Impressum

Carlos Rasch

Im Schatten der Tiefsee

Zukunftsroman

ISBN: 978-3-95655-516-9 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1965 im Verlag Das Neue Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Der Bodden am Strelasund

1. Kapitel

Die Tage zogen vorüber, voller Entdeckungen und dennoch ruhig. Hier war alles neu für Anja, noch unbekannt, und erst allmählich ergriff sie davon Besitz. Sie ließ sich Zeit, ging umher, zur Seebrücke, zum Strand, wanderte über die hohe Düne, die Straßen entlang, an denen Ferienheime und Sanatorien standen, und über die Wege hin zu den Wiesen hinter dem Wald.

Dabei feierte sie Wiedersehen mit Bildern aus der Kindheit, mit dem Auf und Ab der Wellen, mit dem schrillen Ruf der Möwen, die über Wasser und Strand strichen, mit dem fernen, brummenden Tuuut der großen Schiffe am Horizont - und mit dem bunten, lärmenden Strom der Menschen, die zufrieden und unbeschwert in ihrem Ferienglück über die Promenade am Strand und über die Parkwege fluteten.

Es waren für Anja die ersten freien Tage nach einer langen Zeit des Lernens und der Ausbildung. Endlich begann das Leben.

Jetzt stand sie am breiten Fenster ihres Zimmers, neun Stockwerke hoch über Meer und Land. Folgte sie mit den Augen dem weit geschwungenen Bogen der Strandlinie, dann sah sie mehrere solcher hohen Häuser aus dem breiten Saum des Küstenwaldes herausragen, einzeln und auch in Gruppen zu zweit oder zu dritt. Sie verrieten die Kurorte, die in letzter Zeit hier am großen Ostbodden gebaut worden waren und die den alten Seebädern die schlichte Modernität alles Neuen voraushatten.

Hohendünen war einer dieser neuen Badeorte an der Boddenküste.

Das Mädchen stand lange und schaute.

Von der See zogen Nebelschwaden, ungewöhnlich für diese frühsommerliche Zeit, auf das Land zu. Bald hatten sie Strand und Wald eingehüllt. Nur das Hochhaus ragte einem Eiland gleich aus dem grauweißen Brodem.

Aber auch die große Wanderdüne, der dieser Ort seinen Namen verdankte, und die am Tage weit von See aus zu sehen war, krümmte ihren Rücken grätig verweht aus der Nebeldecke.

Die Klimaanlage blies mit kaum hörbarem Summen frische, duftende Luft in den Raum. Anja öffnete das Fenster und beugte sich weit hinaus. Ein nasskalter Hauch streifte ihr Gesicht.

Vergebens hatte Anja in diesen Tagen und besonders heute auf das Forschungsschiff des Algeninstituts gewartet, das hier zu Untersuchungen vor der Küste ankern und sie an Bord nehmen sollte. Sie versuchte, den Nebel mit den Blicken zu durchdringen. Vielleicht war das Schiff mit den grauen Schwaden gekommen und lag schon draußen auf der Reede. Querab schob sich das Brückendeck eines Küstenfrachters durch die Nebelbänke, und irgendwo huschte unsichtbar ein schnelles Fährboot mit scharfem Rauschen dahin, aber das Forschungsschiff war nirgends zu entdecken.

Wie mochte es aussehen?

Früher, als sie noch ein Kind war, hatte sie der Vater öfter zum Hafen mitgenommen, und sie hatte zuweilen ein Forschungsschiff am Kai vertäut liegen sehen. Es war kleiner als die Frachter gewesen, aber sauberer und weißer. Kaum einen Matrosen hatte man auf ihm gesehen, dafür aber Leute in Straßenkleidung.

Vom Wasser her drang in regelmäßigen Abständen ein lang gezogenes dumpfes Muuuuh herauf. Die Seekuh muhte. Schaurig klang dieser Warnruf der Heulboje. Fröstelnd zog Anja die Schultern hoch und schloss das Fenster.

Sie war zwölf Jahre alt gewesen, als ihr Vater sie einmal auf dem Fischkutter mit hinausgenommen hatte. Es war ein ruhiger Sommertag mit blauem Himmel. Die See wurde von einer leichten Dünung bewegt.

Anja war froh. Nun brauchte sie nicht mehr nur sehnsüchtig über das krause Wellenfeld der See zu schauen und zu rätseln, ob fern im Dunst des Horizontes, wo Himmel und Wasser zusammenstießen, Land schwamm oder nur eine schmale Wolkenbank stand.

Das Kielwasser mit den schaumig-blasigen Rändern zog sich wie eine breite, glatte Straße weit hinter dem Kutter her. Sie hörte die Fahne im Wind knattern, sah zänkisch kreischende Möwenscharen über der Stelle des Wassers, wo Fische schwammen, und zählte den ruhigen Pulsschlag des Wasserstrahls, den die Lenzpumpe seitwärts aus dem Speigatt in das Meer spuckte. Anja sog tief die würzige Luft ein. Sie stand, als träume sie und lausche dem Meer.

Da kam der Vater aus dem Maschinenraum.

„Was machst du heute man bloß für ein seltsames Gesicht.“ Er sah sie lange von der Seite an, erstaunt und zugleich belustigt. „Ick möcht fast glöwen, dat du woll hüt Gebortstag häst“, sagte er wie zu sich selbst, unversehens platt sprechend. „Du strahlst ja duller als de Sunn un de Mond tosamen.“

Anja schien der Tag unendlich lang zu sein.

Der Kutter glitt langsam über die ruhige, glatte See.

Im Westen brannte ein Wolkenstreifen.

Hoch über dem Schiff färbten sich dünne Schleier rosa.

Dann war es dunkel.

Anja hüllte sich in die Jacke des Vaters, hockte sich auf eine Rolle Tau nieder und schlief ein ...

Ein schaurig-dumpfes Heulen schreckte sie aus ihren Träumen. Entsetzt sprang das Mädchen auf. Das Boot strebte der Hafeneinfahrt zu. Eine Heulboje hatte es genarrt. Seitdem hatte Anja eine Abneigung gegen diese „Seekühe“.

