Impressum

Kurt Redmer

Die letzten und die ersten Tage

Dokumentation über Geschehnisse in Mecklenburg im 2. Weltkrieg und danach

ISBN 978-3-95655-508-4 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 2007 im Verlag Nordwindpress.

Gestaltung des Titelbildes: Manfred Kubowsky.

 

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Zum Geleit

Es war und bleibt unser vorrangiges Ziel, nie wieder Faschismus zuzulassen und offen gegen jeglichen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit vorzugehen.

Angesichts der Aktivitäten neonazistischer Kräfte, auch in unserem Bundesland, ist unser verstärktes Engagement für Frieden, Demokratie, Toleranz und Humanität erforderlich. Unverzichtbar bleibt für uns dabei auch, allen, insbesondere jedoch der Jugend zu zeigen, was der Hitlerfaschismus im vergangenen Jahrhundert für die Deutschen und besonders auch die vom Hitler-Staat überfallenen Völker an Leiden und Tod bedeutete.

Abstrakte Summierungen zur faschistischen Vergangenheit sind sicherlich nötig, bedürfen darüber hinausgehend aber dringend der Darstellung des Konkreten und Einzelnen, um die ganze Menschenfeindlichkeit nicht nur rational, sondern auch emotional zu erfassen.

In diesem Sinne ist das vorliegende Buch für uns wertvoll und ihm sind viele Leser zu wünschen.

Verband der Verfolgten des Naziregimes/

Bund der Antifaschisten M/V. e. V.

Landesvorstand

Schwerin, April 2007

 

Gertrud Howe Landesvorsitzende

Vorwort

Es sind ungefähr 600 Quadratkilometer Deutschland, über die ich als Historiker in den letzten 20 Jahren kreuz und quer gegangen, gefahren, geradelt bin, um zu forschen, wie der furchtbarste aller Kriege, der Zweite Weltkrieg, hier vor den Toren Schwerins zu Ende gegangen war. Man möchte meinen, das sei eine lange Zeit für ein so kleines Territorium. Stimmt! Aber Menschen und Landschaften geben nicht auf einmal alles her, was damals war. Die Erinnerung ist bekanntlich sehr wählerisch. Und so ist es zum Beispiel passiert, dass ich einige Beiträge, die schon publiziert waren, mit Korrekturen versehen in diesem Buch neu veröffentliche. Eigentlich sind es Nebensächlichkeiten, aber für den Historiker stets zu beachten.

In all diesen Jahren hat das niemals die Tatsachen des Kriegsendes auf diesen 600 Quadratkilometern revidiert. Zwischen Crivitz und Schwerin, zwischen Holzendorf-Müsselmow und Neustadt-Glewe und dem Land, den Dörfern mit den Menschen darin - nicht zu vergessen die Straßen, die den Todesmarsch vom KZ Sachsenhausen zu tragen hatten, gab es teilweise bis zum Schluss, dem 3. Mai 1945, noch völlig aussichtslosen Widerstand der Wehrmacht und der SS gegenüber der Sowjetarmee. Es wurde alles unternommen, um ihre Flucht bis zu den amerikanischen und britischen Streitkräften zu sichern, um dann mit ihnen gemeinsam gegen die Russen zu kämpfen.

Tatsachen lassen sich nicht verändern. Noch Mitte der achtziger Jahre hatte der damalige Bundespräsident von Weizsäcker zur leidigen Diskussion, ob der Zweite Weltkrieg für Deutschland eine Niederlage oder eine Befreiung gewesen sei, sich für „Befreiung“ entschieden. Das galt dann auch fast widerspruchslos viele Jahre. Etwa seit dem Anschluss der DDR an die BRD wird daran genagt. Damals sei es nur ein Kampf zweier Diktaturen gewesen.

Auf dieser Plattform macht sich nun eine Schar „moderner“ Historiker, Regisseure, Zeitungsmacher, Fernsehstationen daran, die Leiden des deutschen Volkes in den Mittelpunkt zu rücken, wie es nicht zuletzt die zweiteilige Fernsehserie der ARD „Die Flucht“ belegt. Heute ist für solche Macher nur wichtig, dass die heutige Generation von Schuld und Sühne befreit wird und sich für die Verteidigung westlicher Werte überall in der Welt nicht zuletzt mit kriegerischen Mitteln einsetzt.

