Impressum

Ulrich Völkel

Kain und Abel

Eine vermaledeite Affäre

 

ISBN 978-3-95655-534-3 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1968 im Eulenspiegel Verlag Berlin.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2015 EDITION digital®
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: verlag@edition-digital.com
Internet: http://www.ddrautoren.de

Der erste Teil

heißt: Dichter Rumpach hat eine Erleuchtung, sodass man sich gar nicht vorstellen kann, wie der Autor zu dem Schlusssatz kommt: Und es war ziemlich finster.

 

Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes; und Abel brachte auch von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett.

1.Mose 4

1. Kapitel

Kurt Rumpach, Dichter, der von seiner Frau einen Trabant und zwei Kinder hat, fährt in diesem Wagen nach Seltensow, dem Dorf. Die Landschaft, in die er hineinjockelt, misshagt ihm. An den viel zu großen Silberlöffel denkt er, an dem kein Silber mehr und der von Tante Amalie ist. Und ihm scheint, als ob er mit diesem viel zu großen, nicht mehr silbernen Löffel in einen nur mit Wasser angemachten Haferbrei hineinlangen müsse, um davon zu essen. Das schmeckt ihm nicht. Vorfrühling, stellt Rumpach gelangweilt fest. Vorfrühling 1963. Noch stehen die Bäume wie in Linol geschnitten. Die Haferbreifelder brummen öde. Die nicht umgerührte Atmosphäre riecht nach abgestandnem Wintermatsch. Kein Vogel erhebt sich, und leer, löchrig flieht die Landstraße, der Langeweile müde, zwischen des Trabanten Räder. Rumpach macht sich Gedanken.

Es gibt nichts Vollkommnes auf der Welt. Man will einen beachtlichen Roman schreiben, man will zeigen, wie der Widerspruch in die Materie kommt. Kann man das an kleinen Konflikten? Man kann nicht. Unsereins sucht nach einem echten Konflikt, nach dem Konflikt, macht sich’s nicht leicht, bei Gott. Die Partei aber schickt mich in dieses Dorf. Hätt’ ich bloß auf der Konferenz den Schnabel gehalten. Was hat man davon? Die Partei nimmt einen beim Wort, das hat man davon.

Rumpach besieht die Traurigkeit seines Antlitzes im Rückspiegel. Und hat er nicht Grund zur Traurigkeit? Widersprüche großen Formats kann es nur geben, wo es große Formate gibt. Ja, Leuna II oder Schwedt oder Schwarze Pumpe. Aber dort sitzen ganz andere Leute. Da lässt keiner den Dichter Rumpach ein.

Was aber erwartet ihn in Seltensow? Ferkelsterblichkeit, Alkoholverbrauch, Entenmast ... Rumpach bekommt ein steifes Knie vor Abstandstheorie. Hüpf, macht der Trabant.

2. Kapitel

Hüpf, hüpf. Die hässliche Kröte sprang von der Landstraße in den Graben zurück.

Ein Dichter, sagte Hannes Holter nachdenklich. Bist du auch ein Dichter unter den Kröten? Springst in den Morast als wie Herr Rumpach in unser Dorf. Hannes dachte noch etwas. Er dachte: Hähä, ein Dichter. Scheißen ihn aber trotzdem an, den Dichter.

So standen die Probleme. Hannes aber saß auf einem Kilometerstein. Das war unvorsichtig; denn bei der Temperatur konnte er sich einen Wolf holen, zumal er doch so schnell gelaufen war, der Hannes.

Die Mitglieder der LPG Einheit erwarteten den Kollegen Rumpach, einen Schriftsteller, der bei ihnen lesen wollte. In ihrem Versammlungsraum saßen sie und harrten der Dinge. Das Wetter war noch nicht danach, dass man keine Dichter mehr benötigte in Seltensow. Frühjahrsbestellung stockt, Kulturprogramme noch möglich.

Und Hannes Holter war vorausgeschickt worden, den Dichter unterwegs zu empfangen, damit er sicher dorthin geleitet werde, wo er gleichfalls erwartet wurde. Aber das war nicht der Versammlungsraum der Genossenschaft Einheit, sondern der von Eintracht; denn Seltensow hatte zwei Genossenschaften: Typ I und Typ III.

Hannes, der die Kröte beobachtet hatte, blickte nun wieder die Landstraße hoch. Ein Auto näherte sich. Hannes war deshalb ausgeschickt worden, weil er am besten sehen konnte. Er war Scharfschütze gewesen, damals, als man noch andere Lieder sang. Und er bildete sich verflixt viel ein auf seine scharf blickenden Augen. Auf hundert Meter konnte er die Autonummer erkennen. Hubert Himmisch, was der Vorsitzende von Typ I ist, hat schon gewusst, wen er da auf Vorposten schickte. Hubert hatte nämlich erfahren, dass der Schriftsteller mit der Nummer KR 10-01 kommen würde. Nur das dazugehörige Auto kannte er nicht.

Hannes langte in seine Brottasche und holte von den beiden Flaschen die andere heraus. Im Dienst trank er nur Kaffee. Heran brauste ein Wolga. Hannes kniff das linke Auge zu, ließ das rechte nur einen Spalt offen und sagte trotz einer Entfernung von etwa siebenundneunzigeinhalb Meter: Ist er nicht.

Überhaupt wunderte sich Hannes, was an diesem Nachmittag alles in Richtung Seltensow fuhr.

3. Kapitel

Einfach war der Plan und leicht zu machen. Hubert hatte erfahren, wie man es eben erfährt: Typ III sollte eine Dichterlesung haben. Ging das an? Als er‘s erfuhr, war sein Plan auch schon rund. Und also saß der scharf guckende Hannes am Straßenrand, die Autos beobachtend und auf Posten.

Der Streit zwischen den beiden Genossenschaften Einheit und Eintracht war älter als alle Genossenschaften, wenn man von der Urgemeinschaft absieht.

Es war einmal ein Mann Adam. Und es war seine Frau Eva. Die hatten zwei Kinder, Kain und Abel. - Kann man in der Dorfchronik nachlesen. Die beiden Eltern lebten zufrieden bis ins Rentenalter. Eines Abends wollten sie ein Weckglas mit Äpfeln öffnen, erwischten aber unglücklicherweise eines von den Gläsern, in denen die beiden Buben ihre chemischen Experimente zu machen pflegten. So starben Adam und Eva. Die beiden Jungs aber machten sich schlimme Vorwürfe, so schlimme, dass keiner von sich selber annehmen konnte, er sei der Schuldige gewesen. Um zu beweisen, wer von beiden der Edle sei, gruben sie sich gegenseitig das Wasser ab und kippten Salzsäure in des anderen Jauchefässer.