Das war vor langer, langer Zeit ...

Die Sommer, so stellte sie fest, waren seitdem heißer, trockener und länger geworden. Die See, an der sie aufgewachsen war, fehlte ihr während ihrer Studienjahre an der Hochschule im Binnenland sehr. Nun war sie ans Meer zurückgekehrt. Die Abschlussprüfungen lagen hinter ihr. Eine Periode praktischer Arbeit stand ihr bevor, in der sie Erfahrungen sammeln und sich auf einem wissenschaftlichen Spezialgebiet einarbeiten konnte. Sie hatte sich für die Algenzucht entschieden.

Das Institut schickte sie nach Hohendünen. Hier wurde nahe am Strand eine kleine Forschungsstation gebaut. Zunächst werde sie ein paar Wochen auf der „Katma 4“, dann einige Zeit in der neuen Forschungsstation arbeiten, und später, so hatte man ihr angedeutet, könne sie, wenn ihr eine solche Aufgabe zusage, vielleicht auch einmal auf der im Entstehen begriffenen Luandafarm vor der afrikanischen Küste eingesetzt werden.

O ja, das entsprach genau ihren Wünschen. Einmal auf eine Atlantikfarm oder sogar auf eine der weltberühmten Pazifikfarmen geschickt zu werden, davon träumte sie schon seit Langem. Einige asiatische Staaten hatten in den letzten Jahren zusammen mit europäischen Wissenschaftlern Algenfarmen eingerichtet, um in der Ernährung ihrer rasch anwachsenden Bevölkerung den immer empfindlicher werdenden Mangel an eiweißhaltigen Nahrungsmitteln zu beheben. Die Landwirtschaft allein vermochte diese Aufgabe nicht mehr zu lösen.

Und nun arbeiteten auch deutsche und afrikanische Wissenschaftler an dem gemeinsamen Projekt einer Meeresfarm vor der Westküste des schwarzen Kontinents. Anja war mit dem Farmprojekt schon sehr vertraut und hatte alles Verfügbare darüber gelesen. Sie hatte sich deshalb vorgenommen, auf der „Katma 4“ und auf der Dünenstation gut zu arbeiten, um vielleicht bald nach Luanda versetzt zu werden.

Ruckartig wandte sich Anja vom Fenster ab. Sie war der Stille hier im Zimmer des Hochhauses, war des Wartens auf das Forschungsschiff plötzlich überdrüssig geworden. Rasch zog sie den Mantel über, warf die Tür ins Schloss und lief am Fahrstuhl vorbei die lange Treppenschlucht hinunter. Sie schlug den Weg zur neuen Dünenstation ein.

Hohendünen bestand nur aus diesem Hochhaus für die Urlauber, der Seebrücke, der Strandpromenade, der Algenstation und einem Stützpunkt des Küstenfischereikombinates. Etwa ein Dutzend lang gestreckter Sanatorien und Ferienheime waren weitläufig ringsum im Wald verteilt. Drei Straßen liefen sternförmig auf das Hochhaus zu.

Das Katengewimmel aneinandergereihter niedriger Häuserzeilen aus Pensionen, Gaststätten, Bars und Geschäften, wie es für die älteren Seebäder noch typisch war, und die isoliert stehenden Villen fehlten hier.

Anja lief am Strand entlang. Der Nebel lag immer noch vor der Küste. Über die Dünen lugte ein Gittermast - der Beobachtungsturm des Seenotdienstes. Dort befand sich auch die neue Forschungsstation. Drei Montagearbeiter waren noch dabei, aus Wandplatten die Labors zusammenzusetzen. Die Bootshalle, die Slipanlage und der Pontonsteg waren schon fertig. Anja stieg durch die Räume des Hauptgebäudes. Überall auf den Gängen lagen noch Kabel, Werkzeuge und Rohre herum. Die ersten Möbel waren schon aufgestellt, und einige Apparaturen waren bereits zur Hälfte montiert. Die Becken der Algenaquarien gähnten ihr noch leer entgegen. In der Bootshalle lagen zwischen großen Kisten drei Motorboote. Anja strich mit den Fingern über deren glatte, kühle und glänzende Wandungen und spähte in die Kabinen hinein. Dann trieb die Unruhe sie wieder zum Strand zurück und ließ sie nach dem Schiff Ausschau halten. Von ihrem Platz aus waren aber nicht einmal das Hochhaus und die Seebrücke zu erkennen.

Auf dem Heimweg nahm Anja sich vor, heute sehr zeitig im Hochhaus zu Mittag zu essen. Danach wollte sie auf die Seebrücke hinausgehen und so lange warten, bis der Nebel wich und das Forschungsschiff kam.

Im Speisesaal waren schon zahlreiche Gäste. Hier trank ein Spätaufsteher noch sein Glas Milch und löffelte ein Ei, und dort trug die Serviererin bereits eine Gemüseplatte auf.

„Haben Sie schon das neue, große Forschungsschiff auf dem Bodden gesehen, das mit den zwei Rümpfen?“, fragte die Serviererin im Vorbeigehen die Frau am Büfett. „Vom Dach-Café aus kann man es hinter der Nebelbank liegen sehen.“

Anja blieb wie angewurzelt stehen: Das Schiff war schon da? Am liebsten wäre sie sofort umgekehrt und auf die Seebrücke gelaufen. Aber da hörte sie Worte, die sie vor Ärger rot werden ließen.

„Ach das“, antwortete die Frau am Büfett lebhaft, „dann sind ja die Algenpüttcher wieder da!“

Betroffen sah sich Anja nach den besetzten Tischen um. Glücklicherweise schien dort niemand dieses beleidigende Wort gehört zu haben. „Algenpüttcher!“ Da klang so etwas wie Verachtung mit. Püttcher waren doch Leute, die an irgendeiner nutzlosen Sache herumwurstelten, waren eben Stümper. Und sie selbst gehörte nun auch zu diesen „Püttchern“. Dass die Algenforscher bei den Leuten hier an der Küste in einem solch schlechten Ruf standen, hatte sie nicht erwartet.