Es bleibt dabei: Es gibt keinen Schlussstrich unter die Geschichte des deutschen Hitlerfaschismus. Er ist und bleibt wegen seines Chauvinismus, Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus sowie dem von ihm angezettelten Zweiten Weltkrieg mit über 50 Millionen Toten und gewaltigen materiellen Zerstörungen, vor allem in der Sowjetunion, ein Verbrechen.

Die Sowjetarmee kämpfte sich von Moskau aus durch ihr völlig zerstörtes Heimatland und musste bis zur Vereinigung mit den amerikanischen Verbündeten quasi bis zum letzten Quadratmeter vor Schwerin noch verlustreiche Gefechte bestehen, während der Widerstand gegen die amerikanischen Streitkräfte längst eingestellt war.

Der Hauptbeitrag des vorliegenden Buches gibt uns Aufschluss über die politischen Gründe und den Verlauf der Patientenmorde in der damaligen Heil- und Pflegeanstalt auf dem Sachsenberg in Schwerin von 1941-1945. Die Mehrzahl der weiteren Beiträge sind Tagebücher, Auszüge aus Lebensberichten und Zeitzeugenberichte, die uns mit dem Denken, Handeln, Leiden und Hoffen der Menschen aus den verschiedensten Schichten des Volkes am Ende des Krieges und danach bekannt machen.

Im Zusammenhang mit dem Zeitzeugenbericht von Erich Kohlmetz und Gerhard Kollruß über das Kriegsende in Blievenstorf, dem Zeitzeugenbericht von Lotte Thoms (verh. Vidal) und den Mordaktionen vom 6. Mai 1945 in Holzendorf-Müsselmow ergibt sich die prinzipielle Frage nach dem Verhalten der Soldaten der Roten Armee gegenüber der Zivilbevölkerung.

Es bleibt festzustellen: In den Tagen nach der Beendigung der Kriegshandlungen auf dem Boden Mecklenburg-Vorpommerns hat es viele Vergewaltigungen, Plünderungen und auch andere Übergriffe gegeben. In Einzelfällen wurden Zivilisten, die sich ihnen widersetzten, erschossen oder erschlagen. Nicht deshalb, sondern primär wegen der Gräuelpropaganda der Nazis, gingen Tausende Mecklenburger und Vorpommern in den Freitod. Die Mordaktion in drei Familien von Holzendorf-Müsselmow steht dafür als außergewöhnlich brutales Beispiel.

Die sowjetischen Soldaten vergalten nicht gleiches mit gleichem. Es gab auf dem Boden unseres heutigen Bundeslandes keine Massenerschießungen und keine „verbrannte Erde“, wie sie die faschistische deutsche Wehrmacht bei ihren Kriegszügen praktiziert hatte. (Bernhard Fisch: Nemmersdorf, Oktober 1944. edition ost, Berlin 1997, S.9 f.)

Wie schon in einer vorangegangenen Broschüre erwähnt, unternahmen die Briten in den letzten Kriegstagen mit ihren Jagdbombern immer noch unerklärliche Angriffe auf vor den Sowjets fliehende deutsche Militäreinheiten, bei denen auch Zivilisten getroffen wurden. Dabei wollten die Deutschen in dieser Kriegsphase nicht mehr gegen sie kämpfen. Und schließlich wollten sie sie perspektivisch als Verbündete in einem möglichen Krieg gegen die Sowjetunion gewinnen. (Ralf Giordano: Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte. Rasch und Röhrig Verlag, Hamburg 1989, S.339)

Den Beitrag zum Versöhnungstreffen von deutschen und britischen Marineangehörigen in Plau nahm ich auf, weil die auf diesem Treffen verkündeten Inhalte neben Richtigem auch Falsches beinhalten. Das dort erklärte Falsche gerät zur Geschichtsklitterung, die wir aus politischen Gründen nicht dulden können.