Das alles geschah am nämlichen Orte, der heute Seltensow genannt wird, weil, das ist der Ursprung des Namens, Brüder selten so sind. Kain und Abel gründeten Familien, vergrößerten ihren Anhang, blieben aber am gleichen Flecken wohnen, weil doch jeder damit beweisen wollte, dass er sich hier unschuldig fühle.

Kain und Abel sind tot. Es gibt einen hübschen Roman über sie. Der Streit aber lebt weiter. Heute heißen die Anführer Himmisch und Köckner. Himmisch Hubert ist Vorsitzender der Genossenschaft Eintracht (Typ l). Die Zahl der einstigen Vorsitzenden aber von Einheit (Typ III) ist so groß, dass ein Wandschrank als Schlüsselkasten nicht ausreichte, wäre für jeden Vorsitzenden ein Schlüssel zum Büro angefertigt worden.

Bis vor wenigen Wochen war Robert Köckner Vorsitzender in Einheit gewesen. Aber seine Tochter Antonella, die überall Nelli geheißen wurde, war zur neuen Vorsitzenden gewählt worden. Sie hatte studiert. Davon versprachen sich die Einheitlichen etwas. Gewählt aber hatten sie Nelli, weil die von Eintracht keine Frau an ihre Spitze stellen konnten. Somit lag Einheit in Sachen Emanzipation an der Tabellenspitze. Der Ärger war nur der, dass das Mädchen ihre Arbeit ernst nahm. Na, da reden wir noch drüber.

In Hubert fraß der Wurm seit dem Tag, als ihm die junge Gans gegenübergesetzt wurde. Er wollte es ihr eintränken. Der Dichter kam ihm zurecht, und der Einfall war glänzend.

Himmisch hatte eine Stunde vor der in Einheit erwarteten Lesung Hannes Holter mit geheimer Order losgeschickt. Dem Hannes war’s recht. Er hatte die Arbeit ohnehin nicht erfunden. Das Pferd, was er für seinen Auftrag benötigt hätte, gab ihm Hubert allerdings nicht.

„Meinst, der Dichter kommt im G fünf vorgefahren, dass du den Gaul einladen kannst; denn vorausreiten ist zu langsam.“

„Aber wenn der Dichter nun in einem Schlammloch stecken geblieben ist? Wer holt ihn 'raus, wenn ich nicht komme mit Pferd“, gab Hannes zu bedenken. Doch Hubert ließ nicht mit sich handeln. „Wenn er im Schlamm steckt, lass ihn stecken. Wir brauchen uns sein Gedichtetes nicht anhören, und die von Köckners Tochter können es nicht. Noch besser.“ So musste Hannes laufen. Nicht allzu weit, das tat nicht not. Er lief nicht weiter, als ein ordentlicher Misthaufen stinkt bei günstigem Wind. Hubert aber rief seine Bauern zusammen. Das geschah heimlich. Seltensow erwartete den Dichter wie der Rat des Kreises gutes Wetter zum Säen.

Hannes wischte sich über seinen Schnauzbart. Tief sog er die Luft ein. Dem Wind ließ er die Haare. Schöner Nachmittag. Wieder sah er hinüber zum Köcknerschen Winterroggen. Da stand eine Drillmaschine wohl schon das ganze Jahr. Und Hannes, der sehr für Ordnung war, wenn es ihn nicht selbst betraf, schüttelte missbilligend den Kopf, wobei er dachte: Werden sie den Roggen unter dem Gestänge absicheln oder überhaupt stehen lassen?

Ein Wartburg schlürfte Regenwasser aus den Schlaglöchern und spritzte es den Bäumen untern Rock. Hannes hatte die Nummer entziffert. Eine hübsche junge Frau steuerte das Auto. Ob es auch Dichterinnen gibt? Kaum, dachte Hannes. Romane werden über Frauen geschrieben, das genügt. Aber es wäre schön, wenn eine Dichterin in dem Auto KR 10-01 säße. Hannes stellte sich vor, mit ihr in Seltensow einzufahren. Da hätten sie außerdem etwas für die Ent-Mannt-Zipation getan, weil doch dann eine Frau einen Mann gefahren hätte, nämlich uns’ Hannes Holter. Ach ja!

Hannes schaute zur Uhr. Wie spät war’s? Der Schreck fuhr ihm flinker in die Knochen als die Hand zur anderen Flasche. Weitschuss! Vor einer halben Stunde sollte die Leserei begonnen haben. Kein Dichter aber unter dem Himmel, gar keiner auf der Landstraße. War er vom anderen Ende her ins Dorf gefahren? Hatte Hubert eigentlich gesagt, er solle in Richtung Kreisstadt oder in Richtung Bezirksstadt gehen? Er war zur Kreisstadtseite gegangen. Warum? Weil er immer zur Kreisstadt lief, zur Bezirksstadt aber fuhr. Wohnen Dichter überhaupt in Kreisstädten? Als Hannes im Jahre zwei nach der Gefangenschaft die Wahl hatte, drei oder sieben Häuser weit vom Krug zu wohnen, wohin war er gezogen? Wo der Krug am nächsten war. Also werden Dichter auch nicht ins siebte Haus gezogen sein, sondern in die Bezirksstadt. Und Hannes lief so schnell, wie ihn seine kurzen Beine tragen wollten, aufs Dorf zu, um den Dichter auf der anderen Seite vielleicht noch anzutreffen.

4. Kapitel

Kurt Rumpach sah ihn herankraxeln. Er begrüßte Hannes lächelnd und sagte: „Hilf mir, Freund, meinen Wagen wieder flottmachen. Ich sehe dich in Eile. Hilfst du mir, nehm’ ich dich ein Stück mit.“

Dem Hannes war’s gelegen. Mit einem ordentlichen Schubs holte er des Dichter technisierten Pegasus aus dem Schlammloch, setzte sich sodann mit Vorsicht in das Auto und sagte: „Gib ordentlich Kattun, Chef, es pressiert.“

Passt wie die Faust ums Bierglas, dachte Hannes. Der Chef fährt mich dem Dichter genau vor die Deichsel.

