Impressum

Karina Brauer

Königs Kind

ISBN 978-3-95655-376-9 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 2014 im Eigenverlag Karina Brauer.

Covergestaltung: Uta Stockdreher, Designbüro für Grafik, Webgestaltung und Kommunikation, www.stockdreherdesign.de

 

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1. Kapitel

Ich bin Königs Kind. Peter Königs Kind.

Und ich war einmal so wahnsinnig stolz auf meinen Familiennamen. Überall erzählte ich nur allzu gerne, dass ich ein Königskind sei. Die Erwachsenen lachten meist gütig darüber. Kinder sahen mich zunächst immer erstaunt und manchmal auch neidisch an, dann zeigten mir die meisten aber einen Vogel. Lange, sehr lange brauchte ich, um herauszufinden, wer ich wirklich bin und was es bedeutet, Königs Kind zu sein.

 

Mein Name ist Navarana, Navarana Maria. Da gibt es nichts zu staunen oder zu wundern! Es ist sicher ein seltsamer, seltener Vorname - also Navarana - aber daran kann ich nichts ändern, ich will es auch nicht und außerdem gibt es schließlich eine ganze Menge Gründe, warum ich diesen Namen erhielt. Wie ich nun zu meinem ersten Vornamen, meinem Rufnamen kam? Das ist ganz einfach! Es war der Wunsch meines Großvaters mütterlicherseits und meine Mutter entschied, dass das der schönste Name für ihr Kind wäre. Meinen Vater hat dabei augenscheinlich niemand gefragt. Kaum jemand verwendet den Namen Navarana. Nur Großvater Friedrich, der tat es immer, wenn wir uns sahen. Mich nannten alle, seit ich denken kann und sicher auch lange davor nur Nava. Den zweiten Namen erhielt ich, weil auch meine Mutter Maria als weiteren Vornamen trug, aber vor allem, weil die Eltern mich taufen ließen und es dabei wohl üblich war, mehrere Vornamen zu besitzen. So erzählte es mir meine Mutter jedenfalls einmal. Ja, ich wurde getauft! Und das mit der Taufe war nun wieder der Wunsch von Mutters Mutter. Meine Taufe war bereits zehn Tage nach meiner Geburt. Sie hatten es damals so eilig, dabei waren doch längst die Zeiten hoher Säuglingssterblichkeit vorbei. Nun, eigentlich war es damals sowieso kaum noch üblich, die Kinder so schnell, ja sie überhaupt zu taufen. Dazu gibt es die Geschichte, dass meine Großmutter mütterlicherseits, die damals praktisch neben dem Grundstück des Pfarrers wohnte, meine Taufe sozusagen aus Dankbarkeit dem evangelischen Geistlichen gegenüber veranlasste. Nun, ob dies stimmte, ich kann es nicht sagen. Allerdings ist es ziemlich eindeutig gewesen, warum Mutters Mutter, meine Großmutter Agnes, darauf bestanden hatte, dass ich an einem Sonnabend im November 1961 in ihrer Wohnung durch Pastor Ampler getauft wurde. Der Grund dafür war schlichtweg simpel und auch gemein: So konnte sie eine Taufe in der Kirche verhindern, denn dort hätte sie Mutters Vater, meinem Großvater Friedrich, den Zugang und die Teilnahme nicht verbieten können. So aber hatte sie Hausrecht. Ganz gleich warum, ich wurde im Beisein meiner Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits getauft. Nun, das ist so nicht ganz korrekt, denn Mutters Vater war ja nicht dabei. Aber Großmutter war schließlich verheiratet mit Hannes Kobald und der war natürlich auch mein Großvater. Dass ich drei Großelternpaare hatte, davon wusste ich doch damals noch nichts und ich habe es auch eigentlich lange als völlig normal hingenommen, dass dies so war. Erst später fiel mir auf, dass die meisten meiner Spielgefährten nur jeweils, wenn überhaupt, zwei Großmütter und Großväter hatten. Ich hatte mehr als die meisten anderen und das alleine gab mir damals das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.

Ich hatte also drei Großelternpaare. Vaters Eltern - das waren meine Dorf-Großeltern Bernhard und Meta König. Sie hatten es aber lieber, wenn ich König-Großeltern sagte. Bescheidenheit war meinen Familienmitgliedern schon in frühester Zeit abhandengekommen. Ja, und dann besaß ich eben die doppelten Großeltern von Mutters Seite. Für diesen Großelternreichtum gab es jedoch eine ganz simple Erklärung: Großmutter Agnes und ihr erster Mann Friedrich waren geschieden worden und hatten dann - fast zeitgleich - wieder neu geheiratet. Gut, Letzteres war rein zufällig geschehen. So gehörte nun zu Oma Agnes der Opa Hannes und Großvater Friedrich lebte mit Großmutter Margarethe zusammen. Friedrich und Margarethe hatten auch gemeinsame Kinder. Paul, das war mein Onkel und Anne meine Tante. Onkel und Tante nannte ich beide jedoch nie, sie waren doch nur zehn und acht Jahre älter als ich.

Lustig fand ich als Kind immer, dass meine Mutter stets betonte, Paul und Anne wären ihre Halbgeschwister. Lange konnte ich das nicht verstehen, denn sie waren zum einen sehr groß gewachsen und zum anderen waren sie dies im ganzen Stück, also nicht nur halb.

Auch Onkel Siegfried, von dem ich lange annahm, dass er der Sohn von Agnes und Hannes war, war ebenfalls ein halber Bruder meiner Mutter. Siegfried musste ich immer Onkel nennen, er war schließlich schon 16 Jahre alt, als ich im Jahr des Mauerbaus geboren wurde. Und dann gab es noch eine Stiefschwester, also eigentlich waren es einmal zwei. Das konnte ich nun überhaupt nicht mehr verstehen. Halbgeschwister - ehrlich - das war schon komisch, aber nun auch noch Stief… Allerdings hatte ich anfangs auch immer „Schief“ verstanden. Nun, die Stiefschwestern meiner Mutter waren fort. Karla, die älteste Tochter meines Stiefgroßvaters Hannes (so war ja dann wohl seine korrekte Bezeichnung) lebte nicht mehr und Sybille hatte ein Jahr vor dem Mauerbau die DDR verlassen. Ihr war die große Liebe begegnet und der war sie gefolgt bis nach Afrika, nach Algerien. Hannes Kobalds erste Frau, also die Mutter von Karla und Sybille, war kurz nach Kriegsende verstorben. Die Flucht aus Danzig und die Trennung vom geliebten Ehemann hatten zu sehr an ihren Kräften gezehrt.

Ich war übrigens sehr froh, dass ich keine Geschwister hatte. Meine Angst war riesengroß, sie wären möglicherweise dann auch nur halb, vielleicht sogar wirklich nur in Hälften vorhanden, also nur Ober- oder nur Unterkörper oder aber sie wären schief oder stief. Es war schon alles verwirrend.