Es bleibt dabei: Der Zweite Weltkrieg ging von deutschem Boden aus. Hitlerdeutschland trug damit die Primärverantwortung für jeden Kriegstoten, jeden Kriegsversehrten und die sinnlose Zerstörung von kaum vorstellbaren materiellen Werten. (Ralf Giordano: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Knaur, Vollständige Taschenbuchausgabe, April 1990, S.161)

Die Herausgabe dieses Buches wäre ohne Hinweise auf mögliche Zeitzeugen, die mir dann aus ihrem Leben berichteten und in der Broschüre zu Wort kommen, nicht möglich gewesen. Allen, die zur Herausgabe dieses Buches beitrugen, sei hiermit recht herzlich gedankt.

Dr. Kurt Redmer

Schwerin, April 2007

Kapitel 1: Geschehen in Schwerin

1. Mord aus Idealismus?

von Kurt Redmer

 

Vorbemerkung

„Wenn das so weiter geht, lande ich noch auf dem Sachsenberg“, hörte ich schon in meiner Jugendzeit nach dem Zweiten Weltkrieg geistig überforderte bzw. gestresste ältere Mitbürger sagen. Dadurch wusste ich wie wohl die Mehrheit der Mecklenburger: Auf dem Sachsenberg in Schwerin werden Nervenkranke behandelt, versorgt und geheilt.

In der Zeit des Faschismus wurde die Anstalt wie andere Nervenheilanstalten auch, zur Tötung unwerten Lebens missbraucht. Mir war nicht in Erinnerung, dass es in Schwerin schon 1946 einen aufsehenerregenden Prozess gegeben hatte, in dem sich Ärzte und Krankenpfleger für ihre Untaten verantworten mussten. Der Hauptbeschuldigte, der stellvertretende Leiter der Anstalt Dr. Leu, war im Westen untergetaucht. Erst 1949 kam es dort zu einem Prozess.

Beim Studium von Prozessakten war ich dann überrascht, mit welcher Grausamkeit und Skrupellosigkeit in der NS-Zeit bei der Auslöschung sogenannten unwerten Lebens vorgegangen worden war. Damals wurde ausführlich in der „Landeszeitung“ Schwerin über den Prozess berichtetet. Am Ende gab es vier Todesurteile, die später in lange Haft umgewandelt wurden.

Für die Menschen heute - so mein Gedanke - ist das Geschichte, die in Vergessenheit geraten ist. Aber sie sollen wissen, was einmal bei uns geschah, weil es dergleichen für immer zu verhindern gilt. Und auch deshalb, da seit einiger Zeit in Deutschland eine Umbewertung der Geschichte betrieben wird, die „die Deutschen“ als die Opfer in den Vordergrund rückt und die vom Faschismus begangenen großen Verbrechen relativiert.

Archivalien des Mecklenburgischen Landeshauptarchivs (MLHA) Schwerin belegen, dass sich die damalige Landesforschungsstelle beim Landessekretariat der Verfolgten des Naziregimes (VdN) Mecklenburg bereits 1950 mit der Aufarbeitung der Tötungs-Verbrechen in den psychiatrischen Anstalten im Lande beschäftigen wollte. Die Hauptabteilung Gesundheitswesen im Ministerium für Sozialwesen teilte aber mit: Die Unterlagen seien dem Oberstaatsanwalt in Dessau, Staatsanwaltschaft Bernburg, am 23. 7. 1946 unter dem Aktenzeichen VI / 6602/94 übersandt worden. (Mecklenburgisches Landeshauptarchiv (MLHA) Schwerin, Akte Ministerium für Sozialwesen, Nr. 3188) Sie sind wahrscheinlich bis heute nicht nach Schwerin zurückgeschickt worden. Aber die über das Protokoll des Prozesses hinausgehenden Unterlagen machen eine umfassende Beschreibung der damaligen Ereignisse durchaus noch möglich.