„Warum pressiert’s, Kollege, kriegt die Frau ein Kind, und ist kein Arzt da?“, fragte der.

„Ach was, Kinder kriegen ist doch nichts gegen einen Dichter kriegen. Ich soll da einen abfangen und bei uns um die Ecke bringen“, erklärte Hannes dem Chef. Felder links und rechts der Straße. Der Kerl war ja unheimlich.

„Was sagen Sie da?“

Und Hannes erklärte dem Dichter Rumpach, was sie mit dem Kerl im Auto KR 10-01 vorhatten. „Dann steig’ ich in sein Auto wie eben in deinen Rasenmäher, sag’, mich hätte der Vorstand ausgeschickt, ihn zu empfangen. Und ich zeige ihm den Weg. Aber wohin. Den Weg zu Eintracht. Der dreimal verschnittene Ochs denkt, er läse in Einheit, und liest bei uns. Gib Kattun, Chef. Die Dorfgrenze hast du nicht gesehen. Halt dich in der Mitte der Straße, da passiert nichts. Und Bogenbahn, unser Abevau, sticht sein Frühbeet um. Sieht er dich, hat er deine Nummer noch nicht. Er müsste sie nämlich aufschreiben. Hat er den Stift mit im Frühbeet?“

Rumpach Kurt, dem eine große Erleuchtung gekommen war, als er alles gehört hatte, lächelte fein und sagte: „Meine Nummer ist aber leicht zu merken, KR eins-null Strich null-eins.“

„Die ist bei Gott einfach. Hast sie dir wohl ausgesucht?“ Hannes machte Spaß. Plötzlich rief er: „Anhalten“, und das Auto machte halt. Schnell kletterte Hannes aus der Tür, lief vor die Motorhaube, las die Nummer und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. „Ich hab’s gewusst“, rief er aus. „Huberts schöner Plan!“ Nur zwanzig Meter weiter war der Versammlungsraum von Typ I. Hannes winkte, als wolle er das Auto anhalten. Er setzte alles auf eine Karte und fragte: „Sind Sie der Dichter, wo heute bei uns lesen soll?“

„Der bin ich“, gab Rumpach kollegial zur Antwort.

„Eigentlich in Einheit, aber ich werde dich doch nicht verraten. Wir lesen bei Eintracht. Na?“ Hannes strahlte. Er hatte plötzlich einen Dichter zum Freund. Das musste ein guter Dichter sein. Also fuhren sie die letzten Meter in Rumpachs Trabant dorthin, wo sie ebenfalls erwartet wurden.

5. Kapitel

Wer Nelli so sitzen sah, hätte alles von ihr gedacht, nur nicht, dass sie Vorsitzende einer LPG war. Aber sie war es noch nicht lange. Wenn die Arbeitseinheit ein Verhältnis hatte mit dem Minus, lag’s an der Arbeit der bisherigen elf Vorsitzenden. In ihrer ersten Versammlung hatte sie gesagt: „Der Bodenmeister verschachert Getreide, in der Hühnerfarm verschwinden Eier, Lassdoch liegt mit Schlamperitis im Krankenhaus, die Traktoristen tanken ihre Motorräder voll Allgemeinkosten. Das hört auf.“

Und an die Kreispartei hatte sie einen Bericht geliefert, in dem stand, wie sie die Genossenschaft zurzeit sähe. Leute, Leute, wie kann man nur das eigene Nest beschmutzen. War der Vater nicht vorher der erste Mann gewesen in der LPG? Unter uns, er war es eigentlich bloß für oben gewesen und als Sündenbock. War unser bester Vorsitzender.

Die Nelli, das Mädchen, war gut für das Frauenkommunekeh. Aber von wegen ernst machen mit ihrer Funktion als Vorsitzende, daran hatte schließlich keiner gedacht bei der Wahl. Hat es ja noch nie gegeben. Wohin die Weiberwirtschaft führt, sieht man: Es gibt kein Bier mehr im Vorstandsbüro. Wozu, Leute, haben wir dann ein Vorstandsbüro, noch dazu mit NAW-Tapete. Solln uns Bier kaufen, abends, im Konsum, hat sie gesagt. Früher war das so: Das Bier wurde gleich bei der Brauerei gekauft, allemal hundert Kästen. Wir waren Großabnehmer. Das hat was für sich, das macht das Bier billiger.

Was passiert? Die Nelli sagt, wir sind keine Kneipe. Und das Kind stellt sich hin und sagt: Heißen wir LPG Blaue Fahne oder Billigbier? Und damit kommt sie auf die Politische, was wir nicht mögen.

Aber wir wissen, was Diplomatie ist. Wir haben geknurrt, bloß so, dass es nicht zu hören war auf der anderen Seite. Und dann hat der Richard Schnellheim laut gesagt, damit es die auf der anderen Seite hören konnten: „Wir trinken keinen Alkohol in der Arbeitszeit wie andere. Unser Büro ist doch keine Kneipe; hat die Vorsitzende recht.“

Und daraus kann man schon sehen, wie diplomatisch wir sind, wenn wir die Politik auch nicht mögen.

Stich mit dem Stock in die Ameisenburg! Die Nelli hatte einen Ameisenbrief geschrieben an die Kreispartei. Man kann sein Nest nicht beschmutzen, ohne selber danach zu riechen. Kiesgrubenrobert, der die Schrift kennt wie unser Herr Pfarrer, sagt: Dem Herrn folgten elf Jünger. Der zwölfte aber, Judas Ischariot, verriet ihn. So spricht er, und wir denken uns, dass die Nelli die zwölfte ist. Bloß, ich hab’ mir damals schon gesagt, sie ist nicht der zwölfte, sondern die erste. Hab’ aber das nicht gesagt.

Nein, man konnte der Nelli so eine Vorsitzende von der Genossenschaft nicht ansehen. Aber das mit dem Dichter war ein großer Einfall. Die Einträchtigen würden schwarz werden wie vergammelter Roggen. Natürlich war man für Kunst und Literatur in Einheit. Die Nelli hatte sich da etwas einfallen lassen, was keinem vor ihr je in den Sinn gekommen wäre. Sie hatte die Kreispartei gebeten, einen Dichter zu schicken, damit denen bei Eintracht die Milch sauer würde vor Gezeter. Und das ist das Gute an denen: Sie schickten einen.