Der Tag meiner Geburt war ein besonderer - man schrieb den 9. November. Nicht unbedingt, weil es ohnehin schon ein geschichtsträchtiges Datum war und auch Jahre später noch werden sollte, sondern, weil eben ich geboren wurde, das sagten jedenfalls meine Eltern immer. Nun später grübelte ich des Öfteren darüber nach, ob sie es vielleicht nicht doch ironisch gemeint hatten.

 

Als meine Mutter, die Annike, feststellte, dass sie schwanger war, veränderte das das gesamte Leben derer, die später zu meiner Familie gehörten, ganz gewaltig. Gut, die Geburt eines Kindes verändert immer das Leben! Aber meine Mutter hatte sich doch gerade von ihrem Freund, also vom Kindesvater Peter getrennt. Diesen hatte sie Anfang Januar in jenem Jahr beim Tanz kennen gelernt. Anfangs war ja alles nett, war es wirklich süß mit dem jungen Mann vom Dorf. Nach ein paar Wochen jedoch langweilte er sie schon sehr. Peter König war eben irgendwann nicht mehr so toll und niedlich. Und der frischgebackenen Kindergärtnerin waren Knutschen, Kino und Klubhausbesuche eben zu wenig.

Fünf Tage nach der Trennung vom einfallslosen, spießigen Peter König stellte meine erst seit knapp drei Monaten achtzehnjährige zukünftige Mutter Annike Böhm jedenfalls fest, dass sie schwanger war. Außer sich vor Wut und völlig verheult soll sie ins Ledigenwohnheim gerannt sein, in dem Peter König lebte, und diesem dort die Nachricht über die ungewollte Schwangerschaft wie eine Keule an den Kopf geworfen haben. Dann hatten beide, die Kindergärtnerin und der Malergeselle, geheult. Im Gegensatz zu Annike weinte Peter jedoch vor Glück, denn nun sah er wieder eine Chance für sich und seine Liebe. „Dann heiraten wir eben“, schlug er der Annike vor. Nun, das passte eben wieder ganz zu seinem konservativen, spießigen Wesen. Meine Mutter, also meine zukünftige Mutter war erschrocken aufgesprungen und hatte dem auf dem Bett sitzenden Peter zugeschrien: „Nein, niemals! Lieber werf‘ ich mich vor den Zug!“ Dann war sie aus dem Zimmer gestürmt und nach Hause gerannt. Hier hatte sie den Eltern die schreckliche Neuigkeit gebeichtet. Wie erstaunt war die Achtzehnjährige, als diese zu jubeln und zu tanzen begannen. Doch noch bevor Annike ihre Eltern darüber aufklären konnte, dass sie doch den Kindesvater, den Peter, verlassen hatte, da klingelte es auch schon an der Wohnungstür und selbiger stand mit einem Blumenstrauß davor. Agnes, Hannes und Peter lagen sich alsbald glückselig in den Armen. Verzweifelt schaute Annike dem Treiben der drei, die da singend, eigentlich mehr grölend um den Tisch marschierten, zu. Als dann auch noch ihr kleiner Bruder Siegfried, der sie um einen Kopf überragte, die Nachricht erfuhr, da gab es im Hause der Familie Kobald kein Halten mehr. Peter König wiederholte feierlich den Satz: „Dann heiraten wir eben!“ Da wurden die Schnapsreserven aus den Verstecken geholt. Annike und ihr Bruder Siegfried sahen den drei erwachsenen Menschen zu, die nun auf die bevorstehenden Ereignisse immer wieder anstießen. Annike fassungslos, Siegfried neidisch.

Ob Annike es wollte oder nicht, danach fragte niemand mehr. Es war beschlossen, dass die künftigen Eltern heiraten müssen. Anscheinend hatte meine Mutter wohl doch zu große Angst, sich vor den Zug zu werfen. Da war die Hochzeit mit meinem Vater, der sie zu einer Königin machte, wohl doch die bessere Alternative.

Am nächsten Morgen soll mein werdender Vater dann ein Telegramm an seine König-Eltern mit der Mitteilung geschickt haben, dass er heiraten werde und dass ein Kind unterwegs sei. Am darauffolgenden Wochenende, das eigentlich ein Heimfahrtwochenende gewesen wäre, war er nicht wie sonst in sein Heimatdorf gefahren. Ja, hier wurde auch nur immer gemunkelt, dass der König-Großvater, also mein künftiger Großvater, wie ein Wahnsinniger gebrüllt haben und mit einer Axt „bewaffnet“ durch den Kaltlitzer Tannenwald zur Zugstation Wernow gelaufen sein soll, um meinen Erzeuger in Empfang zu nehmen. Tja, aber mein Vater, der war ja nicht da, und da soll der Alte noch mehr getobt haben. Aber, wer weiß, vielleicht sind das alles nur irgendwelche Spinnereien.

Nun, als ich älter und verständiger war, habe ich den Großvater schon verstehen können. Ich meine, seine Wut, nicht unbedingt, dass er mich zum Waisenkind machen wollte - wenn es denn stimmte - bevor ich geboren war. Ja, der Großvater Bernhard hatte doch so viel vor mit seinem Jüngsten. Und dann …, dann schwängert der das erstbeste Mädel und alle König-Träume von einem Sohn, der studieren wird, schwimmen dahin.

 

Mein Vater Peter war das sechste von insgesamt acht Kindern. Die beiden letzten, die Zwillinge waren nur wenige Wochen nach der Geburt verstorben, aber die zählten für den Großvater ohnehin nicht. Über diese Kinder sprach niemand. Ich erfuhr durch Zufall einmal davon und fragte bei der Großmutter nach. Da erzählte mir Oma Meta nach vielem Betteln und Bitten, dass die Russen bei ihrem Durchmarsch durch das Dorf Kaltlitz viele Frauen … Jedenfalls war auch sie nicht verschont geblieben. Alle Versuche, die Schwangerschaft vorzeitig zu beenden, waren fehlgeschlagen. Die ungewollten Kinder, die Zwillinge Herbert und Robert, kamen im Februar des ersten Nachkriegsjahres zur Welt. Großmutter weinte sehr, als sie davon sprach. Und ich war so hin- und hergerissen in meinen Gefühlen. Einerseits hasste ich die russischen Soldaten, die meiner Großmutter das angetan hatten, andererseits … Es waren doch die Befreier Deutschlands und unsere Freunde oder so. Großmutter bat mich, als sie mit ihrer Schilderung der Ereignisse fertig war, darüber zu schweigen. Was mich jedoch viel mehr überraschte, war ihre Bitte, dass ich keinen Hass auf die Männer haben sollte, die ihr und anderen Frauen so viel Leid angetan hatten. Das war merkwürdig! „Wer weiß, meine Kleine“, hatte sie leise geflüstert, „wer weiß, was unsere Soldaten dort getan haben. Wer weiß, wie sie sich versündigt haben!“ Dann hatte sie zum großen Bild des Großvaters, das in der Stube hing, geblickt und sich flüchtig bekreuzigt. Rasch war sie dann aufgestanden und im Schlafzimmer verschwunden. Ich kann es nicht beschwören, aber mir schien, als hätte ich die Worte: „Oh, Bernhard, was hast du nur getan?!“ gehört. Lange weinte und jammerte die Großmutter noch nebenan. Ich aber traute mich nicht zu ihr. Irgendwann, Wochen später habe ich Meta noch einmal darauf angesprochen, um zu erfahren, was er, der Großvater, angerichtet hatte. Erschrocken hatte die Großmutter mich angestarrt, so als würde schon der Beelzebub oder gar der Großvater persönlich hinter mir stehen. Es machte für sie wohl auch keinen Unterschied. Großmutter bekreuzigte sich mehrmals und schwieg. Mir war in dem Moment aber klar geworden, dass es ein Geheimnis um den großen Bernhard König gab, das ich nicht kennen sollte. Ich versprach Großmutter, sie nicht mehr danach zu fragen. Später sollte meine Neugierde dennoch gestillt werden und da wünschte ich, ich hätte es nie erfahren.

