Impressum

Brigitte Birnbaum

Bert, der Einzelgänger

ISBN 978-3-86394-066-9 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 1962 bei
Der Kinderbuchverlag, Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2011 EDITION digital®
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I. Kapitel

Die Dämmerung sank auf die Dächer der Stadt. Kalt war der Märzwind, der durch die breite Straße zwischen den Neubauten mit den roten, blauen und gelben Balkons fegte. Fast hätte er dem alten Mann, der auf dem Bürgersteig daherkam, die Mütze vom Kopf gerissen. Der Mann zog sich seine Kopfbedeckung tiefer in die Stirn und stiefelte weiter. Die Straßenlampen brannten noch nicht, und doch sah er vor sich den kleinen Gegenstand. Die lederne Geldbörse lag mitten auf dem Gehsteig. Ein Kinderportemonnaie, dachte er, der arme Tropf wird jammern. Mühsam bückte er sich und griff nach dem Geldtäschchen. Wie von Zauberhand berührt, schnellte es nach rechts. Der alte Mann wusste sofort, dass er gefoppt worden war. Er richtete sich wieder auf und ging ruhig seines Weges. Hinter sich hörte er Kinder johlen. Sie amüsierten sich über ihren Streich. Sie waren aus dem Hausflur herausgekommen, und der Größte von ihnen befahl: "Los, Bert! Leg es noch einmal hin!"

"Warum immer ich?", fragte Bert maulend.

"Du bist der Jüngste! Bist erst zwölf. Nun mach!", erhielt er zur Antwort.

Bert huschte zum Geldtäschchen, legte es erneut zurecht und zog dabei den Zwirnsfaden vorsichtig nach. Dann standen die Jungen wieder im Hausflur.

"Passt auf!", flüsterte einer und hüpfte von einem Bein auf das andere. Sie lugten übereinander durch den Türspalt. Der Vorderste kniete. Er deutete auf eine Frau, die langsam die Straße entlang ging. Ein schwarzer Pudel stolzierte neben ihr her.

Als die Frau das Portemonnaie sah, stutzte sie. Zuerst stieß sie es mit dem Fuß leicht weiter, dann bückte sie sich und versuchte, die Geldbörse zu ergreifen. Ruckartig flog da das Ledertäschchen davon. Die Frau richtete sich mit rotem Gesicht wieder auf und schimpfte wütend: "Ihr Bengels! So eine Unverschämtheit! Ich werde euch bei eurem Lehrer melden!" Der Pudel kläffte. Die Jungen grölten und versuchten den Hund zu ärgern. Die Horde umtanzte die Schimpfende und den Hund, der wild an seiner Leine zerrte.

Während die Jungen die Frau verfolgten, hatte unten an der Ecke der Autobus gehalten. Vor den vorüberkommenden Menschen verzogen sich die Übeltäter. Unter den von der Arbeit Heimkommenden war auch eine schmächtige, junge Frau in dunkelblauer Uniform. Sie knöpfte ihre Jacke bis oben zu, so dass die beiden blanken Posthörner auf dem Kragen verdeckt wurden, und zog die Schultern hoch. Sie fror. Die Tasche mit den Briefen und Zeitungen, die sie treppauf und treppab getragen hatte, war ihr heute sehr schwer geworden. Sie hätte mittags aufhören sollen. Aber zwei Kolleginnen lagen grippekrank zu Hause, da konnte sie nicht auch noch ausfallen. Plötzlich hob sie den Kopf. Die Jungen lärmten noch immer.

"Bert!"

Bert sah seine Mutter auf der anderen Straßenseite.

"Mensch, bleib hier! Lass deine Alte doch gehen!", sagte der Große und stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite.

"Bert!", rief die Frau abermals. Sie war stehengeblieben.

Bert schob die Hände tiefer in die Hosentaschen und stakte über die Straße.

"Was habt ihr da wieder angestellt?", fragte seine Mutter unwillig, "könnt ihr denn nicht vernünftig spielen? Immer musst du mit denen zusammen sein. Das gefällt mir gar nicht!"

"Wieso?", antwortete er. "Da war doch nichts."

"Komm!", sagte die Frau nur.

"Och ..." Widerwillig trottete Bert neben seiner Mutter her. Sie strich ihrem Jungen die dunklen Locken aus dem Gesicht. Bert spürte, dass die Hand seiner Mutter heiß war.