6. Kapitel

Rumpach Kurt wendete elegant. Hannes sprang aus dem Auto heraus, das er einen Grasmäher genannt hatte, als er noch nicht wusste, dass es seinem neuen Freunde eigen war, dem Dichter Rumpach. Hannes sprang also auf die Straße, lief um das Auto herum und riss Kurts Schlag auf.

Das war ein schöner Empfang. Mindestens sieben, acht Leute hatten es gesehen. Und es machte einen guten Eindruck, als der Dichter den Bauersmann freundschaftlich um die Schultern nahm und mit ihm so in den Saal eintrat.

Dichter und Bauer wurden feierlich empfangen. Hubert freute sich sehr. Er war der Vorsitzende, er hatte einen Sieg errungen. Die Nelli wird sich kröpfen, wenn sie’s erfährt. Rumpach, der um den Schwindel wusste, glaubte dennoch, die Freundlichkeit gälte allein ihm. Das ist sehr angenehm, dachte er sich, wie ich hier empfangen werde.

Nachdem Hubert den Dichter ganz privatim begrüßt hatte, schwang er für seine Bauern eine ordentliche Rede, wie er das von den Funktionären gelernt hatte. Oh, der Hubert ist ein Fuchs, Leute. Was macht er, um den aktuellen Bezug ’reinzukriegen? Er ruft vor der Versammlung in der Kreiszeitung an. Dort arbeitet sein Freund, ein Redakteur. Hubert fragt an, was es morgen auf der ersten Seite geben wird. Und Gert, sein Kumpel, der sagt seinem Freund Hubert prompt, wie die erste Seite morgen aussehen wird. Na, und die Bauern merken dann, wie ihr Vorsitzender auf Draht ist.

Hubert schwang also seine Rede. Er hatte den politischen Teil hinter sich und fuhr fort: „So ist die Lage, Kollegen und Freunde. Ich komme demnach zum Schluss meiner Ausführlichkeiten und übergebe das Wort unserem Dichter Rumpach. Er hat mir bereits gesagt, dass er frisch aus der Pfanne lesen wird. Dieser Titel ist sicherlich heiter. Lachen ist gesund. Hannes soll anschließend in mein Büro kommen.“

Sprach’s und verließ den Saal. Rumpach blickte ihm verwundert nach. Dann besann er sich auf sein Publikum, blickte gewinnend in die Runde und bestieg über einen bei einer Klopperei entlehnten Stuhl die Bühne. Auf ihr stand ein Tisch, mit rotem Fahnentuch belegt. Ein Stuhl stand daneben. Rumpach zog ihn elegant zu sich heran. Alles, was er jetzt tat, war wichtig für den Erfolg seiner Lesung.

„Liebe Freunde“, begann er seine Eröffnung. „Eigentlich hätte ich gar keine Zeit gehabt, euch zu besuchen. Aber ihr wisst ja, wie das mit uns Dichtern ist. Wir hassen den Elfenturm, haha, wollte sagen, Elfenbeinturm, und müssen immer wieder unter Menschen.“

Er verstand sich aufs Reden. Als er endlich so weit war, mit dem Lesen beginnen zu können, machte er eine Bewegung des Schmerzes und rief aus: „Meine Tasche! Ich habe meine Tasche im Wagen liegen lassen. Hannes, mein Freund!“

Hannes sprang auf, so ergriff ihn das Unglück seines Freundes. Und nach mir hat er gerufen, Leute, nach mir! dachte er stolz. Alle Bauern erwarteten gespannt, was nun geschähe. Der Dichter griff in die Hosentasche, zog den Wagenschlüssel hervor und warf ihn dem Hannes zu. Scharfschütze Holter fing ihn aus der Luft. Er war nunmehr ein sehr wichtiger Mann, der Assistent vom Dichter. Er ging.

Hannes kam wieder in den Saal. Erstaunt sahen die Bauern, was für eine Last ihr Kollege zu schleppen hatte. Es war eine sehr große Aktentasche, ein Koffer fast. Hannes zog es krumm nach der Seite. Mit großem Plumps stellte er die Tasche neben dem Dichter ab. Rumpach packte die Bücher auf den Tisch. Mit wohlgemessenen Bewegungen schichtete er ein Dutzend übereinander, stapelte sie aber so, dass Titel und Autor nicht zu lesen waren. Hatte er behauptet, diese Bücher alle selbst geschrieben zu haben? Obenauf aber legte er eins, allen sichtbar, und da stand: Kurt Rumpach - Jungen im Sturm.

7. Kapitel

Nelli klopfte Sturm mit ihren Fingern auf die Tischplatte. Eine halbe Stunde war der Dichter bereits überfällig. Man war es zwar gewohnt, dass die Literaten mit ihren Büchern zu spät kamen, aber zu einer Lesung hätte der Mensch rechtzeitig erscheinen sollen. Im Saal warteten die Bauern von Einheit. Nelli überrechnete kurz den Verlust, den ihr die halbe Stunde bereits eingebracht hatte. Dreißig Leute im Saal, mal eine halbe Stunde, rund zwei Arbeitstage vor der Aussaat, der soll mir nur Honorar verlangen.

Bald eine Stunde war vergangen, als jemand polternd in ihr Zimmer trat. Aber es war kein Dichter, sondern Nellis Vater Robert Köckner. Er zog sich einen Stuhl heran und nahm der Tochter gegenüber Platz. Er sagte kein Wort. Er polkte sich umständlich Reste des Mittags aus den Zähnen.

Nellis Zorn entlud sich gegen den Vater. „Ich weiß, zu deiner Zeit wäre das nicht passiert. Aber zu deiner Zeit ist manches nicht passiert. Was sagen die Leute?“ Robert schüttelte missbilligend den Kopf und sagte: „Äh, schimpf nicht, Vorsitzende. Dein neumodischer Kram ist dasselbe wie Kunstdünger. Der Boden will richtigen Mist. Wenn die Konzertunddirektion kam, war sie immer da. Die von Himmisch arbeiten nicht. Da liest einer. Es ist immer dasselbe mit diesen. Sagstn nun?“ Nelli achtete nicht auf die umständliche Rede ihres Vaters. Sie hatte nur gehört: Da liest einer. Nelli glaubte nicht an Zufälle. Nicht in diesem Dorfe. Wenig vor der ausgemachten Zeit war Hannes Holter aus dem Dorf gelaufen. Eine halbe Stunde später war er in einem Trabant zurückgefahren und mit einem Kerl, den sie nicht kannte, in der Dorfgaststätte verschwunden. Es gab nun keinen Zweifel mehr, wer das war. Da brachte Nelli über ihre wunderbaren runden, etwas aufgerollten Lippen mit großer Vehemenz das heftige Wort Himmelarschundwolkenbruch. Hernach griff sie zum Telefon.