Nun, also mein Vater Peter war der Jüngste, das jüngste Königskind. Und er war auch das klügste, so sagte es jedenfalls der Großvater immer. Immerhin hatte der Jüngste im Gegensatz zu seinen anderen Geschwistern die 10. Klasse in der nahen Kreisstadt Bärzow beendet, als Klassenbester sogar. Nach der Lehre in der Bezirksstadt sollte er sein Abitur machen und dann studieren … Ja, der Großvater wollte doch nur das Beste!

 

Nun im August fand die Verlobung meiner Eltern in Kaltlitz statt und im Oktober, nur knapp vier Wochen vor meiner Geburt, wurde in Schwerin geheiratet, und damit war gesichert, dass ich als ein König(s)-Kind zur Welt kommen konnte, als ein eheliches. Schöne Feiern sollen es gewesen sein, mit vielen Gästen, nur eben der Vater meiner Mutter, nur der Friedrich, der durfte nicht dabei sein. Nie war die Familie vollzählig.

Nun, wie schon erwähnt, mein Eintreffen auf dieser Welt war eben etwas Besonderes. Die Dorf-, also die König-Großeltern waren innerhalb eines Jahres zweimal aus ihrer kleinen Dorfwelt in die große Stadt gekommen, also weit gereist. Ich war für sie die erste Enkeltochter und das blieb ich auch. Die fünf Schwestern meines Vaters hatten nur Söhne, insgesamt siebzehn.

Nach der Hochzeit wohnten meine Eltern dann gemeinsam mit Oma Agnes und Opa Hannes in deren kleiner Dreiraum-Wohnung. Wir drei lebten im ehemaligen Kinderzimmer, das Mutter einst mit ihren Schwestern, ihren Stiefschwestern, hatte teilen müssen. An den Wochenenden kam dann auch noch mein Onkel Siegfried, der an der Ostseeküste Fischer lernte. Dann war die Wohnung „gut gefüllt“, so erzählte mir die Mutter mal. Ich kann mich an diese Zeit gar nicht mehr erinnern.

Ein halbes Jahr nach meiner Geburt wurde mein Vater zum Wehrdienst gezogen. Er blieb drei Jahre bei der NVA. Man hatte ihn mit der Aussicht auf einen Studienplatz gelockt. Als er dann wieder zurückkehrte, blieb er auch nur wenige Monate. Vater verließ uns wieder, weil er im September desselben Jahres ein vierjähriges Ingenieurstudium begann. Vater, Mutter, Kind waren wir drei nur in seinen Semesterferien und an den wenigen Heimfahrtwochenenden, die wir gemeinsam verbrachten. Mit und ohne Vater hatte ich eine schöne Zeit, also so richtig vermisste ich ihn nicht.

Ich beendete mein erstes Schuljahr, da war er wieder da und er blieb und sogleich veränderte sich unser ruhiges beschauliches Leben. Vater bestand nämlich darauf, dass wir zu seinen Eltern nach Kaltlitz ziehen. Er hatte in der Kreisstadt Bärzow eine Arbeit in der PGH bekommen und die Mutter sollte die Leitung des Kindergartens der LPG übernehmen. Nun, später kam die Wahrheit ans Licht. Es war nicht mein Vater, der das alles wollte, sondern sein Vater. Mein Vater hatte einfach nicht den Mut gehabt, Großvater Bernhard zu sagen, dass wir doch lieber in Schwerin bleiben wollen. Dort hätte Vater nämlich auch Arbeit gehabt. Unter Tränen packten Mutter und ich unsere wenigen Habseligkeiten und folgten dem Vater. Ich spürte, dass ein wichtiger Lebensabschnitt für mich endete. Ja, es endete so vieles, was mir lieb geworden war.

Ich ahnte, es würde bald auch keine Sonntagsspaziergänge mit Großvater Hannes mehr geben. Dass es eigentlich nie Spaziergänge waren, das spielte keine Rolle. Ich nahm damals sicherlich sowieso an, dass außer dem Großvater und mir niemand wusste, dass wir nach dem Verlassen der Wohnung sogleich zum Frühschoppen gingen. Anfangs, ich war vielleicht fünf Jahre alt, da erschrak ich fürchterlich, als Opa Hannes zu mir sagte: „Komm, Nava, wir gehen spazieren.“ Also Spaziergänge kannte ich nur von den gemeinsamen Unternehmungen mit meinem Vater, und diese Spaziergänge waren sehr lange und sehr langweilig und sehr anstrengend - jedenfalls für mich. Aber ich wollte Großvater Hannes eine Freude machen und so zog ich mich schweren Herzens an, um ihn zu begleiten.

Wie erstaunt war ich, als wir nach kurzer Strecke eine Gaststätte betraten. Hier wurden wir freundlich begrüßt, eine Kapelle spielte einen Tusch. Der dicke Kellner, der zu uns an den Tisch kam, fragte sogleich: „Herr Kobald, wie immer?“ Und Großvater nickte. Aha, dachte ich, der Großvater ist also der Herr Kobald. Bevor der Kellner ging, zeigte er noch auf mich. Wieder nickte Großvater. Da richtete der Mann in dem schwarzen Anzug an mich die Frage, ob ich denn Eis mit Früchten und Sahne haben möchte. Ich sah meinen Herrn Kobald an, der lächelte gütig und nickte. Also blickte ich den Kellner auch nur an und nickte. Endlich verschwand er. Ich schaute Großvater mit großen Augen fragend an. „Was ist?“, kam nach einer ganzen Weile von Großvater. „Ich dachte, wir gehen spazieren.“ Da lachte Hannes Kobald so laut, dass sich alle zu uns umsahen. In dem Moment, als der Kellner zurückkehrte und vor Großvater ein Bier und einen Schnaps stellte und mir einen großen Eisbecher mit einem kleinen bunten Papiersonnenschirm zuschob, sagte Hannes: „Nee, Kleines, ich bin in Russland genug gelaufen.“ Er lachte wieder, der Kellner stimmte mit ein. Ich verstand gar nichts, lachte aber auch mit. Was interessierte mich Russland? Das kannte ich nicht.