Langsam ging Anja die Reihe der Kühlvitrinen entlang. Sie war ein wenig verwirrt. Wenn ich jetzt ein Gericht aus Algen bestelle, lachen mich hier alle aus, dachte sie. Aber schließlich will ich Algenzüchterin werden. Also sei’s drum. Ich bin es meinem Beruf schuldig.

Und so verlangte sie mit lauter Stimme: „Ein Alginum komplett.“ Dabei sprach sie das Wort „Alginum“ so deutlich wie nur möglich aus.

Die Serviererin kicherte leise. Aber die Büfettfrau behielt ein gleichbleibend freundliches Gesicht.

„Bitte auch noch ein Glas Ulva-Perle“, sagte Anja. Dieses Getränk wurde aus einer Algensorte, aus der Ulva- Alge, hergestellt. Die Frau am Büfett warf ihr einen kurzen abwägenden Blick zu.

„Ulva-Perle frisch aus dem Bodden!“, rief jemand hinter Anja.

So ein Quatsch, dachte Anja und drehte sich um. Ein Mann in einer hellen, steifen Kombination eilte auf sie zu.

„Anja! Hab’ ich recht?“, fragte er. „Herzlich willkommen, Katma vier erwartet Sie!“ Er schüttelte ihr kräftig die Hand. „Ich komme Sie abholen!“

„Sieh da! Jochen!“, rief die Büfettfrau. „Lassen Sie sich auch mal wieder sehen?“ Sie eilte herbei und reichte dem Mann die Hand.

„Ehrensache, Helen, wo Sie doch weit und breit das beste Alginum anbieten“, sagte er. „Übrigens, mir auch ein Alginum und drei Glas Ulva-Cola, bitte.“ Er zwinkerte der Büfettfrau vielsagend zu und setzte sich mit Anja an einen Tisch.

Verstohlen musterte sie den jungen Mann. Die helle Kombination, die er trug, war offenbar ein Schwimmanzug. Um seinen linken Ärmel schlang sich ein schmales goldgefasstes Bändchen mit der Aufschrift „Katma 4“. Anja ließ ihren Blick die Arme aufwärts über die breiten Schultern zum Kopf des Mannes gleiten. Erschrocken begegnete sie seinen Augen.

Auch er hatte sie von der Seite betrachten wollen.

Sie lachten beide. Jochen beugte sich zu ihr herüber: „Helen Jasenow ist gar nicht so“, flüsterte er. „Sie hat das mit den ,Algenpüttchern‘ bestimmt nicht ernst gemeint. Hier sagen alle so zu uns. Wir müssen ihnen eben beweisen, dass wir nicht püttchern. Helen unterstützt uns sogar. Sie hat als erste hier an der Boddenküste Algenbrötchen und Algensalate aus Importen in ihr Büfettangebot aufgenommen ...“

Frau Jasenow kam mit dem Tablett. Sie ließ es sich nicht nehmen, selbst zu bedienen. Als sie die Ulva-Perle und auch die drei Gläser Ulva-Cola abgestellt hatte, sagte Jochen: „Ich möchte jetzt mit Ihnen auf gute Zusammenarbeit anstoßen, und ich wünsche, dass Ihnen die Arbeit auf unserem Schiff und auf der Dünenstation viel Freude machen möge.“

Auch Frau Jasenow prostete ihr zu. Anja setzte das Glas an und hörte gerade noch Jochens „Vorsicht!“ Aber da war es schon zu spät. Die vermeintliche Ulva-Cola rann ihr ätzend die Kehle hinunter. Anja verschluckte sich und hustete. Das war ja Alkohol! Sie drohte mit dem Finger.

„Marke ,Seequirl‘, flüsterte ihr Jochen zu. „Jetzt geht’s aufs Wasser, da müssen Sie was Wärmendes im Magen haben.“

„Aber, aber“, sagte Frau Jasenow laut, „das ist doch man bloß wie Limonade, die Ulva-Cola.“

Sie heuchelte Erstaunen und ging schmunzelnd zu ihrem Büfett zurück.

Anja sah sich um, horchte auf die Bestellungen und beobachtete, was die Serviererinnen auftrugen. Das Wort „Algenpüttcher“ wurmte sie noch immer. Ihr war vorhin nicht aufgefallen, wie wenig Algenspeisen gegessen wurden. Aber jetzt bemerkte sie, dass kaum Bestellungen am Büfett dafür eingingen. An den benachbarten Tischen wurden nur herkömmliche Gerichte gegessen.

Anja verzehrte ein wenig bedrückt ihre Klöße aus Algenmehl, während Jochen erzählte, dass er als angehender Meeresagronom auf der „Katma 4“ arbeite. Er sei jetzt etwa ein Jahr lang dabei und fahre mit dem Laborschiff von Bodden zu Bodden. Überall seien kleine Algenfelder mit Messbojen angelegt worden. Die Felder würden von Zeit zu Zeit untersucht, wobei die Algenforscher Angaben sammelten, die sie für ihre Experimente brauchten.

2. Kapitel

Nach dem Mittagessen gingen beide zur Seebrücke und stiegen in ein Motorboot. Jochen machte die Leinen los. Der Motor sprang an. Knarrend scheuerte sich das Boot an den Dalben, löste sich und glitt an der langen Seebrücke vorbei auf die Nebelbank zu.

Anjas Herz klopfte.

Jetzt war es so weit.

Jetzt begann das, wofür sie immer und immer wieder gelernt hatte - die Arbeit. Ein kleines Algenfeld für Versuche, ein Laboratorium, Wasser, Boote, Mikroskope, Experimentieraquarien, lange Messreihen, chemische Analysen, Arbeitsgefährten, die ebenso wie sie über Tabellen und Kurven gebeugt sitzen oder draußen auf dem Wasser mit klammen Fingern Netze, Geräte und Algenproben aus dem Wasser ziehen würden. Am Ende dieses Weges stand als Belohnung und Anerkennung für gute Arbeit sicherlich die Versetzung auf eine afrikanische Atlantikfarm oder vielleicht sogar der Auftrag, für ein paar Jahre auf eine Pazifikfarm umzusiedeln.