8. Kapitel

Ach, Leute, was hatte der Dichter Erfolg. Sein Auftritt war eindrucksvoll gewesen. Noch mehr aber als Rumpach freute sich Hannes Holter. Sein Freund, der Dichter, verstand etwas von Kunst. Er bewegte die Leute. Nicht zum Gehen, nein, so im Innern. Was er da vorhin gesagt hatte über die Mühen des Schreibens, die vielleicht vergleichbar wären mit den Mühen eines Ackermannes - war das nicht schön gesagt? Das hob einen doch selber. Man konnte keine Bücher schreiben, aber man kann Kartoffeln roden.

Die Bauern hatten den Auftritt des Dichters verfolgt wie ein Fernsehspiel. Am dollsten war das Ding mit dem Koffer, den ihr Hannes aus dem Auto des Dichters holen durfte. Arbeitete Hannes am Ende mit dem Dichter zusammen? Sie duzten sich. Sie waren gemeinsam in den Saal gekommen. Die Leute machten Wer-ist-der-Täter-Augen. Die Einträchtigen hatten bestimmt keinen Halbdichter, nee, die nicht.

Die anfängliche Spannung ließ allerdings bald nach. So aufregend war das gar nicht. Meta Guckmal dachte an ihre Wäscheleine. Die konnte sie so straff spannen, wie sie wollte. Kaum hing die Wäsche drauf, sackte die Leine durch. Meta nahm dann Wäschestangen. Aber für die Stimmung gab es keine solche Stangen.

Meta sah hinüber zu Karlotta. Die schlief mit halb offenem Mund und sackte immer weiter vornüber. Wenn der da oben noch eine halbe Seite las, lag Karlotta bestimmt unterm Stuhl. Meta amüsierte sich darüber. Doch eine Stimmungsstange! Ihr Mann konnte den Alten von Karlotta untern Tisch saufen. Das war schon was. Aber dieser Dichter würde sie jetzt unter den Stuhl lesen. Das musst du gesehen haben, hähä. Meta stieß Anna in die Seite.

„He?“, schniefte die. „Die Karlotta schläft“, flüsterte Meta.

„Lot se, da brückst mie doch nich extra wecken“, franselte sie über die drei Zähne.

Der Gute Gotthard pikte Meta ins Kreuz. „Halt dich senkrecht, der da vorne braucht’s nicht zu sehen.“ Meta drehte sich um. „Achtzehn“, flüsterte der Gute Gotthard gerade zum Opa Schlummrig. Sie skateten. Meta gackelte: „Bist doch nicht in der Produktion.“

„Holt Mul.“ Der Gute Gotthard hatte gerade ein dolles Blatt auf der Hand. Opa Schlummrig passte sofort. „Zementarbeiter!“, fauchte Kunigunde. Sie hatte nämlich nur Luschen und einen König dazu.

Der Dichter las mit donneriger Stimme. Er hatte ein lesbares Buch geschrieben. In der Wochenpost hat sogar über der Kritik gestanden: Bücher, die der Jugend nicht schaden. Also war Rumpach ein Freund der Jugend. „Hosen ’runter“, verlangte der Gute Gotthard von Kunigunde. Sie legte das Blatt auf den freien Stuhl. Sie hatte einen Null ouvert gereizt und damit des Guten Gotthards Grand mit einem überboten. Der beguckte ihr Blatt, dann grinste er Opa Schlummrig aufmunternd zu und sagte: „Dat Mädchen hat kein Glück mit die Männers. Drückt den König ans Herz, wo sie ihn drücken sollt’ in Skat. Spiel aus.“ Opa Schlummrig spielte den Jungen aus, und alles klappte. Kunigunde hatte den König an der falschen Stelle gedrückt.

Der Dichter las immer noch mit donneriger Stimme.

Er war jetzt gerade an der Stelle, die sich auf die Landwirtschaft bezog. Sein Held kommt in den wunderschönen Garten der schönen Irene mit den halblangen, halb gefärbten Haaren. „Und während sie fröhlich miteinander plauschen, befühlt das Mädchen die Eier der Hühner.“

„Halt!“, brüllte Hannes Holter plötzlich. Er sprang auf, als habe er sich aufs Getriebe eines laufenden Dreschkastens gesetzt. „Ein Diskussionsbeitrag“, erklärte er. Wach war die Versammlung mit einem Schlag. Kunigunde erfasste die Gelegenheit und schrieb die verlorene Spritze nicht an. Hannes war der einzige, der jedes Wort von Rumpach in sich gegossen hatte wie Ottos Weißen. Und dem Hannes war etwas aufgefallen. Rumpach ließ ihn gewähren.

„Das mit dem Eierfühlen, lieber Kurt, das musst du dir gesagt sein lassen, das ist nicht gut möglich. Da musst du einmal an die Basis. Das ist doch so, dass es gar nicht so ist. Du kannst die Eier nicht fühlen bei den Hühnern. Ich bin ein Mann der Praxis. Einer von den Kartoffelrodern. Du bist einer von den Kartoffelessern. Mit den Eiern liegt das auch so. Wir schaffen sie in die Stadt, und du verzehrst sie, einige. Und ich sage dir, die Eier kann man niemals nicht fühlen bei Hühnern.“ Hannes ahnte nicht, welchen Sturm er heraufbeschwor. Empörung war in der Luft, so viel wie Sauerstoff. Aber nicht, weil der Vortrag des Dichters unterbrochen worden war, nein, weil der Holter, der Dösbattel, der Dunkopp, der Krummsnacker, behauptet hatte, man könne den Hühnern die Eier nicht fühlen.