Der Autor dieses Beitrages ist sich bewusst: Der Streit um Euthanasie (Sterbehilfe), der Streit zwischen den Befürwortern einer aktiven Sterbehilfe und ihren entschiedenen Gegnern, wird wohl kaum jemals beigelegt werden können. Im Jahre 1992 haben sich 200 Medizin-Professoren, Sozialwissenschaftler, Juristen, Theologen und Politiker im „Kinsauer Manifest“ (Sophien-Stiftung, Kinsau) gegen die Legalisierung einer aktiven Sterbehilfe ausgesprochen. Es heißt darin: „Ist die Tötung auf Verlangen erst einmal legalisiert und gesellschaftlich akzeptiert, dann hat auch der, der nicht freiwillig aus dem Leben geht, die Last selbst zu verantworten, die sein Leben für andere bedeutet.“ (Schweriner Volkszeitung (SVZ) von 18.07.1992, S. 5)

Die Leitung der heutigen Nervenklinik Schwerin, insbesondere ihr leitender Chefarzt Herr Dr. Fuchs, half mit Ratschlägen und Hinweisen bei der Erarbeitung dieses Beitrages. Das MLHA Schwerin stellte alle verfügbaren Archivalien zur Verfügung. Die Töchter des Rechtsanwaltes Scharenberg, einem der Verteidiger im Prozess, erteilten die Genehmigung zur Einsicht in den Nachlass ihres Vaters, der sich im Landeshauptarchiv Schwerin befindet. Ihnen allen sei an dieser Stelle für ihre Hilfe gedankt.

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Faschistische Propaganda (Aus einem Biologiebuch für Gymnasien von 1940)

Der Oberstaatsanwalt klagt an

Vor den Schranken des Schwurgerichtes Schwerin, das von Oberlandespräsident Dr. Unikower geleitet wurde, standen am 15. und 16. August 1946 in einem öffentlichen, gut besuchten Prozess - durchgeführt im damaligen Saal der Landeszeitung, Wismarsche Str. 144 - Ärzte, Krankenpfleger und eine Krankenpflegerin. (Landes-Zeitung (LZ) vom 16. 08. 1946. Verbrechen gegenüber der Menschlichkeit) Sie wurden von Oberstaatsanwalt Enskat angeklagt, von 1941 bis 1945 laufend und systematisch Insassen der Heil- und Pflegeanstalt auf dem Sachsenberg ermordet zu haben. Die beiden Hauptschuldigen fehlten.

Der Direktor, Obermedizinalrat Dr. Johannes Fischer, hatte vor der Besetzung Schwerins durch amerikanische Truppen am 2. Mai 1945 zusammen mit seiner Familie Selbstmord verübt. Der Hauptschuldige, Medizinalrat Dr. Alfred Leu, war in westliche Richtung geflohen.

Theorien zum „unwerten Leben“

Bereits im 19. Jahrhundert hatte es in Deutschland „Denkmodelle“ und „Theorien“ gegeben, wie mit unwertem Leben umgegangen werden könne. Nicht wenige Autoren hatten in diesem Zusammenhang Darwins Lehre vom „Kampf ums Dasein“ und von der ,„Auslese der Tauglichen“ im Tierreich mechanisch auf die menschliche Gesellschaft übertragen und damit das Sozialverhalten der Menschen in eine biologische Weitsicht gezwängt. Schon vor, aber dann verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg erhob man - immer unüberhörbarer - die Forderung, „Ballastexistenzen“ aus der Gesellschaft zu eliminieren. Der Freiburger Ordinarius für Neuropathologie Hoche beklagte das ungeheure Kapital in Form von Nahrungsmitteln, Kleidung und Heizung, das durch die Pflege psychisch Kranker dem Nationalvermögen für einen unproduktiven Zweck entzogen wird. (Przybylski, Peter: Täter neben Hitler, Brandenburgisches Verlagshaus Berlin, 1990, S. 141) Die „Humanität“ der Natur soll die Schwächeren vernichten.

Die deutschen Hitlerfaschisten waren also durchaus nicht die geistigen Väter der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“: Wie auch anderes Inhumane und Vulgäre nahmen sie auch diese schon vorhandene Doktrin in ihr Programm auf, spitzten sie zu und setzten sie, was bisher niemand gewagt hatte, brutal in die Tat um.