Sie gingen nur noch wenige Schritte und stiegen dann in einem Neubau die Treppen bis in die zweite Etage hinauf. HÖRBER stand in weißen Buchstaben auf dem schwarzen Schildchen an der Tür. Frau Hörber schloss auf und hängte ihre Jacke in dem schmalen Flur an die Garderobe. Sie eilte in die Küche, wo sie sogleich das Gas auf dem Herd anzündete.

Bert warf seinen braunen Anorak in der Stube achtlos über einen Stuhl. Auf der Straße brannten jetzt die Neonlampen. Ihr bläulicher Schein fiel in das dunkle Zimmer.

"Hast du deine Schularbeiten gemacht?", fragte Frau Hörber aus der Küche. Bert hörte, dass seine Mutter Brot schnitt.

"Wir haben nichts auf", antwortete er.

"Bert ... !"

"Bestimmt - wir haben morgen zwei Stunden Werken, da ..."

"Und die anderen vier Stunden?", unterbrach ihn seine Mutter von der Küche her. "Wenn du einen Vater hättest, wärest du vielleicht nicht so faul. Er würde dich schärfer Hannehmen." Sie seufzte nach ihren Worten.

"Dann hättest du auch mehr Zeit für mich. Dann könnten wir mal zusammen in den Tierpark gehen." Bert kam in die Küche. In der Hand trug er seine Schuhe. "Und warum habe ich keinen Vater?"

"Ach, Junge." Die Frau wandte sich zum Herd. Sie drehte das Gas ab. "Ich habe dir doch schon erzählt, dass dein Vater damals fortgegangen ist. Ständig kommst du mir damit."

"Ja, ich weiß! Noch bevor ich geboren wurde, sagst du immer; mehr auch nicht." Bert warf seine Schuhe vor den Herd und setzte sich an den Tisch.

"Mehr kann ich dir auch nicht erzählen. Dass deine Großmutter mich nicht verstanden hat und nicht wollte, dass ich deinen Vater gern hatte, habe ich dir auch schon erzählt und dass sie mir darum noch heute böse ist."

"Ich weiß ja, daher besuchen wir sie auch nie."

Bert löffelte seine Milchsuppe und sprach dazwischen weiter: "Ich will sie auch nicht sehen, wenn sie zu dir hässlich war." Er sah zu seiner Mutter hinüber, die schon wieder aufstand.

"Iss nur, Bert. Ich habe keinen Hunger mehr." Sie ging ins Zimmer und zog die bunten Gardinen zu. Dann setzte sie sich auf die Couch und stützte den Kopf in die Hände. Ihr gebeugter Körper zitterte, als weine sie.

"Mutti ... " Bert stand mit seinem Käsebrot in der Hand auf der Schwelle. "Ich habe wirklich nur Mathe auf und die mache ich noch schnell. Du brauchst doch deshalb nicht zu weinen."

Frau Hörber nahm die Hände vom Gesicht. Sie weinte nicht; aber ihr Gesicht war gerötet, und die Augen glänzten seltsam.

"Warum hast du mich erst angelogen?" Ihre Stimme klang matt.

"Ach, Mutti ... ich ... ist dir nicht gut?" Bert hockte sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Schulter.

"Ich fühle mich nicht ganz wohl, aber morgen bin ich wieder gesund. Ich muss mich ein bisschen erkältet haben. Beim Atmen schmerzt mir die Brust." Wieder zitterte ihr Körper.

"Leg dich hin, Mutti. Ich räume den Tisch ab und spül schnell das Geschirr. Mit Mathe bin ich bald fertig." Bert sprang auf und rannte in die Küche. In Windeseile war der Tisch leer. Nur gut, dass die Butterdose unzerbrechlich war, denn in seiner Hast fiel sie ihm aus den Händen. Nun ließ er in das Spülbecken warmes Wasser laufen.

"Abzutrocknen brauchst du nicht", sagte die Mutter, die noch einmal in die Küche schaute, "ich ordne morgen alles." Dann ging sie schleppend in das Schlafzimmer, das sie mit Bert teilte.

Eine Stunde mochte vergangen sein, als sich Bert ins Schlafzimmer schlich. Er zog sich im Dunkeln aus, um seine Mutter nicht zu wecken. Heute sprang er auch nicht ins Bett, sondern legte sich langsam hin. Die Matratze sollte nicht quietschen.

Der Vorhang an der Tür zum Balkon war nicht ganz zugezogen. Bert sah ein Stückchen schwarzen Himmel, ein paar Sterne und die gelbe Mondsichel. Es dauert nicht mehr lange, dann kann ich die Hälfte sehen, dachte er und kreuzte die Arme unter seinem Kopf. Da erschrak er. Seine Mutter stöhnte laut auf. Sie richtete sich hoch und redete vor sich hin. Es war wirr und unverständlich.

