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Carlos Rasch

Die Umkehr der Meridian

Raumfahrterzählung aus dem Jahre 2232

ISBN 978-3-95655-514-5 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1966 im Deutschen Militärverlag, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®
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Raum ist nicht Raum,

Zeit ist nicht Zeit,

jetzt ist nicht jetzt,

Zentrum nicht Zentrum.

 

Mensch, das ist Mensch.

Erde ist Erde.

Wir sind wir auf unserer Erde,

Unser ist Unser auf unserer Erde.

 

Lasst uns die Zeit

und den Raum

alle

bedächtig schrittweise öffnen.

Hartmut Fiedler Lyrikgruppe „alex 64"

1. Kapitel

Suko Susako, der Triebwerksingenieur, wollte eigentlich den Uranbedarf der Meiler und den zusammengeschrumpften Vorrat an Wasserstoff in den Tanks nachrechnen. Er saß aber nur da und blickte grübelnd vor sich hin.

Wann endlich würde sich Arkadi Arsuk für einen neuen Kurs entschließen, für eine Bahn, die schnell in die Geborgenheit der Erde führte?

Die „Meridian“ hatte sich schon über sechs Milliarden Kilometer von der Sonne entfernt. Solche Strecken hatte bisher noch kein anderes Raumschiff zurückgelegt. Der Auftrag war erfüllt. Hatte es da Sinn, noch weiter in das All hinauszufliegen? Wollte Arkadi Arsuk noch mehr Ruhm einheimsen?

Ich mache da nicht mehr mit, dachte Suko Susako. Ärgerlich sah er zu Tete Thysenow hinüber, der auch jetzt noch mit großer Ruhe an seinen Instrumenten saß, Notizen im Elektronenhirn speicherte und Messkurven verglich.

„Wenn es keinen Kosmos gäbe, würdest du ihn bestimmt erfinden“, murmelte der Ingenieur.

Der junge Wissenschaftler sah auf und blickte ihn fragend an.

„Ja, du hast richtig gehört, Te Thys. Dein Forscherdrang ist geradezu anormal. Du sehnst dich, scheint mir, gar nicht zur Erde zurück. Weißt du überhaupt noch, wie ein Baum, eine Wolke, ein Grashalm aussieht? In deinem Kopf haben nur Zahlen und Messkurven Platz. Und existieren No Lybia, ich und Ak Arsuk überhaupt für dich?“ Die letzten Worte klangen ungehalten.

Es war hauptsächlich Tete Thysenows Verdienst gewesen, dass man die Kometenwolke gefunden hatte. Die Aufmerksamkeit, mit der er die Skalen und Schirme seiner Geräte beobachtete, war nahezu sprichwörtlich. Winzige Anzeichen hatten ihm genügt, sie richtig zu deuten und der Kometenwolke auf die Spur zu kommen.

„Du übertreibst, Suko“, sagte der Wissenschaftler, an Bord kurz Te Thys genannt. „Man muss von der Erde träumen können, ohne ungeduldig zu werden. Sei nicht so ungehalten. Wir sehnen uns alle nach der Erde zurück; du nach den Meeresfarmen vor der Kyushuküste, No Lybia nach den Saharawäldern, Arkadi nach den sibirischen Heißwasserfällen und ich ... Tete Thysenow brach ab und seufzte. „Du machst uns das Leben hier draußen im Kosmos nur unnötig schwer, wenn du immer wieder Bilder von der Erde herbeibeschwörst.“

In diesem Augenblick hielt leise summend der Lift. Die Pneumatür öffnete sich, leise fauchend. No Lybia kam in die Steuerzentrale. Sie war vor Freude ganz aufgeregt, ging schnell auf Tete Thysenow zu und rief: „Es geht nach Hause! Wir nehmen Wendekurs! Ak Arsuk hat eben die Berechnungen dazu abgeschlossen!“ Sie packte Tete Thysenow an den Schultern und rüttelte ihn, als wolle sie einen Schlafenden wecken. „Te Thys, Te Thys!“, stieß sie atemlos hervor. „Wir werden heute noch die Sonne auf dem Bugschirm sehen! Endlich wieder die Sonne auf dem Bugschirm!“

Suko Susako trat neugierig heran. Seine eben noch gerunzelte Stirn glättete sich. Er begann sogar, ein Liedchen vor sich hin zu pfeifen.