Je mehr Wasser das Boot unter den Kiel nahm, um so kräftiger blies der Wind in den Rücken. Anja schlug den breiten Kragen ihrer warmen Jacke hoch und zog ihn dichter um den Kopf.

Jochen stand am Steuer und spähte aufmerksam voraus, „Gehn Sie doch in die Kajüte ’runter, Anja“, sagte er. „Sie müssen sich erst an die See gewöhnen. Ist noch ein bisschen rau hier draußen. Aber spätestens in zwei Wochen wird es herrlich sein. Dann ist richtig Sommer.“

„Glöw jo nicht, dat ick pimplig bün. Lat man, min Jung, dat is hüt bloß ein Püsterken.“

Jochen zog erstaunt die Brauen hoch. „Sie sind wohl von der Waterkant?“

„Aus der Wismarer Gegend, Kieler Bucht“, sagte sie. Es freute sie insgeheim, ihn ein wenig damit beeindruckt zu haben.

Anjas schmale Feingliedrigkeit und ihre kleine Figur standen für Jochen im Gegensatz zu ihrer Herkunft, zu diesem Dialekt, den sie plötzlich gesprochen hatte. Ein Mädel von der Küste hatte er sich immer anders, herber, vorgestellt. Als er sie vorhin im Speisesaal zum ersten Mal gesehen hatte, waren ihm sogar Bedenken gekommen, ob sie überhaupt die Arbeit auf dem Schiff und dann später auf der neuen Boddenstation schaffen würde.

Die Wellen rollten jetzt von der Seite heran und klatschten gegen die Bordwand. Serien von Spritzern kamen über, und das Boot wiegte sich heftig hin und her. Jochen sah neugierig zu Anja hin. War sie seefest, oder hatte sie ihm etwas vorgemacht? Dann müsste ihr jetzt mulmig werden.

Aber Anja stand ungerührt an die Kajüte gelehnt. Sie nahm nicht einmal die Hände aus den Jackentaschen. Nur ihre Füße stemmte sie fest gegen die Bordwand, um beim Schlingern besseren Halt zu haben. Belustigt blickte sie ihn an.

In diesem Augenblick durchstieß das Boot die Nebelbank. Anja beugte sich vor, um besser sehen zu können. Das Forschungsschiff lag dicht vor ihnen. Es war ein Katamaran, ein Doppelrumpfschiff. Sie fuhren darauf zu.

„Ein Märchenschloss“, flüsterte sie.

Umtanzt von Tausenden blinkender Pünktchen lag dort eine Insel. Steil strebten ihre Ufer aus dem Wasser. Auf ihr erhob sich breit ein hohes weißes Schloss. Ein schmaler, schlanker Turm mit einem kurzen Mast trug ein kreisendes Prinzessinnenkrönchen. Der Platz davor war leer und glatt, aber das große Tor für die Wellenkutsche war einladend geöffnet. Liebevoll leckten Wasserzungen die Auffahrt sauber. Die Prinzessin wurde schon erwartet. Diesmal bin ich die Prinzessin, dachte Anja.

Sie war froh. Ihre Erwartungen waren weit übertroffen worden. Statt des vermuteten kleinen Forschungsloggers sah sie jetzt diesen stattlichen Katamaran vor sich. Die elegant geschwungene Fassade seiner großzügigen Aufbauten mit den pastellfarbenen Flächen leuchtete weithin. Das die beiden Rümpfe verbindende Deck wölbte sich in kaum erkennbarem Bogen. Auf dem Katamaran schien verschwenderisch viel Platz zu sein. Ein ideales Schiff für Forschungsarbeiten, stellte das Mädchen im Stillen fest.

Jochen betrachtete Anja, die angespannt zum Schiff hinüberblickte. Deutlich zeichnete sich ihr fein geschnittenes Profil gegen den Hintergrund des Wassers ab. Ein versonnener, verklärter Ausdruck lag jetzt auf ihrem Gesicht. Das Kopftuch mit den flatternden Zipfeln rahmte es ein, machte es schmaler und zarter.

„Nicht schlecht“, sagte Jochen halblaut und bedauerte, sie nicht länger in Ruhe betrachten zu können. Er musste jetzt aufpassen und manövrieren.

„Ja, nicht schlecht. Wirklich ein prima Schiff“, bestätigte das Mädchen anerkennend.

Jochen stellte den Motor ab, und das Boot trieb, allmählich an Fahrt verlierend, in den Schlund zwischen den beiden Rümpfen des Katamarans. Hier war es wie in einem windgeschützten Hafen. Das Wasser schwappte leise gegen die Bordwände. Jochen stieg aus und reichte ihr die Hand.

„Angelangt!“, rief er.

Sie gingen die breiten Stufen des Fallreeps hinauf. Oben an Bord erwartete sie ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren. Sein Haar war von einem auffallend hellen Blond, und seine sandfarbenen Hosen hatten eine makellose Bügelfalte.

„Das ist Doktor Ruck“, stellte Jochen ihn vor. „Wenn die Dünenstation fertig ist, wird er mit Ihnen zusammen dort arbeiten.“

Doktor Ruck ergriff rasch ihre Hand und schüttelte sie energisch. Mit einer einladenden Geste wies er auf das Schiff. „Herzlich willkommen“, sagte er mit gewinnendem Lächeln. „Hat Sie also unser spröder Ritter sicher durch die Waschküche hierher gebracht? Wir wollten Sie nämlich wegen des Nebels erst morgen an Bord holen, aber Jochen Märzbach hatte Verlangen nach einem Alginum von Helen Jasenow“, spottete der Doktor.

„Dann hätte ich also beinahe noch länger warten müssen?“, fragte Anja.