Der Großvater bestellte sich noch einmal Getränke. Ich aß genüsslich meinen Eisbecher leer. Als der Herr Ober, wie Opa den Kellner immer ansprach, wieder an unseren Tisch kam und Großvater das dritte Mal Getränke brachte, wurde dieser gebeten, mir einen zweiten Eisbecher zu bringen. Kurze Zeit später stand der dann vor mir. Opa hatte das vierte Bier, den vierten Schnaps. Der Ober zwinkerte mir zu, warum - das wusste ich nicht. Ich fand ihn doof. Zu Opa meinte der Mann nun: „Na, Herr Kobald, da wird ja genug Schweigegeld bezahlt!“ Dann lachte er wieder und verschwand endlich. Großvater beugte sich jetzt über den Tisch und flüsterte mir zu: „Erzählst aber nicht, wie viel wir getrunken haben, nicht wahr!“

Nun hatten wir unser Geheimnis, und ich versprach, ihn nie zu verraten. Wir hatten ja auch nichts getrunken, nur der Opa, ich nicht. Von da an gingen wir an jedem Sonntagvormittag spazieren. Ich liebte diese Spaziergänge sehr. Ich bekam mein Eis - zweimal Getränke für den Großvater bedeuteten immer ein Eis für mich. Ich war selig. Außerdem lernte ich doch so viel von Großvater. Er brachte mir zum Beispiel das Rechnen bei, nämlich beim Geldzählen, und dann erzählte er immer so schöne Geschichten. Das allerschönste an diesen Sonntagvormittagsstunden war jedoch, dass ich mir Musik wünschen durfte, die die Kapelle dann spielte. Großvater bezahlte dann eine Runde für die Musiker und alle waren glücklich. Was eine Runde war, das wusste ich nicht. Es war auch egal. Manchmal ließen mich die Männer sogar mit in ihrer Kapelle spielen. Einer meinte einmal zum Opa, dass ich Talent hätte und der Großvater solle sich darum kümmern. Das tat Hannes Kobald dann auch. Ich bekam eine Triola geschenkt und spielte bald alle Kinderlieder, die in dem dazugehörenden Notenheftchen waren, auswendig. Damit war meine Talentförderung aber auch beendet. Mit unserem Fortzug aus meiner Geburtsstadt war all das plötzlich vorbei.

Nie habe ich den Großvater verraten, das glaubte ich jedenfalls. Großmutter Agnes wollte ja auch nie von mir wissen, was und wie viel der Großvater getrunken hatte. Agnes fragte nur immer, ob ich denn Eis gegessen hätte und wie viel. Wahrheitsgemäß antwortete ich ihr natürlich immer. Das war doch kein Geheimnis! Ich wunderte mich allerdings immer, warum sie nach unserem sonntäglichen Spaziergang so etwas wissen wollte und warum sie dabei immer so schelmisch grinste.

Die Erinnerung an diese Zeit ist auch immer eine Erinnerung an den ersten großen Erfolg von Roy Black. Nun, als unsere Besuche in diesem Tanz-Café begannen, sang er sein Lied „Ganz in Weiß“. Das Lied gefiel mir damals so gut, die Kapelle spielte es oft für mich und Großvater bezahlte den Musikern sehr oft ihre Getränke. Damals beschloss ich, dass ich, wenn ich einmal groß sein würde, in einem weißen Kleid heiraten würde. Traurig stellte ich recht bald fest, dass der Opa Hannes schon mit der Oma verheiratet war. Ihn wollte ich doch heiraten. Und immer noch denke ich, wenn dieses Lied gespielt wird, an Opa Hannes und manchmal an den Sänger.

2. Kapitel

Wir zogen also von den Schweriner zu den Kaltlitzer Großeltern. Im Dachgeschoss, in dem Vater und seine Schwestern früher ihre Kammern hatten, wohnten wir nun. Also eigentlich kann man es nur als hausen bezeichnen. Einzig mein Zimmer wurde einigermaßen hergerichtet, damit war dann Vaters Arbeitseifer scheinbar auch erst einmal erloschen. Mein fertiges Zimmerchen, meine Kammer, versöhnte mich zumindest wieder mit meinem Vater …

Also, am Anfang war es schwer für mich, das Leben auf dem Dorf. Allerdings gewöhnte ich mich schneller, als ich es gedacht hatte, daran. Nur das Leben zusammen mit meinen Eltern, also auch mit Vater … Bisher war er doch immer nur zu Besuch gekommen, bisher hatten Mama und ich alles alleine gemacht, alleine entschieden. Und nun! Nun wollte er, ja nun sollte er mit dazugehören?!

Ich war damals schon ein Jahr Jungpionier, und ich war es gerne, und natürlich kannte ich auch die Gebote der Jungpioniere. So wusste ich eben, dass ein guter Jungpionier nicht nur die Deutsche Demokratische Republik und den Frieden lieben musste, sondern auch die Eltern, die standen ja dazwischen. Also meine Eltern standen nicht zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und dem Frieden, sondern die Liebe zu unseren Eltern stand zwischen den beiden Geboten.

Na und dann waren da auch noch die Großeltern Bernhard und Meta König. Die beiden hatte ich bisher nur selten gesehen. Mutter hatte sich stets geweigert, sie alleine mit mir, ohne Vater, zu besuchen. Mutter mochte vor allem die herrische Art des Großvaters nicht und an Großmutter Meta missfiel ihr die Untertänigkeit. So mussten die beiden alten Dorfleute immer in die für sie „weite Welt“ reisen, um ihre Enkeltochter zu Gesicht zu bekommen. Jedenfalls dachte ich damals tatsächlich, sie wären ohne meine Geburt niemals aus ihrem Dörflein herausgekommen. Ich Dummchen!

 

Mit Beginn der 2. Klasse kam ich nun also in eine Dorfschule, die sich jedoch nicht in Kaltlitz, sondern im Nachbardorf Botelkogen befand. Ich erinnere mich noch gut an den ersten Schultag. In weißen Söckchen und einem hellblauen Kleidchen mit meinem blauen Pioniertuch musste ich vor die Klasse treten, meinen Namen nennen und erzählen, wo ich herkam und wo ich nun wohnte. Da stand ich also vor den vielen fremden Jungen und Mädchen, spürte deren neugierige und auch verwunderte Blicke, spürte mein Anderssein - ich war ein Stadtkind. Nie wieder trug ich später zur Schule ein Kleid und schon gar keine weißen Söckchen. Kaum hatte ich meinen Namen „Navarana“ genannt, kicherten einige in der Klasse. Am lautesten lachte ein Junge namens Richard. Sein Gesicht prägte ich mir gut ein. Das war allerdings auch nicht schwer. Richard sah aus wie …, na eben wie die Kinder im Film „Die Heiden von Kummerow“. Der Richard jedenfalls hatte kurze strohblonde Haare, Sommersprossen im Gesicht und trug Sachen, die schon uralt aussahen. Für mich sah er aus wie ein Dörfler. Genauso stellte ich mir als Stadtkind, wie ich es noch war, eben einen Jungen vom Lande vor. Richard war ein Dörflerkind. Mutter nannte auch alle Einwohner von Kaltlitz, ach alle, die außerhalb von Schwerin lebten, „Dörfler“. Ich tat es ihr nach, aber nur am Anfang, denn später gehörte ich dazu, war ich selbst ein Dorfkind, und ich schwöre, ich war es sehr gerne.