An eben schon Vorhandenes anknüpfend, schrieb Hitler in seinem Buch Mein Kampf: „Ein stärkeres Geschlecht wird die Schwachen verjagen, da der Drang zum Leben in seiner letzten Form alle lächerlichen Fesseln einer sogenannten Humanität des Einzelnen immer wieder zerbrechen wird, um an deren Stelle die Humanität der Natur treten zu lassen, die die Schwächeren vernichtet. Schon auf dem Reichsparteitag der NSDAP 1934 hatte der Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner den Anwesenden deutlich gemacht und beklagt, dass jährlich 1,2 Mrd. Reichsmark für die Patienten der Heil- und Pflegeanstalten aufgewendet werden müssten. (Przybylski, Peter: Täter neben Hitler, Brandenburgisches Verlagshaus Berlin, 1990, S. 143) Und nur ein Jahr später hatte sich Hitler erstmals gegenüber dem Reichsärzteführer konkret zur Vernichtung „Lebensunwerter“ geäußert. Aber zu Friedenszeiten fürchtete er die Proteste der Öffentlichkeit, ganz besonders aus dem Ausland. Im Kriege sollten nach der Vernichtung der „unnützen Esser“ aus den Anstalten Lazarette werden. Ärzte und Pfleger wurden für die Versorgung der zu erwartenden Verwundeten des lange geplanten Revanche- und Eroberungskrieges verplant.

Pflege und Fürsorge wird geheuchelt

Im Jahre 1938 hatte Reichsinnenminister Frick in vertraulichen Erlassen die Kranken- und Sozialversicherungskassen angewiesen, alle voraussichtlich dauernd erwerbsunfähigen Versicherten in staatliche Heil- und

Pflegeanstalten zu überweisen. Die Bürger sollten veranlasst werden, die von ihnen versorgten Invaliden und geistesschwachen Angehörigen zur Pflege in diese Anstalten zu geben. Der Staat versprach, dort alles nur Erdenkliche für das Wohl dieser Menschen zu tun. Die Familienangehörigen ahnten wohl kaum, dass sie damit ihre hilfsbedürftigen und völlig wehrlosen Anverwandten ihren Mördern auslieferten. (LZ 10. 08. 1946, S. 1)

Die Vergasung wird vorbereitet

Im Jahre 1938 begann die „Reichskanzlei des Führers“ die Massenvernichtung von Geisteskranken vorzubereiten.

Es entstand eine Zentrale, die - welch ein Zynismus - den Namen „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ erhielt und in Berlin W 35, Tiergartenstraße 4 ihren Sitz erhielt. Abgeleitet von dieser Adresse, wurde von der „Aktion T 4“ oder auch der „Aktion Gnadentod“ gesprochen. (LZ 13.08.1946. Das Volk verlangt Gerechtigkeit) Um die zu erwartende hohe Anzahl von Menschen schnell liquidieren zu können, entschloss sich die Reichskanzlei nach einigen Diskussionen für eine Vergasung mit Kohlenmonoxid in dafür ausgewählten Heil- und Pflegeanstalten. Kurzfristig wurden alle dafür erforderlichen baulichen und technischen Anlagen, wie als Duschräume getarnte Vergasungsräume und Verbrennungsöfen zur Beseitigung der Leichen geschaffen.

Hitler befahl „T4“ dann im Oktober 1939. Der Befehl wurde auf den Kriegsbeginn, den 1. September 1939, zurückdatiert. Er lautete: „Reichsleiter (der NSDAP) Bouhler und Dr. med. Brandt (Hitlers Leibarzt, K.R.) sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“ (Kaul, Friedrich-Karl: Ärzte in Auschwitz, Verlag Volk und Gesundheit, Berlin 1968, S. 28) Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, dass in Deutschland seit 1938 missgestalteten Kindern der Gnadentod gewährt werden konnte. In diesem Jahr hatte sich eine Familie mit der Bitte an Hitler gewandt, ihr missgestaltes Kind, das sich in der Klinik von Prof. Catel in Leipzig befand, töten zu lassen. Hitler entsprach dem Antrag und erteilte Vollmacht, von nun an auch künftig in gleicher Weise zu verfahren. Bei eventuellen gerichtlichen Untersuchungen wurde deren Niederschlagung zugesichert.