„Haben Sie sich gelangweilt? Gefällt Ihnen Hohendünen etwa nicht?“

„Auf dem Schiff gefällt es mir besser. Ich möchte endlich arbeiten.“

„Das zu hören wird dem Professor gefallen. Er hat eine Schwäche für junge ungeduldige Leute. Ich soll Sie jedenfalls auch in seinem Namen begrüßen. Er lässt es sich sonst nicht nehmen, neue Mitarbeiter selbst zu empfangen. Aber heute tagt die Prüfungskommission. Man diskutiert über die schriftlichen Arbeiten der Meeresagronomen, die wir hier bei uns für die künftige Luandafarm ausbilden.“ Der Doktor wandte sich an Jochen. „Ich möchte Sie bitten, die junge Dame überall herumzuführen und ihr das Schiff zu zeigen. Die Dünenstation ist erst in einigen Wochen fertig, und Sie müssen deshalb vorläufig noch hier an Bord arbeiten“, erklärte er Anja. „Mit dem speziellen Auftrag meines Labors, die Ökologie der Algen in den verschiedenen Litoralzonen südlicher und nördlicher Meere vergleichend zu erforschen, werde ich Sie bekannt machen. Aber das hat ja noch Zeit.“

Doktor Ruck begleitete sie noch einige Minuten schweigend. Er hörte Jochen, der Anja das Schiff zu erklären begann, so aufmerksam zu, als sei auch ihm hier alles neu und unbekannt. Aber dann bemerkte Anja, dass das nichts anderes als eine höfliche Geste war. In Wirklichkeit war er mit seinen Gedanken schon wieder woanders. Bald verabschiedete er sich dann auch.

„Der knobelt wieder“, sagte Jochen. „So ist er immer. Er macht seinem Namen alle Ehre. Entweder er arbeitet tagelang fast ununterbrochen, packt eine Sache an und löst sie sozusagen mit einem Ruck, oder er lässt sich tagelang überhaupt nicht in seinem Labor blicken. Wenn ihn Professor Hardt ermahnt, seine Zeit besser einzuteilen, dann sagt er: ,Das gehört zu meinem intensiven Lebensstil. Wissenschaftliche, schöpferische Arbeit kann man nicht in Bröckchen zu täglich sechs Stunden zerstückeln. Entweder ich arbeite, oder ich erhole mich gründlich.‘ Seit gestern hat es ihn wieder gepackt. Die Lösung eines Problems scheint ihm vorzuschweben. Dann läuft er herum und sieht und hört nichts, wie jetzt eben. Aber sonst ist er ein feiner Kerl. Ich mag ihn gut leiden. Er segelt gern und spielt viel Tennis. Vor einem Jahr begeisterte er sich noch für das Bergsteigen.“

Sie gingen beide kreuz und quer durch das Schiff. Anja wusste bald nicht mehr, ob sie sich oberhalb oder unterhalb der Wasserlinie, ob sie sich im Bug oder Heck befanden. Hinter jeder Tür, die Jochen öffnete, tauchten neue Gesichter auf. Hier traf man eine Gruppe beim Experimentieren an, dort eine andere bei der Auswertung von Beobachtungen und Tabellen. Einige Labors, so entdeckte Anja überrascht, waren unbenutzt.

Das alles, von den Labors im Institut über die neue Dünenstation bis zu diesem Katamaran, wurde also aufgeboten, um zu forschen, um Algen zu Brot zu machen. Wie einst vor Jahrtausenden durch den Fleiß und die Klugheit des Menschen aus dem Steppengras der Getreidehalm mit seiner vollen Ähre wurde, sollte jetzt durch wissenschaftliche Forschung den Menschen in den Algen eine reichere Nahrungsquelle erwachsen.

Ob die Menschen, die heute wogende Kornfelder liebten, später einmal smaragdgrüne Algenfeder lieben würden?

Nach zwei Stunden Besichtigung taten Anja die Beine weh. „Jetzt ist’s genug“, stöhnte sie. „Es ist zwecklos, mir noch mehr zu zeigen, ich begreife nichts mehr, und ich kann mir auch nichts mehr merken.“ Dies Feenschloss schien ihr auf einmal ein Irrgarten geworden zu sein.

Jochen hatte ein Einsehen. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl aufwärts; als er hielt, tat sich eine Sesselkajüte auf.

„Die Plaudermesse“, erklärte Jochen.

Aufatmend ließ sie sich in einen Schalensessel fallen.

Große Fenster gewährten gute Sicht. Weit draußen auf offener See glitten zwei Dampfer über das Wasser. Offenbar fuhren sie nach Swinoujscie. Jochen sah ihnen nach, bis sie nur noch die Masten über den Horizont streckten, und dachte dabei sorgenvoll an seine Diplomarbeit. Er hatte das Thema „Die Möglichkeiten und Aussichten einer meereswirtschaftlichen Nutzung der Ostsee“ gewählt.

Jochen war um dieses Thema wahrlich nicht zu beneiden, denn er hatte sich damit auf ein sehr umstrittenes Gebiet gewagt. Natürlich wusste er, dass man seit jeher die Meinung vertrat, die Ostsee sei für die Algenwirtschaft nicht besonders geeignet. Aber gerade das hatte ihn gereizt. Deshalb hatte er in seiner Arbeit auch dargelegt, dass diese Ansicht den Möglichkeiten der Menschen und dem augenblicklichen hohen Stand der Meeresforschung nicht mehr gerecht werde. Anhand von mehreren Beispielen hatte er nachgewiesen, dass die Wissenschaft dieses Gebiet im letzten Jahrzehnt vernachlässigt habe und dass eine praktische Nutzung des Ostseeraumes für die Algenwirtschaft durchaus denkbar und wirtschaftlich sein könnte. Professor Hardt wäre es zwar bestimmt lieber gewesen, wenn sich alle Studenten der Meeresagronomie einem Thema über Algen in tropischen Zonen zugewandt hätten, denn das war sein Spezialgebiet. Würde Hardt nun Jochens Diplomarbeit deswegen weniger gut beurteilen und sagen, hier sei ein Thema schon von vornherein falsch und unqualifiziert ausgewählt worden? Ansatzpunkte, die manchmal recht gewagten Thesen der Arbeit als zu fantastisch anzusehen, gab es genügend. Jedenfalls war Jochen, der überall und bei jeder Gelegenheit offen über sein Thema diskutierte, schon mehrmals von Hardt darauf verwiesen worden, dass die Hauptaufgabe des Instituts vorläufig darin bestehe, durch eine gründliche Forschung zum Aufbau von Meeresfarmen vor der westafrikanischen Luandaküste beizutragen.