Unsere Lehrerin tätschelte mir die Wange, ermahnte die Mitschüler, nicht über meinen Namen zu lachen und schickte mich zurück auf meinen Platz. In der großen Hofpause war ich dann plötzlich von einer Gruppe Jungen umringt. Den Richard erkannte ich sofort wieder. Mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand wies er auf mich, während er sich zu einem hinter ihm stehenden größeren Jungen umdrehte und fortwährend gackerte: „Das ist die Neue. Die ist aus der Stadt und heißt Rhabarber.“ Er konnte kaum noch Luft kriegen, so sehr lachte er. Sein Finger kam ebenso wie er selbst immer näher an mich heran. Der Kreis, den die Gruppe um mich herum machte, wurde immer kleiner. Es wurde irgendwie bedrohlich. Richard und viele der Jungen, ja, es waren nur Jungen, die da um mich herumstanden, lachten, aber einige sahen auch nicht unbedingt fröhlich, sondern eher böse aus, vor allem der, zu dem Richard bis vor wenigen Augenblicken gesehen hatte.

Als Richards Finger ganz dicht vor meinem Gesicht war, biss ich hinein, duckte mich sofort und kroch blitzschnell zwischen den Jungenbeinen hindurch und rannte auf die Mädchentoilette. Gut erinnere ich mich, wie ich darauf wartete, dass die Jungen diesen Ort stürmten. Nichts geschah. Es klingelte, die Hofpause war zu Ende. Es klingelte erneut. Die nächste Stunde begann. Vorsichtig öffnete ich die Tür und schielte vorsorglich heraus. Niemand war da. Also raste ich zu dem Raum zurück, in dem ich meine Klasse vermutete. Das war ein Irrtum. Ich stand in dem Klassenzimmer, in dem auch der große Junge war, den Richard angesprochen hatte. Noch bevor die Lehrerin oder ich etwas sagen konnten, sprang dieser hoch und erklärte: „Das ist die Neue aus der Klasse meines Bruders. Ich bringe sie zu ihrem Raum.“ Mit dem letzten Wort war er schon bei mir. Die Lehrerin schwieg, nickte aber. Ich hatte das Gefühl, als wäre sie erstaunt über das Verhalten des Jungen. Der Große schob mich aus dem Raum über den Flur. Kurz bevor wir um die Ecke bogen, hörten wir die Stimme seiner Lehrerin: „Theo, du kommst aber sofort wieder zurück!“ Aha, dachte ich gerade noch bei mir, Theo heißt der also. Plötzlich drehte mir dieser Bengel den rechten Arm nach hinten. „Du bissige Rhabarberschlam…“, zischte er mir ins Ohr, doch bevor er weiterkam, trat ich ihm mit voller Wucht auf seinen Fuß. Augenblicklich ließ er mich los. Ich drehte mich zu Theo um, sah in sein schmerzverzerrtes Gesicht und wusste in dem Augenblick, dass wir beide nie Freunde werden würden. „Fass mich ja nicht wieder an!“, rief ich ihm im Weglaufen noch zu.

Ich kam gerade rechtzeitig in meinem Klassenraum, bevor er mich erreicht hatte.

Ohne zu klopfen, riss ich die Tür auf, schlüpfte hinein und zog die Tür sogleich wieder zu. Überrascht und verwundert blickte mich nun meine Lehrerin Fräulein Holle an. Auf ihre Frage, warum ich denn zu spät käme, antwortete ich, dass ich mich verlaufen hätte, nachdem ich auf der Toilette gewesen sei. Das war nicht geschwindelt! Fräulein Holle streichelte mir das zweite Mal an diesem Tag über meinen Kopf und bat mich, mich schnell zu setzen, damit sie den Unterricht fortsetzen könne. Auf dem Weg zu meinem Platz steckte ich Richard die Zunge aus und er drohte mir heimlich unter der Bank mit der Faust. Der zweite, der nicht mein Freund wird, dachte ich, dann setzte ich mich und hörte von nun an aufmerksam zu.

Die Stunde war beendet, Fräulein Holle hatte gerade den Raum verlassen, da stand Richard schon hinter mir. Er zog an meinen Zöpfen und brüllte ganz laut, dass er mich fertig machen würde, weil ich ihn gebissen habe. Einige Mädchen kreischten, die hinter mir sitzende Manuela zog Richard an den Armen von mir weg, dadurch riss er immer fester an meinen Haaren. Am liebsten hätte ich geheult, so weh tat es. Aber statt zu flennen, schob ich nun meinen Stuhl nach hinten. Bums, der kippte laut um.

Erschrocken ließ mich Richard frei. Dass das ein Fehler war, bemerkte er erst, als ich ihm meine kleine Faust in die Magenkuhle gejagt hatte. Vor Schmerz krümmte er sich. Gerade wollte er sich auf mich stürzen, da ließ er urplötzlich ab von seinem Vorhaben. Statt mich jedoch darüber zu wundern, stellte ich meinen Stuhl wieder auf und begann meine Haare wieder ordentlich zu machen. Erst als Fräulein Holle, die unerwartet wieder im Raum stand, sich vorwurfsvoll an Richard wandte und ihm sagte, dass sie gehofft hatte, dass er in diesem Schuljahr endlich ein ordentlicher Pionier werden würde, bemerkte ich sie. Unschuldig setzte ich mich. In dieser Stunde bewarf mich Richard fortwährend mit Papierkügelchen. Ich ignorierte ihn. Meine Tischnachbarin Katrin schob mir einen Zettel zu, auf dem geschrieben stand: Richard ist böse. Sein Bruder Theo auch. Pass auf dich auf! Und ich passte fortan gut auf, sehr gut, aber es half nicht immer.

 

Mein Schulanfang in der neuen Schule war wirklich erst der Anfang. Nach gut vierzehn Tagen war Richards Finger wieder verheilt und auch Theo humpelte nicht mehr. Während der vergangenen Tage hatten sie nur immer aus der Ferne böse Blicke zu mir geschickt. Die waren mir egal. Ich ignorierte sie - die Jungen und ihre Blicke. Dann in einer Hofpause passierte es. Gerade hatte ich mit den Mädchen meiner Klasse, wir waren nur acht, die Brotdosen geöffnet, da standen die meisten Jungen unserer 2a um uns herum, begleitet von einigen größeren. Richard stand vor mir, in sicherer Entfernung und beide Hände tief in seine Hosentaschen vergraben. Er grinste noch blöder als sonst - anders konnte er, glaube ich auch gar nicht, und brüllte mich an: „Na, Rhabarber, willste 'n paar aufs Maul?“