Da meldete sich auch schon aus dem Lautsprecher Arkadi Arsuk: „Hier Kommandant! Bereitet die Umkehr vor! Suko Susako, überprüfe du die Meiler und das Triebwerk. Und du, Nomisera Lybia, sende den Funkspruch an die Erde ab. In fünf Minuten beginnt das Steuermanöver für die Wendekehre. Ich komme gleich mit dem neuen Lenkprogramm.“

No Lybia ging aufgeregt und voller Freude in der Steuerzentrale umher. „Te Thys! Te Thys! Bald wird die Sonne auf dem großen Sichtschirm erscheinen. Pass auf, sieh hin! Wir haben sie dort lange nicht gesehen.“

Auch Suko Susako warf seinen Frequenzstift fröhlich in die Luft, fing ihn auf und machte einen dicken Strich durch die Treibstoffberechnungen auf seiner Magnetkarte. Dann rieb er sich mehrmals die Hände und machte sich an seinem Düsen- und Meilerpult zu schaffen.

„Seit wann geratet ihr beide so leicht außer Rand und Band?“, fragte Tete Thysenow amüsiert.

„Ach, du“, sagte Suko Susako, „für dich wird die Sonne auf dem Bugschirm natürlich genauso rund und hell sein wie jetzt auf dem Heckschirm. Ich weiß, du verschwendest deine Gefühle nicht unnötig. Du bleibst kühl und sachlich wie eine Rechenmaschine. Deine Messungen sind dir wichtiger als die kleine, ferne Sonne.“

„Du bist ungerecht, Suko“, sagte No Lybia. „Ob du gut gestimmt bist oder schlecht, immer hast du etwas an Te Thys auszusetzen.“

„Stimmt“, gab Suko Susako zu.

„Das nehme ich ihm nicht übel. Lass ihn reden.“ Tete Thysenow winkte gutmütig ab. „Wie ich sehe, ist er jetzt wieder obenauf, und das ist die Hauptsache. Vorhin war er nämlich ganz missmutig, richtig niedergeschlagen.“

„Aber, aber! Suko ist doch immer obenauf und nie missmutig“, sagte No Lybia.

Sie war Ärztin und wusste nur zu gut, wie es um Susako bestellt war: Er zeigte sich der Stille, der Schwärze und der Bodenlosigkeit ringsherum in letzter Zeit immer weniger gewachsen. Das waren die ersten Anzeichen einer Akrophobie, der Raum- angst. Die große Entfernung von der Erde zerrte offenbar an seinen Nerven am meisten. Eben deshalb versuchte sie, ihm den Missmut auszureden.

„Obenauf?“, bezweifelte Susako. „Das ist zuviel gesagt. Ich werde mich erst wohlfühlen, wenn wir festen Erdboden unter den Füßen haben.“

„Lass das bloß nicht die Raumfahrtpsychologen hören, wenn wir wieder auf der Erde angekommen sind. Sonst kannst du höchstens noch in Port Luna Dienst tun“, sagte Tete Thysenow ironisch. „Es klang fast so, als hättest du Erdweh.“

„Ja, Erdweh!“ Suko Susako lachte kurz und trocken auf. „Wer hat, wenn er normal ist, kein Erdweh? Ein Raumfahrer ohne etwas Erdweh ist kein Raumfahrer. Ist es nicht so? Ich jedenfalls brenne darauf, wieder auf der Erde zu sein. Im Augenblick würde ich sogar mit einem Wilden aus der Steinzeit tauschen, wenn ich dafür sofort auf die Erde zurückversetzt werden könnte. In letzter Zeit ist es mir hier draußen im Kosmos sehr unbehaglich zumute geworden“, sagte der Ingenieur.

No Lybia lächelte verständnisvoll. „Der Mensch fliegt dem Kosmos in die Arme, aber sein Herz bleibt auf der Erde; jetzt sei aber still“, fügte sie energisch hinzu. „Man soll hier draußen im All nicht so viel von der Erde sprechen.“

Suko Susako lachte spöttisch. „Sieh da. Entweder du hast auch Heimweh nach der Erde, oder du bist abergläubisch. Fürchtest du, dass man, wenn man hier im Kosmos von der Erde spricht, den ,Kosmonautermann' herbeibeschwört?“, versuchte er zu scherzen. „Pass auf, er wird gleich mit einem Knöchelchen aus Meteoriten an die Bordwand klopfen.“

No Lybia hob in komischer Verzweiflung erschrocken und abwehrend die Hand.

