüschel, das Günter Mechler niedergedrückt hatte, richtete sich langsam auf und schüttelte sich leicht, als wundere es sich über die Dinge, die da neben ihm geschahen.

Als Günter Mechler und Marga wieder auf den Weg traten und um das Grubenwäldchen herum zum Dorfkrug gingen, war es bereits hoher Mittag geworden. Die Sonne drückte auf das Land, so dass alle Bewegung zu erschlaffen schien. Nur die Grillen zirpten.

Als sie an der Schenke angelangt waren, fragte er: "Heute Nacht, darf ich kommen?"

Sie gab ihm einen Kuss. "Du darfst tun, was du willst, ohne zu fragen."

 

Am Abend des nächsten Tages saßen Günter Mechler und Bruno Sellmann im Büro der Genossenschaft.

"Du bist gesehen worden", sagte Sellmann und grinste. Mechler hob den Blick von den Tabellen und schaute den Alten, der auf den Vorsitzenden wartete, fragend an. Der grinste noch immer. Mechler beugte sich wieder über den Tisch. Er hatte einen Fruchtfolgeplan aufgestellt und war eben dabei, die Zeittabellen aufzurechnen. Irgendwo musste ihm ein Fehler unterlaufen sein, denn er bekam bei der Addition jedes Mal dreiundfünfzig Wochen heraus. Schließlich wurde er ganz verwirrt. "Wie viel Wochen hat ein Jahr?", fragte er.

"Zweiundfünfzig." Sellmann ärgerte sich, dass der Agronom nicht auf seine Anspielung einging.

"Das habe ich bisher auch angenommen. Ich kriege aber immer dreiundfünfzig heraus. Na, lassen wir das für heute." Mechler blickte auf die Uhr. "Es ist schon spät. Morgen ist auch noch ein Tag."

"Du bist gesehen worden", sagte Sellmann zum zweiten Mal und grinste wieder.

In diesem Augenblick polterte der Genossenschaftsvorsitzende zur Tür herein. Zwei Meter groß und mit unerschöpflicher Energie geladen, wirbelte Arno Fiebach stets mehr Staub auf, als nötig war. Jetzt pflanzte er sich vor Günter Mechler auf und hob die buschigen Augenbrauen. "Hast du die Tabellen fertig?"

"Hier sind sie." Mechler schob dem Vorsitzenden die Aufstellungen hin. "Irgendwo steckt ein Fehler drin. Eine Woche kommt zuviel 'raus."

Fiebach griff nach den Tabellen und ließ sich am Tisch nieder. Mechler warf sich die Jacke über die Schulter und wandte sich zur Tür.

"Du bist gesehen worden", sagte Sellmann zum dritten Mal. "Gestern Vormittag, im Grubenwäldchen. Ich war gerade dabei, mir einen individuellen Besenstiel zu holen." Er zwinkerte mit einem Auge. "Ist nicht ohne, die Kellnerin, wie?"

Arno Fiebach hob den Kopf. "Wenn du dich so gut mit ihr stehst", sagte er zu Mechler, "kannst du sie mal wegen des Ackerzipfels fragen, den sie noch in privater Nutzung hat. Er liegt mitten in den Genossenschaftsfeldern. Wir müssen drum herumfahren wie mit dem Rasiermesser um einen Pickel."

"Dabei kümmert sie sich überhaupt nicht um das Land", warf Sellmann ein.

Der Genossenschaftsvorsitzende hatte sich wieder über die Tabellen gebeugt. Als Mechler schon halb aus der Tür war, rief er ihm nach: "Aber fang es diplomatisch an. Sonst richtest du nichts aus bei diesem widerborstigen Weibsbild, und ich muss sie mir am Ende selber vornehmen. Dann bleibt bestimmt kein Auge trocken!"