Blöde Frage, natürlich wollte ich nicht, deshalb antwortete ich gar nicht erst. Einige Mädchen waren zusammengezuckt und auch ein wenig angstvoll von mir weggerückt. Dennoch blieben alle in Reichweite, keine wollte verpassen, was nun geschehen würde. Ich ging einen Schritt auf Richard zu. Damit hatte dieser nicht gerechnet. Erschrocken machte er einen Schritt zurück, dabei trat er seinem hinter ihm stehenden Bruder Theo auf den gerade verheilten Fuß. Dafür bekam er einen Schlag auf den Hinterkopf und die Bemerkung: „Pass doch auf, du Idiot!“ dazu. Ich lachte. Machte noch einen Schritt auf Richard zu. Der hielt nun tapfer aus, wahrscheinlich hatte er zu viel Angst vor Theo. Laut sagte ich nun in die Runde: „Ich heiße Navarana, du Idiot.“

Jetzt johlten und brüllten die Jungen vor Lachen. „Was für ein Scheißname!“, kam aus Theos Mund, der inzwischen gefährlich nahe vor mir stand. „Wer heißt denn so?“, wollte er jetzt hämisch grinsend von mir wissen und ich entgegnete dem Jungen: „Jemand, dessen Großvater an Polarexpeditionen teilgenommen hat.“ Das war natürlich gelogen. Jedenfalls wusste ich in diesem Augenblick nicht, wie nahe ich an der Wahrheit dran war. Meine Antwort machte Eindruck auf alle Mitschüler und Mitschülerinnen, die mich umringten.

Es klingelte, ich drehte mich um, um in das Schulgebäude zu gehen, der Kreis der anderen öffnete sich und ich durchschritt stolz denselben. Kurz vor der Schultür rief ich den anderen zu: „Es reicht aber, wenn ihr mich ganz einfach NAVA nennt.“ Ich hatte mich zu früh gefreut. Der Lehrer, der bis eben noch an der Tür gestanden und Aufsicht geführt hatte, war längst im Schulinneren verschwunden, da hielt mich Theo von hinten fest. „Du lügst doch!“

Gerade wollte er wieder meinen Arm hinter meinem Rücken nach oben drehen, da hatte ich ihn blitzschnell gegriffen und auf den Schulhofboden befördert. Er lag im Staub, funkelte mich böse, feindselig an. „Mach das nicht noch einmal!“, schrie ich ihn an, „Ich kann Judo!“

Theo hatte sich hochgerappelt, rief Richard zu sich und wollte sich nun gemeinsam mit seinem Bruder auf mich stürzen, da stand Fräulein Holle, unsere Klassenlehrerin, vor uns. Noch bevor sie mit den Jungen schimpfen konnte, heulte der etwa zehnjährige Theo plötzlich los. „Die da“, nun zeigte er auf mich, „die hat mich gerade eben so doll geschubst, dass ich hingefallen bin.“ Tränen kullerten ihm über die Wangen, die Nase lief, er rieb sich seine Schulter und Theo sah in der Tat wirklich so bemitleidenswert aus, dass Fräulein Holle ihm augenscheinlich glaubte.

„Navarana, ist das wahr?“, wandte sie sich an mich. Doch bevor ich ihr die Wahrheit sagen konnte, klingelte es. In dem Augenblick schob Richard mich beiseite und erklärte Fräulein Holle, dass er nur bestätigen könne, was sein Bruder gerade gesagt hatte. Unsere Lehrerin schüttelte ungläubig mit dem Kopf, schickte uns drei, jedoch ohne weitere Worte mit uns zu wechseln, in den Unterricht. Zum Ende der letzten Unterrichtsstunde ermahnte Fräulein Holle alle Schüler, Probleme nicht mit Gewalt zu lösen. Alle schwiegen, die meisten Mädchen sahen zu Richard. Ich nicht. Mit festem Blick schaute ich Fräulein Holle an und wollte sie gerade etwas fragen. Vielleicht ahnte sie, dass ich wissen wollte, ob man sich denn nicht wehren dürfe. Fräulein Holle schickte mir einen strengen Blick zu und sagte an alle gerichtet: „Pioniere schlagen sich nicht!“ Es klingelte und schon war sie aus dem Raum.

Richard lachte und meinte dann: „Dich kriegen wir auch noch klein!“ Ich wusste nicht, wen er und sein blöder Bruder schon kleingekriegt hatten, aber ich nahm mir fest vor, dass ich mich von denen nicht unterdrücken lassen wollte. Gerade, weil ich Pionier war.

Ich war wachsam, aber es geschah nichts. Nun ja, nichts kann man nun auch nicht sagen! Ständig verschwand irgendetwas von meinen Sachen, was meistens nach einigen Tagen wieder da war, nicht immer, aber oft. Manchmal war mein frischgewaschener Anorak, der wie auch die Sachen der anderen Mitschüler auf dem Flur hing, dreckig, sehr dreckig. Das brachte mir Ärger mit meiner Mutter ein, aber ich jammerte nicht und ich petzte auch nicht. Ich behielt Richard und seinen Bruder und die anderen Jungen ihrer Clique im Auge.

 

Die Zeit plätscherte dahin. Inzwischen ging ich bereits in die vierte Klasse. Leider war nun auch Theo bei uns. Er war zwar zwei Jahre älter als wir anderen, aber er war inzwischen auch schon zweimal sitzengeblieben. Ich fand, er war nicht nur saudoof, er war auch ein fürchterlich ungezogener Bengel. Inzwischen tauchten auch die meisten Dinge, die mir abhanden kamen, nicht mehr auf, jedenfalls nicht bei mir. Auch, wenn ich überall ganz deutlich meinen Namen draufschrieb oder hineinritzte, alles Mögliche verschwand. Andere, meist ältere Schüler besaßen plötzlich meine Füllhalter, Radiergummis und so weiter. Einmal hatte ich einen Jungen aus der sechsten Klasse angesprochen, woher er meinen Anspitzer hätte. Er schob mich beiseite, zeigte mir einen Vogel und meinte nur, dass er den gekauft hätte und ich solle ihn gefälligst in Ruhe lassen. Ich beobachtete, dass er jetzt schnurstracks auf Theo zuging, den etwas fragte und dabei auf mich zeigte. Theo zeigte mir einen Vogel und dem Jungen auch. Ich wusste nun also, wer der Dieb war, aber ich behielt es dennoch für mich. Wie die anderen Mitschüler hatte auch ich längst bemerkt, dass sich nicht einmal die Lehrer oder unsere Pionierleiterin trauten, Theo etwas zu sagen, und Elternbesuche … Na, da wollte sowieso niemand hin. Es war dort dreckig, richtig dreckig. Aber arbeiten konnten die Eltern von Theo und Richard. Die rackerten bis zum Umfallen, waren fleißige Leute, aber gegen ihre eigenen Söhne machtlos. Katrin hatte einmal erzählt, ihr Bruder hätte sogar beobachtet, dass der Theo seinen eigenen Vater geschlagen hatte, weil der ihm kein Geld geben wollte.