Meta überkrähte den Lärm: „Dat du zu schusselig bist för die Hühners, dat brückst dem Dichter nicht so deutlich zu offerieren. Ich mach’ dat jeden Tag. Ihr Buch ist richtig, Herr Ruhmpech. Wat soll’s denn kosten, wenn man es direkt bei Ihnen kauft und nicht im Konsum?“

Trotz der Zustimmung, die Meta erntete, gab Hannes nicht nach. „Und ich sage, man kann’s nicht“, beharrte er. „Man kann s nicht. Den Gänsen kann man und den Enten die Eier fühlen. Den Hühnern niemals nie. Den Hühnern tastet man die Eier, so, mit dem Finger!“ Und er spreizte den bezeichneten Finger piel in die Luft. „Oder machst du es mit dem großen Zeh, Meta?“ Und weil jetzt alle lachen mussten, hatte natürlich Hannes recht. Klarer Fall, die Eier werden dem Huhn getastet.

„Und deshalb, lieber Kurt, wenn du diese Irene wiedertriffst, sag ihr zweierlei: Sie soll sich nicht die Haare färben. Darüber hast du bereits geschrieben. Und sie soll zweitens den Hühnern nicht immer mit dem Finger und so, weil das gar nicht gut ist für die Tiere. Lies weiter.“ - Hannes setzte sich.

Rumpach war dem Hannes dankbar. Er hatte kein Buch über die Landwirtschaft geschrieben. Das mit den Hühnern passierte in einem kleinen Vorortgärtchen. Aber durch den Zwischenruf war erstens die Aufmerksamkeit wieder gestiegen, und er konnte zweitens in der Kreispartei melden, nicht nur vor den Bauern gelesen, sondern mit ihnen auch noch das literarische Gespräch entwickelt zu haben.

9. Kapitel

„Ein Gespräch für dich, Bürgermeister“, rief die Sekretärin Trulle Halblang ins Zimmer ihres Chefs. Herbert Tänzer ging zum Apparat und fragte Trulle: „Wer ist dran?“

„Die Nelli“, sagte sie. Herbert zögerte. „Was will sie?“

Trulle tat uninteressiert. Trulle tut immer uninteressiert, wenn es spannend wird im Büro. Sie sagte: „Was wird sie schon wollen? Den Bürgermeister will sie sprechen, hat sie gesagt. Wegen dem Hubert. Was sonst?“

„Nee“, sagte Herbert, „ich bin seit einer halben Stunde im Kreis. Verflixte Streiterei. Die sollen sich einen Kadi halten. Sag ihr das, Trulle. Ich bin im Kreis.“ Herbert wollte sich schon wieder in sein Zimmer begeben, da rief ihm Trulle nach: „Sie weiß, dass du im Büro bist.“

Da ergab sich Herbert und ging ans Telefon. „Bürgermeister Tänzer“, sagte er mürrisch. Dann hörte man eine Weile nichts. Trulle aber beobachtete das Gesicht ihres Chefs und sah, dass seine Mundwinkel herabrutschten wie der Schnauzbart eines Mandarins. Er sagte auch nur: „So.“ Und legte den Hörer auf die Gabel zurück, sachte.

Nun darf keiner glauben, der Herbert sei ein schlechter Bürgermeister. Nee, nee, schlecht ist er nicht. Aber der Kleinkrieg zwischen Einheit und Eintracht hat ihm die Nerven ziemlich zerkrempelt. Das hält aber auch der stärkste Gaul nicht aus. Einmal ruft Herbert an und sagt: „Die sind mir über die frische Saat gefahren mit dem Gespann, absichtlich. Wie viel müssen die Flurschaden berappen?“ Den Tag darauf ruft die Nelli an und sagt: „Die haben einem von uns Essig in die individuelle Milch gegossen. Mach endlich etwas, Bürgermeister.“

Und so geht das Tag für Tag. Herbert Tänzer ist am Anfang mit dem eisernen Besen dazwischengefahren. Er hat nicht den Humor wie Bogenbahn, der Abevau. Die beiden Genossenschaften führten einen heftigen, kleinlichen Krieg.

Und wenn Hans Hagen nicht wäre in diesem Nest Seltensow, dann hätte Herbert Tänzer wahrscheinlich doch schon die Flinte ins Korn geworfen. Er war sein Leben lang Bauer gewesen. Jetzt sollte er den Bürokram machen, bloß, weil sein Herz einen Knacks kriegte? Wie gesagt, mit dem Hans an der Seite ließ es sich immer wieder aushalten. Das war nämlich sein Parteisekretär. Und der sagte immer: „Wenn’s ganz schlimm wird, pfeif die Internationale.“ Und wahrlich, das half über manchen Kummer in der Gemeinde. Bloß, wenn Herbert darüber im Kreis sprach, nahm ihm das keiner ab. Er hatte es sich also abgewöhnt, darüber zu berichten, denn allemal, wenn es zu langweilig in einer Sitzung wurde, sagten einige: „Herbert, erzähl mal ’n Ding aus dem Hundertjährigen Krieg, ist so langweilig heute.“

Trulle sah Herbert mit hängenden Ohren in sein Zimmer gehen. Da nahm sie das Schild, auf dem steht „Sitzung, nicht stören“, hängte es an die Tür und folgte dem Bürgermeister ins Zimmer. Ihre Handtasche nahm sie mit.

Wenn einer mal eine ältere Dame sieht, so in den Fünfzigern, schlohweißes Haar, mit halblangen Perlonstrümpfen, salemrauchend, sehr gemütliche alte Dame und immer mit ihrer schwarzen Handtasche - das ist Trulle. Der kann man sich anvertrauen. Die weiß immer Rat.

Herbert wusste, dass Trulle kommen würde. Sie nahm im Sessel Platz und hängte ihre Lacktasche über die Armlehne. Der Bürgermeister, vom Besucherstuhl aus, berichtete: „Das hat der Hubert gemacht. Was hat er gemacht? Die Nelli sollte einen Kerl kriegen, einen Dichter. Der Hubert lässt ihn abfangen und haut ihn bei sich in die Pfanne. Er soll ihr jetzt den Arbeitsausfall ersetzen.“

Trulle verstand, was kein anderer aus dem Gerede des Bürgermeisters verstehen könnte. Und auf Herbert wirkte Trulles Ruhe besänftigend wie Mutters Beistand. Er bot ihr eine von seinen Juwel an; denn er hat Bürgermeistergehalt. Aber die Trulle rauchte Salem.