Sie arbeiteten alle schweigend eine Weile an ihren Geräten, und schließlich schaltete No Lybia den Sender ein, der den Funkspruch zur Erde abstrahlte. Dabei las sie den Klartext zur Kontrolle mit: „Hier Meridian! Hier Meridian! Haben Randzone des Sonnensystems erreicht. Auftrag erfüllt. Kometenwolke aufgespürt und genaue Ausdehnung ermittelt. Auch Crabstrahlung gemessen. Werden umkehren und heimwärts fliegen. Gruß unserer schönen Erde!“

„In sechs Stunden kommt der Funkspruch dort an“, sagte Suko Susako. „Ich wünschte, wir wären auch schon in sechs Stunden auf der Erde.“

„Du bist zu ungeduldig“, hielt ihm Tete Thysenow entgegen. „Wem die Sonne winkt, dem geht die Erde nicht verloren. Das ist doch ein altes und bewährtes Kosmonautensprichwort. Wenn erst die Sonne wieder auf unserem Bugschirm zu sehen ist, wenn also das Umkehrmanöver geschafft ist, kann uns nicht mehr viel passieren.“

„Ihr seid beide ganz groß in Sprichwörtern. Natürlich, die Sonne winkt uns, aber der Weg zur Erde war auch noch nie so weit, möchte ich nur bemerken.“ Suko Susako störte die sorglose Zuversicht der beiden. Er war dafür, die Tatsachen nüchtern zu betrachten, vor allem nicht so sehr auf das ferne Ziel zu schauen, sondern zuerst auf den Weg, auf die nächsten Schritte dorthin und auf die Gefahren, die unvorhergesehen eintreten könnten.

Die Unruhe im Steuerraum hatte in den letzten Minuten zugenommen. Auf den Schaltpulten flammten ganze Reihen buntfarbiger Lichtsignale auf. Andere Zeichen blinkten rhythmisch. Unter den Verkleidungen der Pulte schnarrten, pochten und knackten leise die Relais; Summtöne, Klingelzeichen und kurze Quäksignale meldeten den Vollzug von Befehlen oder die Bereitschaft der Aggregate zum Umkehrmanöver.

Noch raste die „Meridian“ in das All hinaus. Mit jeder Sekunde entfernte sie sich um weitere Hunderte von Kilometern von der Sonne, von der Erde. Aber schon zündeten Steuertriebwerke und drehten das große Raumschiff, bis es rückwärts, mit dem Heck voran, in den Kosmos schoss.

In der Steuerzentrale war diese Drehbewegung, das Einschwenken des Haupttriebwerks in die richtige Manöverposition, für die drei Kosmonauten deutlich auf dem großen Bildschirm zu erkennen. Über drei Jahre war auf ihm nur das schmale, unregelmäßige Band der Milchstraße zu sehen gewesen. Es hatte vor ihnen seine ganze funkelnde und faszinierende Pracht entfaltet, ein Bild, das in gar nichts dem von der Erde aus sichtbaren Band ähnelte. Aber bald hatten sie sich alle an diesen Anblick gewöhnt. Das Bild der Milchstraße blieb trotz der rasenden Geschwindigkeit des Raumschiffs stets gleich und unverändert, als stände das Raumschiff still. Das war eintönig. An der Starrheit und dem kalten Glanz des Sternenpanoramas erstarben allmählich die Gefühle.

Jetzt aber war die Sternenwelt auf dem Bildschirm in Bewegung geraten. No Lybias Blick hing wie gebannt an der großen Bildfläche des Sichtschirms. Langsam wanderte die Sternenlandschaft darüber hinweg. Gleich musste die Sonne erscheinen.

Auch Tete Thysenow beugte sich gespannt vor. Sein Blick hing aber nicht an dem großen Sichtschirm, sondern er beobachtete angestrengt die pulsenden Messkurven auf den kleinen Schirmen vor sich, die die kosmische Strahlung um sie herum anzeigten. Die freudigen Rufe No Lybias über die Sonne verhallten unbeachtet an seinem Ohr, denn er bemerkte, wie seine Messgeräte plötzlich in einer ungewöhnlichen Art reagierten.