3. Kapitel

Ich hatte mich auf dem Dorf Kaltlitz eingelebt, ja, ich fühlte mich inzwischen hier so richtig zu Hause. Ich hatte viel mehr Freiheiten, als ich sie vermutlich in der großen Stadt je gehabt hätte. Mutter war von früh bis spät im Kindergarten und wenn sie zwischendurch mal nach Hause kam, dann nur, um sich um ihre geliebten Schäferhunde zu kümmern. Vater, der leitete inzwischen die PGH. Er war anscheinend unersetzlich und stets im Dienste seiner Maler-Genossenschaft im Einsatz. Oft war er sogar an den Wochenenden unterwegs. Die Arbeit in einer Feierabendbrigade brachte viel Geld, so erklärte er es mir einmal. Wo das viele Geld blieb, dass er und auch Mutter verdienten, das wusste ich jedoch nicht. Unsere Dachgeschosswohnung war noch immer ein Provisorium. Einzig meine Kammer war schön.

Früher hatte der Vater sich diese mit seinen Schwestern geteilt, später gehörte sie ihm alleine. Für seine fünf Töchter hatte Bernhard König dann nebenan ein Zimmerchen ausbauen lassen. Das war nicht größer als das seines Sohnes, aber der Junge sollte doch nicht mit den Mädels … Heute war aus dem ehemaligen Mädchenzimmer eine Rumpelkammer geworden, in der ich gerne heimlich herumstöberte und dabei viele kleine Schätze fand. Das Schlafzimmer der Eltern auf der anderen Seite des Dachgeschosses glich einer Baustelle mit Ehebett. Der Raum davor wurde von den Eltern schmeichelnderweise Wohnstube genannt. Ich fand, es war ein Lagerraum für Gipsplatten, Tapeten, Farben und Kleister mit einem Fernseher und drei Stühlen. Wollte ich jedoch fernsehen, ging ich zu den Großeltern ins Erdgeschoss. Ansonsten saß man bei uns sowieso die meiste Zeit unten im Esszimmer.

Es war Oktober, die letzte Schulstunde vor den Herbstferien war gerade vorbei. Auf meinem neuen Fahrrad radelte ich meinem Dörfchen entgegen. Ich war schon voller Freude, denn die Mutter wollte mich nach Feierabend nach Wernow zur Bahnstation bringen, damit ich bei Oma und Opa Kobald in Schwerin die Ferien verbringen und auch endlich wieder meinen geliebten Onkel Siegfried sehen könnte. Die Hälfte der Strecke hatte ich schon hinter mir, da hörte ich in der Ferne Schreie. Ich erkannte, dass diese von Richard kamen. Einen Augenblick blieb ich stehen, dann wollte ich weiterfahren, doch die Schreie, die vom Fohlenteich kamen, klangen so angsterfüllt. Ich bekam richtig eine Gänsehaut. Dann eine weitere Stimme. In Ordnung dachte ich, nun kannst du beruhigt nach Hause radeln. Theo und Richard streiten sich mal wieder. Gerade hatte ich ein paar Meter geschafft, da hörte ich, wie Theo laut grölend mit seinem Rad angerast kam. Rasch, noch bevor er mich bemerkt hatte, sprang ich mitsamt meinem Rad in das Gebüsch. Warum, das konnte ich mir zwar im Moment nicht so genau erklären, das war aber auch nicht nötig. Einem Menschen wie Theo wollte man einfach nicht begegnen und schon gar nicht alleine. Plötzlich blieb er genau vor meinem Versteck stehen und mir blieb fast das Herz stehen. Ich glaube, ich hörte sogar auf zu atmen. Theo schrie in Richtung Teich: „Verrecke, du Arsch!“ Endlich stieg er wieder auf und setzte seine wilde Fahrt fort.

Nun überlegte ich, ob ich nach Richard sehen oder nach Hause fahren sollte. Als jedoch erneut Hilferufe an mein Ohr drangen, nun schon kaum noch wahrnehmbar und so voller Angst, da sprang ich aus meinem Versteck und sauste zum Fohlenteich. Schon von weitem erkannte ich Richard. Dann war er plötzlich verschwunden. Ich beeilte mich noch mehr, um schnell ans Ufer zu kommen. Ich behielt die Stelle im Auge, an der ich Richard immer mal wieder auftauchen sah. Rasch zog ich meine Schuhe und meine Jacke aus, dann sprang ich in das eiskalte Wasser. Wie es mir gelungen war, den Mitschüler an Land zu ziehen, das weiß ich nicht mehr. Richard lag dann auf dem Grasstück zwischen Bäumen und Ufer, langsam kam er wieder zu sich. Angstvoll sah er mich an. „Er ist weg“, sagte ich beruhigend. Da konnte Richard ein wenig lächeln. Hilflos und verloren wirkte dieser Junge, der doch immer wieder versuchte, mich und andere Mitschüler zu schikanieren.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, ich fror schon sehr, da teilte ich ihm mit: „Ich fahre jetzt nach Hause.“ Richard nickte. Als ich schon fast außer Sichtweite war, hörte ich ihn rufen, dass ich warten solle. Ungern tat ich es. Er hatte mich schnell erreicht. Nun standen wir uns gegenüber, beide frierend. Da hielt er mir seine Hand hin und sagte ganz leise, so als hätte er wahnsinnige Angst, es könnte ihn noch jemand hören: „Danke, Nava. Du hast mir das Leben gerettet. Das vergesse ich dir nie in meinem Leben!“ Ich nickte und verschwand. Bevor ich den Feldweg nach Kaltlitz erreicht hatte und abbog, schrie er mir noch nach: „Ehrenwort! Wenn du mich brauchst, dann werde ich da sein.“ Ich drehte mich nicht mehr um.

Wie eine Diebin schlich ich ins Haus. Rasch zog ich meine nassen Sachen aus, trocknete mich ab. Nun wollte ich mir neue Wäsche aus dem Schrank nehmen, Aber, was war das? Es lag keine Hose mehr in meinem Fach. Schnell schlüpfte ich in Hemd und Schlüpfer, zog Strümpfe und Pullover an und ging hinunter in die Waschküche, um zu sehen, ob ich dort eine Hose finden würde. Nichts. Dann wieder nach oben. Weder im Schlafzimmer der Eltern noch in der Kammer neben der Wohnstube fand ich, was ich so dringend brauchte. Dann endlich fiel mir meine Trainingshose ein, die noch im Sportbeutel lag. Glücklich, endlich trocken angezogen zu sein, ging ich erneut hinunter. Die nassen Sachen hängte ich auf die Leine in der Waschküche.

Auf dem Kohleherd in der Küche stand die Kanne mit warmem Muckefuck. Ich goss mir eine Tasse voll, setzte mich an den großen Tisch im Esszimmer und griff nach einem Stück Kuchen, das schon für mich bereitgestellt war. Langsam kam ich nun zur Ruhe und zu normaler Körpertemperatur. Ich dachte an das am Teich Erlebte. Ich hatte gerade meinem Feind Richard das Leben gerettet! Ohne dass Richard und ich darüber gesprochen hatten, war mir irgendwie klar, dass wir über das Geschehene schweigen müssten. Oder sollte ich doch? Nein, wahrscheinlich würde Theo ihn dann wirklich töten. Das wollte ich nicht. Außerdem, es würde uns doch sowieso niemand helfen, sie alle hatten doch auch Angst vor Theo.