„Alles halb so schlimm“, sagte Trulle. „Du hast allerdings trockne Luft in deinem Zimmer.“ Und nun verstand Herbert. Er kochte seiner Sekretärin einen Kaffee. Inzwischen erzählte Trulle eine Geschichte. Sie erzählte die Geschichte vom Film „Panzerkreuzer Potemkin“, und sie sagte „Patjomkin“.

Dieser Film war doch so ein Erfolg. Die Arbeiter hat er begeistert. Und die Geldsäcke schrieben in ihren Zeitungen, als seien sie gar nicht gegen die von der Potemkin. Und es gab unter denen sogar welche, die was draus gelernt hatten. Trulle weiß das. Trulle hat es gelesen, und sie hat es vielleicht selber mal erlebt.

Was die alles erlebt hat!

Herbert hörte sich’s an. Es ist gut, die Trulle zu haben.

Sie weiß sehr viel. Sie hilft ihm viel. Sie versteht ihn.

Das einzige, was ihn an Trulle stört, ist ihre Freundschaft mit Karl Rötlich, dem Pastor. Ein Pastor ist ein Gegner, davon lässt sich Herbert nicht abbringen. In den Gottesdienst kommt er leider nie mit. Trulle würde ihn dann schon auf einige Stellen aufmerksam machen. Wenn zum Beispiel Karl Rötlich predigt und sagt: „So steht es geschrieben“ - und nicht etwa: „So steht es in der Schrift“, dann hat er Lenin zitiert oder Marx oder Engels. Außerdem ist Karl in der Partei.

Aber Trulle hatte von Potemkin erzählt. Wie meinte sie das? Herbert stellte ihr den Kaffee hin und wartete auf die Deutung des Orakels.

Behaglich trank die alte Dame. Man kann natürlich nicht sagen: Mit ihrer himmelblauen Stimme - das ist Kitsch, aber Trulle hat tatsächlich eine schöne Stimme. Sagte also Trulle: „Weißt du, da ist eigentlich nichts weiter passiert. Der Schriftsteller sollte in Typ drei lesen und hat gelesen in Typ eins. Er bekommt sein Honorar. Die von Einheit sind in der fortschrittlicheren Form organisiert, ja? Wer hat also eine ideologische Beeinflussung am nötigsten? Ist es da nicht sogar besser, wenn der Dichter erst bei Hubert war? Bei Nelli kann er deswegen auch noch lesen, halt eine Woche später.“

Herbert blickte Trulle aufmerksam an. Er begriff. Überhaupt war der ganze Streit harmlos, wenn er mit ihr darüber sprach. Er lächelte nun. Trulle schlürfte genüsslich den Kaffee. Dann nahm sie ihre Lacktasche und ging in ihr Zimmer zurück. Das Sitzungsschild legte sie wieder ins Fach.

Als Herbert dann ging, leichten Schrittes, um den Fall zu regeln, sagte ihm Trulle nur noch mit einem aufmunternden Lächeln: „Denk an Potemkin, Bürgermeister.“ Aber sie hätte genauso gut sagen können: „Iss schön, mein Junge.“

10. Kapitel

„Du hast die Suppe eingebrockt, also löffle sie gefälligst wieder aus“, verlangte Herbert von Hubert. Er hatte ihn in seiner Wohnung entdeckt, wo er das hintere Zimmer als Büro benutzte. Und er hatte ihn mitgeschleppt gegen den Willen des Vorsitzenden. „Wer ist hier der Bürgermeister, verdimmich! Mitkommen, klären den Fall. Patjomkin!“, sagte er. Und Hubert kam mit, wäre ja auch gelacht. Weil er ohnehin zum Schluss wieder dabei sein wollte.

Sie traten in den Saal, als Beifall für den Dichter durch den Raum wackelte. Hinrich Karlsen sagte gerade zu seinem Freund Walter, dem Belesenen: „Sieht ’n bäten schnädderig aus, der Mensch, aber schreibt ganz ordentlich, was?“ Walter, mit seinen fahrigen Händen, was vom vielen Arbeiten und vom vielen Lesen bis in die Morgenstunden kam, Walter sagte: „Kein Tolstoi, Hinrich. Liest wahrscheinlich zu viel Zeitung. Weißt du, der Journalismus verdirbt eines Tages die deutsche Literatur gänzlich.“ Hinrich machte ein sehr verständiges Gesicht und sagte: „Tjä, die Dialektik dabei.“ Herbert dachte an Potemkin und war stark. Die Bauern strebten aus dem Saal, um der Frau oder dem Mann oder der Kuh von dem Dichter zu erzählen. Immerhin war es ein Ereignis für die Seltensower gewesen. Höchstens vom Fernsehen kannte man Dichter. Und sie gingen mit gemischten Gefühlen. Sie hatten von etwas gekostet, was sie nicht recht kannten. Wat de Buer nicht kennt, fret hei nicht. Aber sie hatten es probiert.

Herbert trat auf Kurt Rumpach zu. „Ich bin der Bürgermeister Tänzer. Guten Tag.“ Kurt gab ihm die Hand, packte dann aber weiter seine Bücher weg. Hannes stand wartend daneben.

„Tja“, sagte Herbert, „ich erfuhr leider etwas zu spät, dass Sie unserem Dorf die Ehre geben. Und dann, wissen Sie, die Nelli hat mich angerufen.“

Rumpach blickte erstaunt auf. Verflixt, sollte dieser Bürgermeister wissen, was er von Hannes Holter unterwegs erfahren hatte? Das konnte peinlich werden. Sein ganzer herrlicher Plan, den er sich bereits ausgetüftelt hatte, konnte ins Wasser fallen. Konflikte schon, aber doch nicht selber mittenmang.

„Kollege Himmisch hat einen Fehler gemacht“, sagte der Bürgermeister, „ist halb so schlimm, Herr Rumpach. Aber wir müssen zu Nelli gehen. Sie tobt, wissen Sie.“

Kurt hatte keine Lust. So etwas regelte man doch telefonisch. Er stellte sich vor, irgendeinem kraftstrotzenden Frauenzimmer zu begegnen, das ihn bassbrummig anfahren würde. So nahm er seinen Koffer auf und sagte: „Moment bitte.“ Denn er wollte Zeit gewinnen. Hannes aber nahm ihm die Tasche ab und erklärte: „Ich habe ja noch die Wagenschlüssel.“ Und schleppte die Bücher auch schon fort.

