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Waldtraut Lewin

Vom Eulchen und der Dunkelheit

 

ISBN 978-3-95655-548-0 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1982 in Der Kinderbuchverlag Berlin (Band 162 der Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Andrea Grosz
 

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Vom Eulchen und der Dunkelheit

Es war einmal ein großer grüner Wald, so groß und grün, dass man seinen Augen kaum traute, wenn man ihn von Weitem erblickte. Wenn man sich aber ein Herz fasste und hineinging, sah man, dass der Wald nicht nur groß und grün und ernst war, sondern auch bunt und lustig, denn die Sonne spielte mit den Blättern Einkriegezeck, die Blumen steckten ihre Nasen um die Wette zwischen den Gräsern hervor, die Vögel machten einen Heidenlärm, und ab und zu lief einem ein Hase beinahe über die Füße.

In dem großen grünen Wald stand genau in der Mitte ein wundersamer, hoher Eichbaum, der war eine Wohnung. Ganz unten hauste das Eichhörnchen, in der Mitte das Bienenvolk, oben aber war das Eulennest.

Im Eulennest wohnte der alte Eulerich mit seiner Frau Eulalia und den drei Kindern Eumel, Eugenie und Eulchen. Eulchen war das jüngste und dümmste von den Kindern, und die Eltern schüttelten seufzend den Kopf, wenn sie es so vor sich hin träumen sahen.

Eines schönen Abends nun plusterte sich Vater Eulerich, schüttelte sein Gefieder und sagte: „So, meine lieben Kleinen. Jetzt habe ich euch genug über die Härten des Waldlebens erzählt, und ihr hattet so viel Unterrichtsstunden in der Theorie des Mäusefangens, dass ihr heute Nacht zum ersten Mal mit auf die Jagd könnt. Was denkt ihr, wie gut eine selbst gefangene Maus schmeckt!"

Die Eulchen freuten sich sehr und blinzelten, denn es war noch ziemlich früh am Abend, sodass sie noch nicht so ganz ausgeschlafen hatten — ihr wisst ja, dass Eulen am Tag schlafen und nachts wach sind. Eumel, Eugenie und Eulchen bemühten sich, schnell so richtig wach zu werden, wie es sich gehört, will man auf Jagd gehen. Sie plusterten ihr Gefieder und wetzten die kleinen Krallen am Holz des Eichbaums.

Als erster kroch Eumel aus dem Nest. Schließlich war er der Älteste. Er blinzelte, und als er merkte, dass es schon wundervoll dunkel war, so wie Eulen es nötig haben, um gut zu sehen, breitete er seine graubraunen Schwingen aus und strich davon, leise wie der Nachtwind. Man merkte überhaupt nicht, dass es sein erster großer Flug war.

Dann kam Eugenie an die Reihe. Sie zierte sich immer gern ein bisschen und flüsterte, während sie probeweise mit den Flügeln schlug: „Hoffentlich kommt kein Mondschein auf. Ich mag es nicht, wenn einem so viele zusehen, man wird unsicher." Sie schwebte in die Dunkelheit hinaus, als sei sie ein Nebelstreif. Nein, ihre Flugkünste musste Eugenie wirklich nicht verstecken.Nun war nur noch Eulchen da. Zaghaft kletterte es auf den Nestrand und starrte hinaus. Seine Augen leuchteten wie zwei Bernsteine, und Mutter Eulalia sah, dass sich ihr Jüngstes mit den Krallen festhielt, als fürchte es, ein großer Sturm könne sich unversehens erheben und es vom Nest wehen. Besorgt fragte sie, wie Eulchen die Dunkelheit fände.

,,Na ja, also, ich, also", begann Eulchen zu stottern und trat von einem Bein aufs andere, „also sehen kann ich. Aber", fuhr es fort und kriegte einen trotzigen Ton in die Stimme, „wer sich das ausgedacht hat, dass wir Eulen im Dunkeln sehen müssen, der soll mir nicht vor den krummen Schnabel kommen. So was Blödes! Ich finde es nämlich gruslig im Dunkeln."

Hier machte es eine Pause, die Vater Eulerich gleich zu dem Einwurf nutzte, er habe wohl nicht recht gehört. Und obwohl Eulchen merkte, dass sein Vater anfing, ärgerlich zu werden, wiederholte es doch noch einmal mit Nachdruck: „Gruslig find ich's. Jawohl", und nickte mit dem Kopf.

„Aber es ist doch unser Eulenstolz, dass wir gerade dann sehen können, wenn die anderen Tiere nichts erkennen", rief Eulerich aus.

Eulchen seufzte. „Was haben wir davon? Dafür können die anderen sehen, wenn wir blind sind."

Der Vater sagte erst mal gar nichts, aber an der Art, wie er sein Gefieder aufplusterte, merkte Eulchen, dass er sehr ärgerlich war. Er wandte sich nicht an sein Kind, sondern, wie das ebenfalls seine Art war, wenn er sich ärgerte, an seine Frau und sagte würdevoll zu Eulalia: „Mutter, ich sehe mit Verwunderung, ja Entsetzen, dass unser jüngstes Kind den Sinn des Lebens sowie die Grundbegriffe des Mäusefangs nicht erfasst hat. Wer solche Reden führt, ist nicht reif für die Jagd. Ich hoffe, hier ist niemand anderer Meinung.“ Und weil Mutter Eulalia betreten guckte, drehte er den Kopf zu Eulchen und bemerkte: „Bleib denn zu Haus und denke über meine Worte nach.“

Eulchen senkte den Kopf, während sein Vater mit gewaltigem Flügelschlag in die Nacht eilte. Seine Mutter tuschelte ihm ins Ohr: „Mach dir nichts draus, ich bringe dir eine fette Maus mit. Und morgen sagst du schön, was du gelernt hast, sonst regt sich Papa wieder auf."

Damit flog auch sie davon.

Erst jetzt begriff Eulchen, was es sich eingebrockt hatte: Es musste allein zu Hause bleiben, und das fand es eigentlich noch grusliger als das Ausfliegen zur Nachtzeit. Das Nest erschien ihm groß und kalt, keiner war da, an den es sich ein bisschen ankuscheln konnte, und wenn es an die weichen Federn seiner Mama Eulalia dachte, die jetzt irgendwo da draußen umherflog, hätte es am liebsten geweint.

Aber schließlich war es ja ein Eulchen und keine Heulsuse, und es sagte sich, man müsse vielleicht das Beste daraus machen. Der große Eichbaum war voller Leben. Eulchen beschloss, die Nachbarn zu besuchen. Das war ein angenehmer Zeitvertreib, und man war nicht mehr einsam. So dachte Eulchen jedenfalls.

Es flog auch gleich ein Stockwerk tiefer, wo in der Höhlung des uralten Stammes der große Schwarm der wilden Bienen sein Haus hatte, und klopfte an. Erst war es still, aber dann erhob sich im Stock ein vielfältiges Summen und Brummen, und aus dem Gesurre heraus vernahm Eulchen viele Stimmen, die sagten: „Wer ist da so spät am Abend, wer stört unsre wohlverdiente Ruhe?"