"Mutti!", schrie Bert entsetzt und knipste die Nachttischlampe an.

Frau Hörber fiel in die Kissen zurück, warf sich auf die andere Seite und stöhnte. Sie starrte Bert an und schien ihn doch nicht zu sehen. "Das Bild ...", sagte sie dann deutlich, "Mutter, es ist doch mein Junge!"

Bert begriff nichts. Noch nie hatte er seine Mutter so gesehen. Warum sprach sie jetzt von der Großmutter, die er nicht kannte. In seiner Angst stürzte er hinaus auf die Treppe und klingelte wie rasend nebenan.

Eine ältere Frau öffnete. "Schnell! Sie müssen kommen! Ich glaube Mutti stirbt." Er packte die Frau am Arm und riss sie mit.

Im Schlafzimmer sah die Nachbarin, dass Frau Hörber in hohem Fieber fantasierte. Sie sprach die Kranke an, doch sie stöhnte nur. Bert stand zähneklappernd am Bett seiner Mutter. Das Schlafzimmer war ungeheizt. In diesen Minuten hatte Bert furchtbare Angst.

"Marsch! Kriech in die Federn, sonst erkältest du dich auch noch!", befahl ihm die Nachbarin und deckte ihn gut zu. "Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich nach einem Arzt telefoniere. Ich komme gleich zurück." Sie strich Bert übers Haar und eilte hinaus.

Bert hockte mit angezogenen Beinen im Bett und umklammerte krampfhaft mit den Armen seine Knie. Er starrte zu seiner Mutter hinüber. Jeder Atemzug schien ihr Qual zu bereiten.

Der Mond guckte noch immer durch den Spalt ins Zimmer. Bert sah ihn nicht mehr. Er sah nur hinüber in das andere Bett und lauschte auf Schritte im Treppenhaus, aber es blieb alles still. Auf der Straße hörte er ein Auto. Es fuhr vorüber.

Spät kam die Nachbarin mit dem Arzt. Bert kannte ihn. Er hatte ihm im vergangenen Sommer das arg aufgeschlagene Knie wieder zusammengeflickt.

Die Nachbarin legte Bert Muttis Bademantel über, half ihm in seine Hausschuhe und brachte ihn ins Wohnzimmer. Im Schlafzimmer untersuchte der Arzt Mutti. Als er wieder herauskam, reichte er der Nachbarin einen weißen Zettel.

"Die Überweisung in das Krankenhaus. Eine Lungenentzündung, damit ist nicht zu spaßen", sagte er und wandte sich dann an den Jungen: "Na, was macht dein Knie?"

"Ist heil!", stieß Bert hervor und dachte, wenn er das noch weiß, hat er auch nicht vergessen, wie ich dabei geheult habe.

"Siehst du, und deine Mutti machen wir ebenfalls wieder gesund!" Die Nachbarin aber fragte er leiser: "Kann das Krankenhaus sich an Sie wenden, falls es ernst wird?"

Die Nachbarin erblasste und nickte nur.

Lauter sagte er dann: "Und der Junge? Wer kümmert sich um ihn?"

"Er bleibt bei uns, Herr Doktor!", antwortete die Frau, "das ist doch selbstverständlich."

"Nun gut." Der Arzt gab der Nachbarin die Hand. "Ich schicke sofort das Krankenauto."

Nur wenige Zeit verstrich. Unten stoppte ein Krankenwagen seine schnelle Fahrt. Zwei Männer in weißen Kitteln kamen herauf, legten Frau Hörber auf eine Tragbahre, wickelten sie in warme Decken und trugen sie hinunter. Bis auf die Treppe lief ihnen Bert nach. Als die Haustür ins Schloss fiel und Bert das Auto anfahren hörte, lehnte er den Kopf gegen das Treppengeländer. Er schluchzte.

"Bert, komm rein. Deine Mutter ist bald wieder gesund. Solange bleibst du bei uns", sprach die Nachbarin tröstend auf ihn ein, "du kannst sogar schon heute Nacht bei uns schlafen. Mein Mann hat Nachtschicht. Wir sind dann beide nicht so allein."

"Nein!" Bert drehte sich so heftig um, dass er über den weiten Bademantel fast gefallen wäre. Mit den viel zu langen Ärmeln wischte er sich die Tränen ab. "Nein! Ich schlafe in meinem Bett."