Kurt fand eine neue Idee, den Bürgermeister abzuwimmeln. „Ich muss noch“, sagte er, „mit Herrn Himmisch das Honorar klären. Wir wollten das im Büro erledigen.“

,Honorar?‘, dachte Hubert. ,Das ist Geld. Der Teufel hat einen Pferdefuß.‘ Hubert war sehr erfinderisch geworden in den vielen Streitfällen. „Wie ist eigentlich die Rechtslage, Herbert“, fragte er den Bürgermeister. „Die haben ihn eingeladen, die müssen denn wohl auch zahlen, nicht wahr? Wenn du eine Runde bestellst bei Otto und ich trinke mit, verlangt der Wirt die Taler doch von dir. Ist es so?“

„Literatur ist kein Schnaps“, belehrte ihn Kurt Rumpach entschieden. Und Herbert pflichtete ihm bei. Hubert ergab sich, war er doch sonst mit heiler Haut aus dem Dichterraub gekommen. „Was kostet der Spaß, Herr Rumpach?“

„Ja, wir hatten fünfundsiebzig Mark vereinbart mit der anderen Genossenschaft.“ Hubert griff sogleich in die Hosentasche und holte mit saurer Miene seine Geldbörse hervor. Acht Zehnmarkscheine zählte er dem Dichter in die Hand und sagte: „Stimmt so, der Rest ist für Sie.“

Rumpach gaffte. Aber da hatte er schon wieder seine Gedanken bei dem Plan und steckte das Geld flugs in seine Tasche. Dem Bürgermeister schien nichts aufgefallen zu sein. Er sagte nur: „Na, da brauchen Sie gar nicht erst zu Hubert. Kommen Sie, Nelli wartet.“

Hubert reichte dem Dichter die Hand. „Alles Gute noch und vielen Dank“, sagte er. Dann ging er. Hubert hatte das gleiche Gefühl wie damals, als er dem alten Köckner einen Weihnachtsbaum aus dessen Bestand geschnitten hatte, um ihn zu ärgern, und dann, von Bogenbahn erwischt, hatte Strafe zahlen müssen. Achtzig Mark, dachte er und ging.

Herbert trat mit dem Dichter auf die Dorfstraße. Hannes stand am Wagen und wischte Staub von den Scheiben. Kurt Rumpach wappnete sich für den Zornesausbruch der sicherlich zungenfertigen Vorsitzenden.

11. Kapitel

Bogenbahn, der Abevau, besah zufrieden das Werk dieses Nachmittages. Er hatte ein ordentliches Stück Arbeit geschafft. Morgen noch, und die Beete waren fertig. Er reckte sich, schob die Dienstmütze in den Nacken und blickte hinüber zur Kirche, hinter welcher die Sonne versank. Der Himmel hatte sich blassrosa verfärbt, sodass es aussah, als stünde ein großer Karl Rötlich hinter der Kirche und sein spärlich bewachsenes Haupt verdecke den eigentlichen Abendhimmel. Seltensow war ein sehr ruhiges Dorf. Hier gab es zum Erstaunen der Vorgesetzten keine Schlägereien, keine Diebstähle und keine Verkehrsunfälle, auch Otto hielt die Polizeistunde ein. Früher war das allerdings noch ganz anders gewesen.

Herbert Tänzer kam ja oft, um sich Rat zu holen. „Wie machst du das bloß? Wirst jeden Monat ausgezeichnet, weil du Ruhe und Ordnung sicherst in der Gemeinde. Und es gibt auch nichts Polizeiliches wie früher, obwohl sich Links und Rechts streiten wie Hund und Katz.“

Bogenbahn hatte sein Rezept. Als er versetzt wurde in dieses Dorf, hatten ihm die anderen Genossen ihr Mitgefühl ausgesprochen. Und die ersten Monate wurden ihm trotz seines Humors recht sauer. Manchmal musste er drei besondere Vorkommnisse pro Nacht melden.

Er hatte dann eine Liste gemalt. Über der linken Spalte stand LPG Eintracht, über der rechten LPG Einheit. Darunter hatte er fein säuberlich aufgeführt, wie viel in welcher Genossenschaft pro Woche passiert war. Den Zettel hängte er am Busplatz aus. Nach drei Monaten konnte er ihn abnehmen, mangels Eintragungserfordernissen, wie er bekannt gab. In der Zeitung las er kurz darauf: Sozialistischer Wettbewerb beseitigt Unfälle. In Seltensow passieren seit längerer Zeit keine Unfälle mehr. Die Mitglieder beider Genossenschaften des Dorfes verpflichteten sich zu Ehren des sozialistischen Erntefestes für Unfallfreiheit zu kämpfen. Große Erfolge usw.

Bogenbahn freute sich seines Erfolges. Die Zeitungsleute freuten sich ihres Berichtes. Die Bauern des Dorfes freuten sich ihres Ruhmes. Na ja, ganz wie in der Zeitung war’s nicht gewesen. Die von Einheit wollten bloß, dass die Einträchtigen alleine auf Bogenbahns schwarzer Liste stehen, und die Einträchtigen wollten’s von den Einheitlichen. So kam es zu dem Erfolg. Bogenbahn lebte nunmehr das fünfte Jahr in Frieden und hätte Speck ansetzen müssen, wenn nicht der Garten und seine junge Frau gewesen wären.

Eben wollte er den Spaten säubern, als er sah, wie der Bürgermeister mit einem Fremden die Dorfstraße heraufkam. Er trat an den niedrigen Zaun und grüßte: „’nen Abend, Bürgermeister.“ Dem Fremden nickte er freundlich zu. War sicherlich einer von der Zeitung oder irgendeiner Kommission. Davon kamen ja viele ins Dorf.

Erstaunt blickte er aber, als ihn Herbert als „unseren Herrn Schriftsteller Rumpach“ vorstellte. Größe groß, Augenfarbe blau, besondere Kennzeichen keine. Das ist ein Dichter? Freundlich streckte er dem Mann die Hand entgegen. „Sehr angenehm, Leutnant Herberger“, sagte Bogenbahn; denn er hieß Herberger. Den Namen Bogenbahn hatte ihm Bruno Martens, sein erster Kompaniechef, besorgt für schlechte Schießergebnisse.

„Ich habe von Ihnen gelesen“, erinnerte sich Rumpach. „Na, wir werden uns ja in nächster Zeit öfters sehen.“