„Warum nennen euch die Leute an Land eigentlich ,Algenpüttcher‘“, fragte Anja mitten in seine Überlegungen hinein.

Jochen zuckte die Achseln und winkte ab. „Es hat sich eben eingebürgert. Das hat nichts zu bedeuten. Sie meinen es nicht so. Ist nicht weiter ernst zu nehmen“, sagte er. Bisher hatte er diesen Ausdruck hingenommen und nicht weiter darauf geachtet. Je mehr er jetzt aber die Harmlosigkeit dieses Wortes beteuerte, um so mehr löste es auch bei ihm Unbehagen aus.

Anja war mit dieser Antwort nicht zufrieden, sagte aber nichts mehr dazu. Sie dachte: Wenn sich so etwas eingebürgert hat, liegen dafür bestimmt gewichtige Ursachen vor. Sie ahnte, warum die Leute hier die Wissenschaftler auf dem Katamaran „Algenpüttcher“ nannten: Die jahrelange Arbeit der Forscher hatte für sie in der Praxis keine sichtbaren Auswirkungen. Dabei war es doch häufig so, dass Institute sich unter der Bevölkerung selbst durch am Rande ihrer Forschungsarbeit liegende Ergebnisse, wenn man sie praktisch nutzen konnte, einen Namen gemacht und Anerkennung erworben hatten. Wenn man hier auf dem Katamaran zum Beispiel neben der Grundlagenforschung noch für die Fischwirtschaft nützliche Algen züchten und aussetzen würde, wäre damit bestimmt schon viel Ansehen gewonnen.

„Wie kommt es eigentlich, dass ihr hier an Bord einige Labors nicht benutzt?“, fragte sie Jochen. Bei ihrem Rundgang hatte sie das festgestellt. Sie fühlte sich heute ungewöhnlich tatendurstig und dachte: Mal sehen, ob sich nichts unternehmen lässt.

„Das Schiff ist auf Per-spek-ti-ve gebaut“, erklärte Jochen ironisch. Aber dann fiel ihm ein, dass Anja nicht ahnen konnte, dass er damit den Tonfall des Professors nachahmen wollte. Sie kannte Professor Hardt ja noch nicht. Sofort wurde er wieder sachlich und sagte: „Wir wollen hier auch noch Platz haben, wenn wir später, vielleicht sogar schon in ein paar Monaten, vor der afrikanischen Küste herumschwimmen und dann mehr zu tun bekommen.“

„Später, Perspektive, mehr Platz! Das ist doch alles Unsinn!“ entgegnete Anja unwillig. Da hatte sie nun seit Jahren gehört und gelesen, dass die Meere in der Zukunft große wirtschaftliche Bedeutung erlangen würden, weil Algen nahrhafter, weil die Meereswirtschaft produktiver und der Landwirtschaft weit überlegen sein konnte, und nun fand sie ungenutzte Labors vor. Ärgerlich sagte sie: „Ich habe mir vorgestellt, dass hier ein Gewimmel wie in einem Raumforschungszentrum herrschen würde. Es geht doch um die Ernährung! Und dabei seid ihr auf diesem großen Schiff höchstens hundert Mann. Da könnt ihr ja nicht mit den Forschungen vorankommen, da brauch’ ich mich auch nicht zu wundern, wenn die Leute das Alginum mit langen Zähnen essen und euch ,Algenpüttcher‘ nennen.“

Jochen rutschte mit einem Ruck von der Sessellehne. Ach so ist das, sie ist überempfindlich, dachte er. Es wurmt sie, wenn Helen Jasenow und die anderen Leute die Mitarbeiter des Instituts „Algenpüttcher“ nennen. Ihm schien es bisher immer, als sei das eher gutmütig als boshaft gemeint gewesen. Verstand sie das nicht? Oder wollte das kluge Kind, das frisch von der Hochschule kam, etwa schon Lorbeer von der Arbeit anderer abbekommen?

„Das ist falsches Ehrgefühl“, sagte er deshalb. Warum machte sie gerade ihm diese Vorwürfe? Seine Schuld war es doch ganz gewiss nicht, wenn die leer stehenden Labors einstweilen nicht für praktische Forschungen genutzt wurden.

„Bei euch hier müsste mehr los sein“, beharrte Anja. Sie hielt den Kopf ein wenig zur Seite geneigt und sah ihn herausfordernd an. „Ein wichtiges Erfordernis der menschlichen Schicksalsgestaltung ist die vorausschauende Fürsorge. Es ist doch die Aufgabe der heute lebenden Generation, schon jetzt nach neuen Wegen der Ernährung künftiger Geschlechter zu suchen“, dozierte sie.

Die altkluge Miene, die sie dazu aufsetzte, passte so gar nicht zu ihr, fand Jochen. „Sprechen Sie noch lange hochdeutsch?“, fragte er ein wenig spöttisch. „Ihr Platt wäre mir lieber.“

„Die Algenforschung ist doch Teil einer solchen vorausschauenden Fürsorge“, redete sie unbeirrt weiter und tat so, als habe sie den Hohn in seinen Worten nicht bemerkt. „Bald sind mehr als fünf Milliarden Menschen zu ernähren. Da müssten hier mehrere Hundert Wissenschaftler arbeiten. Schade um jeden Tag, den die Einrichtungen dieses großzügig gebauten Schiffes brachliegen. Selbst wenn es darum ginge, nur die Ostsee nach Möglichkeiten für die Meereswirtschaft zu erforschen, müsste das Algeninstitut mehr Leute einsetzen, vom Luandaprojekt ganz zu schweigen. - Wie wär’s, wenn man hier am Bodden eine kleine Algenfarm einrichtete?“, fügte sie nach kurzem Überlegen hinzu.

Jochen horchte auf.

Ihr „Hochdeutsch“ schien aus ehrlichem Herzen zu kommen.