Die Nachbarin ließ ihn gehen. Sie wusste, wie eigenwillig er mitunter war.

II. Kapitel

Dort, wo die Endmoräne wieder flaches Land wird, liegt das Dorf Bolzin. Ziegelrote Dächer reihen sich zu beiden Seiten der Dorfstraße aneinander. Nur manches Mal wird die Kette durch ein graues Strohdach unterbrochen. Dann ist es eine übriggebliebene Tagelöhnerkate aus vergangener Zeit. Sie dient heute als Stall oder Schuppen.

Bis auf den Scheitel des Hügels, den die Eiszeit vor Jahrtausenden schuf, erstreckt sich ein großer Acker. Durch den steinigen Boden zogen zwei Traktoren mit Pflügen tiefe Furchen; unten in der Mulde, geschützt vor den rauen Märzwinden, pflanzten drei Frauen Rübenstecklinge. Die Stecklinge sollten im Sommer Rübensamen liefern.

Die Mittagsstunde war da. Die Frauen wanderten dem Dorf zu. Ein hochaufgeschossener, helläugiger Junge kam ihnen entgegen. Er maß mit seinen Gummistiefeln die Tiefe der Pfützen auf dem Weg. Es war der Sohn des Bürgermeisters.

"Wen sucht er? Was will er von uns?", fragte die kleinere der drei Frauen.

"Von mir bestimmt nichts", erhielt sie gleichgültig von der Ältesten zur Antwort, die sich dabei das schlohweiße Haar zurückstrich und das ausgeblichene Kopftuch fester band.

Der Junge war näher gekommen, blieb vor der Weißhaarigen stehen und sagte: "Frau Hörber, mein Vater lässt Sie bitten, gleich mal bei ihm vorbeizukommen."

"Ich ...?" Frau Hörbers Schritt stockte. Die beiden anderen musterten sie forschend.

"Ja", antwortete der Junge, "Vater will Sie sprechen." Er wollte weiter.

"Was will er denn von mir?" Die Frage klang beinahe unfreundlich.

"Weiß nicht." Der Junge hob und senkte die Schultern. Dann lief er den Weg, den die Frauen gekommen waren, entlang, durch die Mulde, hinauf auf den Acker. Die Frauen gingen weiter. Ihre Neugierde war geweckt, aber sie fragten nichts. Mit verschlossenem Gesicht lief Frau Hörber weiter. Die Frauen wussten, wenn Frau Hörber nicht sprechen wollte, war nichts aus ihr herauszubekommen. So schwiegen sie vor sich hin und hatten noch kein Wort gesprochen, als sie das Dorf erreichten. Frau Hörber verabschiedete sich kaum. Sie bog nach rechts ein und sah vor sich den großen Hof liegen.

Über diesen Hof war sie früher oft gegangen, denn in dem Haus hatte der Herr Inspektor gewohnt. Nun standen in seinem ehemaligen Wohnzimmer Schreibtische und Regale mit Akten. Draußen hatte man mit großen Buchstaben GEMEINDEBÜRO angeschrieben. Daran dachte Frau Hörber jetzt, als sie sich umständlich an einem Stück Sack die Schuhe abputzte. Sie klopfte ein wenig zaghaft an, öffnete die Tür und trat ein.

Der Bürgermeister, ein nicht besonders großer Mann, hatte am Fenster gestanden. Er kam auf die alte Frau zu, begrüßte sie und bot ihr einen Stuhl an. Die alte Frau blieb stehen. Ihre Hände versteckte sie unter der geflickten Schürze. Sie fuhr zusammen, als das Telefon laut schrillte. Der Bürgermeister nahm den Hörer ab, verhandelte ein Weilchen und legte dann wieder auf.

"Frau Hörber'', begann er, "ich habe eine nicht gerade gute Nachricht für Sie." Er zögerte ein wenig.

"Ist etwas mit meiner Rente?" Frau Hörber kam einen Schritt näher.

"Nein, wieso denn?" Herr Erdner stand auf. Er lächelte und fügte hinzu: "Ja, ja, so ist es. Ich sehe Sie nur, wenn Sie Ihre Rente abholen. - Ich wollte Ihnen etwas anderes sagen, und zwar - Frau Hörber, das Kreiskrankenhaus hat mich heute telefonisch benachrichtigt. Ihre Tochter ist in der vergangenen Nacht eingeliefert worden. Es steht sehr ernst um sie."

Die Falten auf der Stirn der alten Frau wurden noch tiefer und der Mund schmaler. "Meine Tochter ..," Sie sagte es abweisend und schwieg dann.