Anfang Januar wurde im Zuchthaus Brandenburg die Tötung Geisteskranker durch Kohlenmonoxid erprobt. Das Gas lieferte der IG-Farben-Konzern, Vorläufer der Badischen Anilin- und Sodafabriken (BASF). Die erforderlichen Stahlflaschen kamen - wie die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/Main später ermittelte - für alle Vergasungsstätten aus den Mannesmann-Röhrenwerken. Die Gaskammern entstanden bei den Pflegeanstalten Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Sonnenstein, Bernburg/Saale und Hadamar. Für den „Sachsenberg“ in Schwerin wurde Bernburg zuständig.

Mit SS-Personal auf Transport

Von der Heil- und Pflegeanstalt Schwerin-Sachsenberg gingen am 18.7.1941 140 und am 1.8.1941 135 Kranke auf Transport nach Bernburg/Saale. Den gehfähigen Kranken klebte man einen Pflasterstreifen mit Namen und Geburtsdatum auf den Rücken. In Autobussen wurden sie zum Güterbahnhof gebracht und dort in Personenwagen verladen. Durchgeführt wurde diese „Verlegung“ von der „Gemeinnützigen Transport GmbH Berlin“. (MLHA Schwerin. Ministerium für Sozialwesen, a. a. O., Zwei Transporte vom Sachsenberg nach Bernburg) Schon damals merkten die Schweriner Pfleger, dass mit dem für die Begleitung vorgesehenen Personal etwas nicht stimmte. Es waren ausschließlich Männer, bei denen unter den weißen Kitteln schwarze Stiefel und Stiefelhosen sichtbar waren. Sie vermuteten, was sich später bestätigte: Diese Männer waren Angehörige der SS. (Graf, Irma: Die Entwicklung der Psychiatrie in Mecklenburg-Schwerin von den Anfängen bis zur Gegenwart ..., med. Dissertation 1980, in: MLHA Schwerin, S. 74) In Bernburg nahm die Tragödie dann ihren Lauf. Etwa zwei Wochen nach der Ankunft der Todeskandidaten lebte von ihnen niemand mehr.

Der Akt der Vergasung

Der Mord geschah mit größter Wahrscheinlichkeit in folgender Weise:

Unter dem Vorwand, gebadet zu werden, wurden 40 bis 50 der Opfer geschlossen in den als Duschraum getarnten Vergasungsraum geführt. ln dem Vertrauen, wirklich gebadet zu werden, ließ sich die Mehrzahl der Kranken ohne Widerstand in diesen Raum bringen. Gegen Widerspenstige, die vielleicht ihr Schicksal vorausahnten, wurde Gewalt angewendet. Nachdem die Türen verschlossen waren, wurde etwa 10 bis 20 Minuten lang Kohlenmonoxidgas in den Raum geblasen. Den Gashahn bediente grundsätzlich ein Arzt, da die Tötungsermächtigung Hitlers vom 01.09.1939 ausschließlich Ärzten erteilt worden war. (Kaul Friedrich-Karl: Ärzte in Auschwitz, Verlag Volk und Gesundheit, Berlin 1968, S. 30 f.) Unter den Patienten aus Schwerin, die der SS zur Vergasung übergeben wurden, befanden sich auch verwundete Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Selbst sie fanden keine Gnade.

Den Tod beurkundete der Standesbeamte Klein vom Standesamt Bemburg II. Die Todesursache wurde frei erfunden. Besonders oft waren Furunkulose, Blinddarmentzündung, akute Bronchitis und Kreislaufschwäche angegeben. (MLHA Schwerin. Akte: Generalstaatsanwalt des Landes Mecklenburg, Nr. 685)

(Statistik der Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg, in: LHA Schwerin)