Sollte es der Neuen ernsthaft um Meereswirtschaft in der Ostsee zu tun sein? Dann dachte sie wie er. Überrascht betrachtete er sie sehr aufmerksam.

„Sagen Sie’s dem Professor, versuchen Sie’s mal. Er wird wahrscheinlich in den nächsten Tagen mit Ihnen sprechen, um Sie kennenzulernen.“ Jochen lachte. „Sie werden mit Ihrem Vorschlag von der Boddenfarm nicht weit kommen. Es wird Ihnen, der klugen Anja, nicht anders ergehen als mir: ,Das ist Hobbyforschung‘, wird er sagen.“ Jochen redete sich in Zorn: „Solange ich nicht begreife, dass man die Kräfte auf Schwerpunkte konzentrieren muss, solange ich nebenbei auch noch Algenforschung für die Ostsee betreiben will, werde ich nur kleine Aufgaben zu lösen bekommen. Das ist meine Erfahrung, die ich hier in letzter Zeit gemacht habe. Ach, ich habe es satt, nur Bojen zu kontrollieren, Algenproben für den Doktor zu holen und mich wegen meiner Ansichten über Ostseeforschung von jedermann mitleidig belächeln zu lassen!“

Jochen stieß die Worte heraus, laut, fast unbeherrscht. Ein lange aufgespeicherter Groll brach aus ihm hervor, und es sah aus, als wolle er all seinen Ärger bei Anja abladen; bei ihr, die hier neu war, die doch aber von alldem nichts ahnte oder gar wusste und dafür auch nicht verantwortlich war, wenn ihm, wie er glaubte, Unrecht geschah.

Diese neue Arbeitskollegin, die er recht sympathisch fand, redete mit einer beneidenswerten Unbekümmertheit große Worte von „vorausschauender Fürsorge“ und „menschlicher Schicksalsgestaltung“, verlangte eine Boddenfarm, kritisierte im gleichen Atemzug den hohen Aufwand für die Raumforschung und forderte stattdessen ein Heer von Wissenschaftlern für die Meeresforschung. So viel Schwung und Mut hatte er ihr nicht zugetraut. Alle Achtung, dachte er.

Ihr Gedanke, eine kleine Boddenfarm einzurichten, war tatsächlich nicht schlecht. Er müsste sie für seine Idee, die Ostsee meereswirtschaftlich großzügig zu nutzen, zu gewinnen versuchen und sie ermutigen, mit dem Professor über dieses Problem zu sprechen. Es war unklug von ihm, sich so unbeherrscht zu verhalten. Das musste sie doch nur verwirren.

„Sie haben recht“, lenkte er ein. „Man müsste dem Professor tatsächlich beweisen, dass die Ostseealgen auch essbar und nicht nur als Viehfutter und als Rohstoff für die Papier- und Textilindustrie verwertbar sind“, sagte er.

„Eine kleine Boddenfarm wäre für den Anfang genau das Richtige.“

„Ja, nicht wahr, vor der neuen Dünenstation!“, antwortete Anja begeistert. „Vielleicht sollte man erst einmal heimlich, ohne dem Professor etwas davon zu sagen, experimentieren.“

Sie gingen in der Sesselkajüte auf und ab und entwarfen Pläne für ihre kleine Boddenfarm. Unversehens sprachen sie miteinander so, als würden sie sich schon lange kennen. Die Zeit verstrich, und zum Schluss sagte Jochen: „Ich werde alles versuchen, um nach dem Examen auch auf die neue Station in Hohendünen zu kommen. Wir können dann in unserer Freizeit in Ruhe Versuche anstellen.“

3. Kapitel

Jochen stieß sich vom Boot ab und glitt ins Wasser. Mit ein paar Schwimmstößen erreichte er die Boje. Es war die letzte, die er zu kontrollieren hatte. Dann konnte er für heute Feierabend machen und zum Wochenende nach dem Festland hinüberfahren.

Der Sommer hatte nun wirklich seinen Einzug gehalten. Von Tag zu Tag tauchten mehr Segel- und Motorboote mit Urlaubern auf. Die weite Fläche des Boddens belebte sich. Das machte eine besonders gründliche Überprüfung der Bojen erforderlich, die das Versuchsfeld mit den Algen abgrenzten. Eine einzige losgerissene, treibende Boje konnte großes Unheil anrichten. Jochen tastete die Kette ab und überprüfte die Verankerung. Hier unten in mehreren Metern Tiefe herrschte grünliche Dämmerung. Es war alles in Ordnung. Jochen kehrte zur Oberfläche zurück, zog sich ins Motorboot und nahm die Atemmaske vom Gesicht. Dann setzte er sich auf die Heckbank, um ein wenig zu verschnaufen.

Die Neue hatte er in den zwei Wochen, die sie an Bord war, hin und wieder getroffen, aber sie hatten beide keine Zeit mehr gehabt, das in der Plaudermesse begonnene Gespräch fortzusetzen. Jochen bedauerte das, denn über die Themen Ostseeforschung und Boddenfarm gab es noch sehr viel zu sprechen. Auch über einige Thesen seiner Diplomarbeit hätte er gern mit ihr diskutiert. Er freute sich, dass sie diesen Problemen gegenüber so aufgeschlossen war und bereit zu sein schien, sie offen zu vertreten. Hoffentlich erwies sich nicht, dass sie mit großen Worten schnell bei der Hand, mit Taten aber sparsamer war. Er beschloss, sich darüber Klarheit zu verschaffen und sie heute einmal aufzusuchen.

Anja war die ersten Tage an Bord umhergestreift, sich für alles interessierend und jeden befragend. Dann aber hatte sie von Doktor Ruck eine Aufgabe erhalten und sich in die Arbeit gestürzt.