„Jetzt! Da ist sie!“, rief Suko Susako.

„Wie schön! Wie schön!“ No Lybia klatschte in die Hände. "So klein und doch so hell! Wunderbar!“ Sie war begeistert und glücklich. Wie wird uns erst zumute sein, wenn in drei Jahren die schöne blaue Kugel unserer Erde in ihrer orangefarbenen Aureole aus dem All vor uns auftaucht? dachte sie.

Eine Tür schnappte weich und saugend ein. Arkadi Arsuk, der Kommandant, war eingetreten. „Alles in Ordnung? Geht alles klar?“

Suko Susako nickte und machte ihm vorschriftsmäßig Meldung, dass alle Vorbereitungen für das Wendemanöver getroffen worden seien. „Keine Störungen“, sagte er.

Arkadi Arsuk sah mit Befriedigung, dass die Sonne schon im Fadenkreuz des Bildschirms stand. Nun brauchte er nur noch das Arbeitsprogramm für die Triebwerke, das er fertig errechnet auf einem Speicherband mitgebracht hatte, in den Pilotron, den Steuerautomaten, einzusetzen und den Rückflug durch einen Knopfdruck einzuleiten.

„Plätze einnehmen! Anschnallen!“, befahl er.

Arkadi Arsuk machte einige Handgriffe am Pilotron und drückte die Kassette mit dem neuen Steuerprogramm in die Raster. Dann setzte er sich in den Kommandantensessel. Etwa eine Minute später ertönte aus dem Lautsprecher das harte Tacken eines Sekunden zählenden Zeitmessers. Es war ein Anzeichen dafür, dass der Pilotron seine Arbeit aufgenommen hatte.

Tete Thysenow hatte den Befehl zum Anschnallen überhört. Er saß noch immer steil aufgerichtet vor seinen Messgeräten, eine starre Unmutsfalte auf der gerunzelten Stirn. Man sah es ihm an, dass er angestrengt nachdachte und zugleich aufs Höchste verwundert war.

„He! Te Thys!“, rief ihn Suko Susako an. „Hast du nicht gehört? Anschnallen ist befohlen worden! Die Wissenschaft hat jetzt Pause. Schalte deine Messschirme ab, und setze dich in den Konturensessel!"

„Achtung, Te Thys! Negativer Beschleunigungsdruck!“, mahnte auch Nomisera Lybia, denn jeden Augenblick musste das Triebwerk zu arbeiten anfangen.

Tete Thysenow schnallte sich wie abwesend mit mechanischen, tausendfach geübten Bewegungen an und legte seinen Kopf in die sorgfältig ausgearbeitete Stütze.

„Acht - sieben - sechs - Achtung! Triebwerk!“ Arkadi Arsuk zählte die letzten Sekunden laut mit. „Drei - zwei - eins - null!“

Das Triebwerk setzte heftig brausend ein. Sein Getöse pflanzte sich über die Wände und Spanten fort und drang bis in die Steuerzentrale. Ein starker Andruck presste sie in ihre Konturensessel.

Das ferne Tosen der Wasserstoffflamme im großen Haupttriebwerk dauerte jedoch nur kurze Zeit. Dann erstarb der Lärm. Lediglich noch das Rucken einiger schwacher und unregelmäßiger Stöße war zu spüren.

Suko Susako richtete sich, soweit es die Gurte zuließen, voller Unruhe auf. „Was ist los, Kommandant? Hast du das Triebwerk wieder abgestellt?“

„Nein. Wahrscheinlich eine Störung. Ich versuche es noch einmal.“

Arkadi Arsuk schaltete den Pilotron zurück und drückte abermals die Starttaste für das Umkehrmanöver. Wieder setzte das harte Tacken des Zeitmessers ein. „Drei - zwei - eins - Achtung!“, rief der Kommandant.

Die Stille blieb.

Nur die Schaltgeräusche der Automaten und Relais hinter den Wänden waren zu hören und ab und zu ein Atemzug.

Vergeblich warteten die vier Kosmonauten auf das vertraute Rauschen.

Es blieb aus.