"In einer Stunde fährt Kollege Haym mit seinem Wagen in die Stadt. Ich habe bereits mit ihm gesprochen. Er nimmt Sie mit."

"Ich fahre nicht mit", erwiderte die alte Frau herb, "seit Jahren habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich fahre nicht mit. So ernst wird es nicht sein." Sie wandte sich um und sah nach der Tür.

"Sie sollten aber fahren." Erdner sah die Frau fest an. "Da ist noch der Junge."

"Jawohl, der Junge!", fiel sie ihm ins Wort, "das ist es ja gerade. Ich will mit ihm nichts zu schaffen haben. Ich soll ihn wohl nehmen, was? Ich will meine Ruhe."

"Der Junge braucht jemand, Frau Hörber."

Sie schüttelte abwehrend den Kopf und ging hinaus. Der Wind schlug die Tür hinter ihr zu.

Der Wind legte sich auch in den nächsten Tagen nicht schlafen. Er fegte über die Äcker und Wiesen, brachte noch ein paar halbgetaute Schneeflocken mit und rüttelte an den Fenstern. Er rüttelte auch an den Fenstern des Krankenhauses, in dem Berts Mutter lag - doch sie hörte nichts mehr ...

Bürgermeister Erdner hatte die alte Frau Hörber abermals zu sich gebeten. Im Gemeindebüro saß außerdem noch Fritz Haym, der LPG-Vorsitzende. Der große, breitschultrige Mann stand sofort auf, als Frau Hörber den Raum betrat. Schweigend und ein wenig umständlich drückte er ihr die Hand, denn seit dem Tode ihrer Tochter hatte er sie noch nicht gesehen. Auch dieses Mal setzte sich Frau Hörber nicht auf den ihr angebotenen Stuhl.

"Frau Hörber, das Amt für Jugendfragen hat sich nochmals an mich gewandt", sagte Herr Erdner, "wollen Sie Ihren Enkel tatsächlich nicht zu sich nehmen?"

"Nein, Herr Bürgermeister." Bei ihren Worten sah sie auf Herrn Haym. Was will der LPG-Vorsitzende denn hier, ging es ihr durch den Sinn.

"Haben Sie sich das gründlich überlegt? Bert wird dann in ein Kinderheim nach Thüringen geschickt. Bei uns ist alles besetzt."

Die alte Frau nickte nur.

"Ich fahre morgen in die Stadt und wollte ihn mitbringen", sprach Erdner weiter.

"Bringe den Jungen ruhig mit, Gustav", sagte Fritz Haym in die Stille hinein, "dann bekommt meine Jüngste noch einen Bruder."

Frau Hörbers Körper straffte sich. Sie starrte Haym ungläubig an. "Sie - Sie wollen ein fremdes Kind zu sich nehmen?"

"Zwar habe ich Bert nie gesehen, aber ich kannte seine Mutter", antwortete Haym.

Frau Hörber stand wie leblos da und sah noch immer auf Haym. Plötzlich kam Bewegung in sie. Sie machte einige Schritte auf den Schreibtisch zu: Mit vorgestreckten Armen fuchtelte sie durch die Luft und rief: "Nein, Herr Bürgermeister! Das will ich nicht, das nicht! Bringen Sie den Jungen zu mir! Verstehen Sie, zu mir. Ich nehme ihn."

III. Kapitel

Bert stand im Wohnzimmer am Fenster und sah gedankenlos auf die Straße. Der Himmel war trübe, genauso trübe wie an dem Nachmittag, an dem Mutti beerdigt wurde. Er schluckte die Tränen hinunter. Heute war die Nachricht gekommen, dass ihn jemand abholen würde, um ihn zur Großmutter zu bringen. Die Nachbarin legte seine Kleider in Muttis Koffer. Unten hielt ein grauer Wartburg. Ein dicker, nicht besonders großer Mann stieg heraus, blickte sich suchend um und kam dann auf das Haus zu. Bert beobachtete ihn. Wenige Minuten später öffnete er ihm die Korridortür.

"Guten Tag", sagte der Fremde, musterte ihn ein Weilchen und fragte dann: "Bist du der Bert Hörber?"

Bert nickte nur.

Der Fremde sprach weiter: "Ich bin Erdner, der Bürgermeister aus dem Dorf, in dem deine Großmutter wohnt." Er lachte Bert an. "Sie wartet schon auf dich, mein Junge. Hat man euch Nachricht gegeben?"