Auch Jochen hatte angespannt zu tun gehabt. Die Forschungen für das Luandaprojekt mussten abgeschlossen werden. Die grundsätzlichen wissenschaftlichen Untersuchungen des deutschen Algeninstituts gingen ihrem Ende entgegen. Außerhalb des Schiffes liefen nur noch wenige Versuchsserien. Jetzt wurde besonders intensiv in den Großaquarien der Laboratorien gearbeitet. Eile war geboten, denn die erste künstliche Farminsel war auf einer polnischen Werft fertiggestellt worden und sollte demnächst nach Afrika geschleppt werden. Für Professor Hardt war es dann so weit, seine Zelte hier abzubrechen und sich die Leute auszusuchen, die er auf die Atlantikfarm mitzunehmen gedachte.

Jochen war sich ziemlich sicher, dass er nicht zu den Auserwählten gehören würde.

Er startete den Motor und fuhr zum Katamaran zurück. Die Kanister mit den Algenproben brachte er ins Labor. Dort stellte er erstaunt fest, dass außer Doktor Ruck und Anja auch Professor Hardt anwesend war. Die drei debattierten lebhaft miteinander, und Jochen hörte Anja gerade sagen: „Wir können den Afrikanern nicht ewig helfen. Wir müssen sie endlich in die Lage versetzen, auch ohne uns auszukommen. Man muss nach Wegen suchen, um auch in der Ostsee Meereswirtschaft betreiben zu können.“

„Die Ostsee ist dafür ungeeignet. Das wissen Sie doch auch. Sie ist zu salzarm. Meeresfarmen wären hier unrentabel. Außerdem lassen sich die Ostseealgen nicht so verarbeiten, dass sie für den Menschen essbar werden und schmecken“, sagte Professor Hardt. „Wozu also noch diskutieren? Mir genügt es, wenn Jochen Märzbach immer wieder auf diesem Thema herumreitet. Unsere Aufgabe heißt Luandafarm. Ihr hat sich alles unterzuordnen. Hobbyforschung können wir uns nicht leisten, das verzettelt.“ Der Professor wandte sich Jochen zu und sagte mit einem leichten Lächeln: „Jetzt habe ich noch so einen Querkopf an Bord. Haben Sie sie beschwatzt? Na ja, Doktor Ruck hätte eben jemand anders bitten sollen, unsere neue Kollegin auf dem Schiff herumzuführen und mit allem bekannt zu machen.“

„Das ist meine eigene Meinung!“, rief Anja. „Jede Einseitigkeit wird sich eines Tages nachteilig auswirken. Das ist eine alte Erkenntnis. Was macht’s aus, wenn wir hier anfangs nur wenig von den Algenfeldern ernten? Es wäre immer noch viel mehr als die ertragreichsten Getreidefelder hergeben.“

„Warum wollen Sie hier in der Ostsee wenig ernten, wenn man vor der Luandaküste mühelos mehr aus dem Meer holen kann? Bei einer künftigen weltweiten Arbeitsteilung, bei der künftigen Neueinteilung der Oberfläche unseres Planeten in ökonomische Produktionssphären wird es den Ländern der tropischen Zone zufallen, die Meereswirtschaft zu übernehmen.“

Doktor Ruck ergriff jetzt Anjas Partei und sagte: „Die Gefahr einer Einseitigkeit ist bei uns im Institut nicht von der Hand zu weisen, Herr Professor. Es müsste eigentlich auch Algensorten geben, die gerade in der Ostsee gut gedeihen und die sich vielleicht sogar für die Ernährung verwerten lassen. Man muss sie nur suchen oder eine ausgesprochene Brackwasseralge für die Ostsee züchten.“

Jochen hatte sich geschworen, an Bord dazu nichts mehr zu sagen. Es würde ihm sowieso teuer zu stehen kommen, dass er für seine Diplomarbeit ein Ostseethema gewählt hatte. Sich nun mit Professor Hardt erneut auf einen Streit über Ostseefarmen anzulegen, schien ihm nicht ratsam. Aber es wäre auch schuftig von ihm, Anja im Stich zu lassen.

„Das Luandaprojekt“, sagte Jochen vorsichtig, „ist nicht verkehrt, und wir können uns gratulieren, dass wir unter so günstigen Umständen Meereswirtschaft betreiben können. Der beste Garten und das beste Treibhaus werden dagegen wie eine dürre Einöde sein. Aber es ist auch meiner Meinung nach jetzt an der Zeit, dass wir einmal unsere eigenen Meere gründlich erforschen. Sonst werden wir eines Tages in der Ostsee so weit im Rückstand sein, dass nicht mehr wir den Afrikanern, sondern sie uns helfen müssen, unsere Ernährungsprobleme zu lösen.“

„Wäre das so schlimm?“, fragte Doktor Ruck. „Ohne internationale Zusammenarbeit ist schon seit Langem keins der großen Probleme mehr zu lösen!“ Er verzog dabei verdrießlich sein Gesicht. Es war ihm zuwider, eine solche Binsenweisheit aussprechen zu müssen. Aber solche Ansichten, wie sie seine neue Mitarbeiterin und Jochen Märzbach äußerten, durften nicht unwidersprochen bleiben. Nicht diese Gründe waren es, die ihn bewogen hatten, vor gewisser Einseitigkeit zu warnen, sondern rein wissenschaftliche. Es hatte ihn außerdem schon immer geärgert, wenn sich in den letzten Jahren in dem einen oder anderen Fall die internationale Zusammenarbeit nur zögernd und schleppend entwickelte. Diese beiden jungen Leute hier dachten ihm noch zu sehr in nationalen Bahnen, und er fügte deshalb hinzu: „Die Welt ist über ihre dörfischen Grenzen hinausgewachsen. Ich hoffe, dass Ihnen das allmählich auffällt, meine Herrschaften.“

Der Professor hob beschwichtigend die Hand. „Wenn es einmal notwendig ist und uns eine solche Aufgabe, Ostseefarmen einzurichten, gestellt wird“, sagte er, und seine Stimme klang gar nicht mehr ärgerlich, sondern sogar recht freundlich, „dann wird sie auch gelöst werden. Aber jetzt müssen wir uns auf die Atlantikfarm konzentrieren. Nun genug davon.“ Er erkundigte sich anschließend nach dem Stand von Doktor Rucks Arbeiten und verließ dann das Labor.