Ich holte mir gerade ein weiteres Stück Kuchen aus der Speisekammer, da stand Mutter plötzlich in der Küche. Wütend sah sie aus. In der linken Hand schwenkte sie meine nasse Hose. „Nava, kannst du mir mal sagen, warum deine Hose so nass ist?“ Ohne nachzudenken, log ich: „Ich bin ausgerutscht und konnte nicht mehr bremsen. Da bin ich in eine Pfütze …“ Batsch! Das hatte gesessen. Ich rieb mir die Wange, aber ich schwieg und vor allem heulte ich nicht. „Geh jetzt nach oben und komme ja nicht mehr runter“, schrie mich die Mutter an. Ich wollte mich schon umdrehen, um ihrer Aufforderung zu folgen, da blieb ich stehen und fragte, wann wir denn fahren würden. Batsch! Die zweite Ohrfeige. „Denkst du, ich kann mir Hosen aus den Rippen schneiden?“ „Aber, ich will doch zu Oma und Opa …“ Wirsch unterbrach sie mich: „Papperlapapp, ohne Hose kannst du ja wohl nicht fahren.“

Jetzt heulte ich doch wie eine Verrückte, drehte mich um und lief wütend hinauf in meine Kammer. Voller Wucht knallte ich sämtliche Türen. Einen Augenblick später herrschte eine gespenstische Ruhe im Haus. Doch plötzlich waren Stimmen von Erwachsenen zu hören, die miteinander stritten. Leise schlich ich zur Treppentür, öffnete sie vorsichtig und lauschte nach unten. „Ihr solltet euch schämen, dass euer einziges Kind nur eine einzige Hose besitzt“, hörte ich die Großmutter schimpfen. Noch bevor die Mutter darauf reagieren konnte, legte Meta noch einmal nach: „Du bist die Tochter eines Schneidermeisters, und dein Kind darf nicht verreisen, weil es keine Hose ...“ „Was ist denn hier für ein Geschrei?“, hörte ich nun den Vater, der gerade gekommen war, fragen. „Mein Gott, wenn das die Leute erfahren …“, jammerte Großmutter Meta noch, bevor sie zur Poststube ging, in der gerade das Telefon geläutet hatte.

Nun konnte ich nichts mehr hören, die Eltern flüsterten miteinander. Ich ging enttäuscht zurück in meine Kammer, sah auf meinen Wecker. Gerade in diesem Augenblick fuhr der Zug aus Wernow los, und er fuhr ohne mich!

Heulend warf ich mich auf mein Bett. Es war schon dunkel, da kam der Vater in mein Zimmer. Ich lag bäuchlings auf meinem Bett, den Kopf zur Wand gedreht. „Mäuschen, schläfst du schon oder willst du jetzt doch noch nach Schwerin?“, fragte er leise flüsternd. Laut „Jaaaa!“ schreiend sprang ich hoch, rannte zur Tür auf meinen Vater zu und umarmte ihn dankbar. Zwei Stunden später war ich glücklich bei den Großeltern in Schwerin angekommen. Vor der Abreise drückte mir Mutter noch Geld in die Hand, damit ich mit der Oma Agnes eine neue Hose kaufen könnte. Dann nahm sie mich in den Arm und sagte zum Abschied, dass es ihr leid täte. Ich fragte allerdings nicht, was. Es war mir im Augenblick auch egal, ob sie die Ohrfeigen oder die fehlende Hose oder sonst etwas bedauerte. Ich fuhr nach Schwerin und nur das zählte. An der Tür bekam ich auch von Oma Meta noch einen Zwanzigmarkschein. Augenzwinkernd sagte sie: „Kauf dir was Schönes zum Anziehen oder so.“ Ich war mehr für „oder so“. Und „oder so“ bedeutete für mich, das Geld zu sparen. Auch das Geld von Mutti kam in meine Spardose. Opa Hannes verfügte es so.

4. Kapitel

Meine Rettungstat vom Oktober veränderte mein Leben sehr. Nur eine Hose zu besitzen, wurde für mich zum Symbol von Armut und in Armut leben, das wollte ich nicht. Kinder in Afrika mochten ja vielleicht arm sein, dachte ich damals, aber ich bin ein Jungpionier und lebe im Sozialismus. Ich durfte, ich konnte doch nicht arm sein!

Seit Beginn der vierten Klasse brauchte ich nicht mehr in den Schulhort. Kurz vor meinem zehnten Geburtstag machte ich mich nach dem Unterricht mit einem Plan von Botelkogen statt nach Kaltlitz auf den Weg in die Kreisstadt. Die fünf Kilometer würde ich schon zu Fuß schaffen und zurück würde ich mit dem Vater fahren, hatte ich mir gedacht.

Es war ein regnerischer Novembertag, aber das machte mir nichts aus. Die Anorakkapuze hatte ich mir tief ins Gesicht gezogen, so störten mich Regen und Wind kaum. Allerdings sah ich nicht mehr sehr viel, ich hatte nur noch ein kleines Guckloch gelassen. Auf der linken Straßenseite, ganz so wie ich es von „Clown Ferdinand“ und seinem Papageien von der Schallplatte gelernt hatte, marschierte ich durch dieses Schietwetter die Chaussee entlang. Ich war schon gut vorangekommen, da hupte neben mir ein Auto. Erschrocken sah ich auf und dann zur Seite. Fräulein Holle kurbelte die Scheibe auf der Fahrerseite ihres Trabanten herunter und wollte wissen, ob ich mich verlaufen hätte. „Nein“, antwortete ich und teilte ihr nun mit, dass ich meinen Großvater, den Schneidermeister Böhm besuchen gehe. „Komm, Navarana, steig‘ ein! Ich muss auch in die Stadt.“

Glücklich über diese Mitfahrgelegenheit stieg ich ein. Unterwegs fragte ich sie, wo sie denn hinmüsse. Ich wusste doch, dass sie in Wernow wohnte. Nach kurzem Überlegen erklärte Fräulein Holle, dass sie zur Weiterbildung müsse. „Sie sind doch schon so klug“, entgegnete ich ihr daraufhin. Sie lächelte irgendwie komisch, dann antwortete sie, dass man ja nie genug lernen könne. Nun war ich aber neugierig geworden und wollte genau wissen, was sie denn lernen müsse. Ihre Antwort lautete: „Ich muss etwas über Stellungen lernen.“ Sie lachte herzhaft. Kichernd fuhr sie fort: „Etwas über die Stellung der Intelligenz zu anderen Werktätigen.“ Ich verstand nicht, warum sie das so lustig fand, aber nun hatte ich schon mein Ziel erreicht und stieg, nachdem ich mich höflich bedankt hatte, aus. Ich grübelte noch etwas über das gerade Gehörte, als ich jedoch in Großvaters Schneiderwerkstatt trat, waren Fräulein Holle und ihre Stellungs-Lehre längst vergessen.