Impressum

Wolf Spillner

Gänse überm Reiherberg

 

ISBN 978-3-95655-342-4 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1977 bei
Der Kinderbuchverlag Berlin

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

 

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1. Kapitel

Man kann recht haben, und man kann sich irren.

Es kommt wohl darauf an, wie der Winter war. Plötzlich, da glaubt man: Dies ist der erste richtige Frühlingstag! Manchmal erlebt man das schon im Februar, manchmal im März. Und wenn wir Pech haben, wird es April darüber. Nicht nur Sonne ist dabei wichtig. Auch wie der Wind geht, und wie die Vögel schreien, und wie der Acker riecht.

So wie heute!

Die Erde ist schon weich und warm. Wenn ich mit dem Zeh im Maulwurfshaufen bohre, spüre ich, wie sie krümelt. Meine Sandalen habe ich längst ausgezogen. Die Socken auch. Mutter dürfte das ja nicht sehen! „Knuuuut - denk an deine Krankheit! Es ist noch viel zu kalt!“

Meine Krankheit!

Die gibt es nicht, und die gab es nicht. Fieber ist keine Krankheit, hat jeder mal! Wenn es eine Krankheit gab, dann hieß sie Emma.

Emma mit dem Ring aus Alu. Mit der Nummer 17982.

Ich denke jetzt nicht an diese Krankheit. Mir fällt Tante Guste ein hier auf der Koppel am Reiherberg, unter dem blauen Himmel.

Tante Guste, die eigentlich meine Großtante ist, geht immer in dunklen Kleidern. So eine schöne, stille Oma ist das. Wie ein kleiner, ein bisschen welker Apfel sieht sie aus. Mit weißen Haaren. Sie verkauft Bier und hat Sprüche drauf. Solche wie diesen: Der Mensch bekommt alle sieben Jahre eine neue Haut!

So was sagt sie, und so denkt sie. Aber sie verlangt nicht, dass andere Leute auch so denken. Sie sagt das nebenbei und vor sich hin, wenn sie Bier verkauft, und manchmal sieht sie einen an dabei mit Augen, die ganz hell sind, wie Wasser. Sogar in ihrer Stube sind sie hell, in dieser Bierstube, die dunkel ist vom Nussbaum vor dem Fenster. Jetzt, im Frühjahr, kommt sie noch aus mit Bier und mit Brause. Aber im Sommer reicht es nie, da muss sie zwei, drei Kästen für Sonntag übersparen. In der Woche fahren die Jungen nach Robitz, wo wir auch zur Schule gehen, und holen Bier für Väter und große Brüder. Aus dem Landwarenhaus. Aber sonntags ist da zu, und dann ist es gut, wenn Tante Guste ein paar Kästen beiseitegestellt hat.

Alle sieben Jahre hat der Mensch seine neue Haut, und Tante Guste meint nicht die von außen rum, Epidermis oder so - ihr Pastor würde wohl Seele sagen oder was weiß ich. Der Mensch verändert sich. Also nichts mit Häutung alle sieben Jahre. Dann hätte ich mich auch zu früh gehäutet, voriges Jahr schon. Aber wann eigentlich?

Ich kann nachdenken, soviel ich will, genau kriege ich das nicht raus. Eins kam zum anderen - schrumm! - schon ging’s los mit der anderen Haut, und gemerkt habe ich das erst ein Jahr später.

Ich denke also doch nicht an Tante Guste, sondern an Emma und daran, wie und wann das losging.

 

Es war so ein Wetter wie jetzt und warm, dass die Rotfedern schon bissen. Damals war ich ja noch ein großer Angler, Kalle auch.

An diesem Tag wollten wir auf Rotfedern stippen. Aber ich hatte noch viel Mathe zu machen, und ich bin in Mathe keine Leuchte.

Ich saß in der Veranda und brütete über meinem Heft. Russisch hatte ich fertig. Das war leicht. Man muss sich warmlaufen für die schwierigen Sachen. Doch ich kam nicht recht in Gang. Das lag an den Schwalben. Sie wollten unbedingt ihr Nest in unserer Veranda bauen. Schwalben sind schön. Wir haben immer welche im Stall. Doch diese irren Schwalben, das waren wohl neue.

Wenn das Wetter schön ist, lassen wir die Verandatür den ganzen Tag offen. Weil draußen alles so gut riecht. Der Duft vom Garten und von den Koppeln zieht mit der Wärme in die Zimmer. Durch die offene Tür kamen die Schwalben rein, brachten im Schnabel Erdklumpen aus der Pfütze, die vom letzten Regen noch auf dem Weg stand, und flogen damit auf die Gardinenleiste in der Ecke. Kleine Halme brachten sie auch. Oben klebten sie alles nach und nach zusammen. Das hatten sie am Tag vorher schon gemacht.

Als Vater von der Versammlung gekommen war, in der sie den Viehauftrieb besprochen hatten, der durch das gute Wetter eine Woche früher losgehen sollte als geplant, hatte er den Kopf geschüttelt. „Das geht denn ja woll doch nicht!“ Dann hatte er Kehrschaufel und Handfeger aus der Ofenecke genommen und den feuchten Nestbeginn von der Gardinenleiste gefegt und die Verandatür laut und sehr deutlich zugemacht. Aber am Morgen wurde es wieder warm, und Mutter ließ die Verandatür natürlich offen. Die Schwalben waren gekommen und bauten weiter. Als ich mit Russisch fertig war, hatte die Schwalben schon so viel geschafft wie am Vortag. Da saß ich nun und überlegte. Man müsste einen Dreh finden.

Was die Schwalben da machten, war natürlich Quatsch. Immer war kein schönes Wetter.

Ich stand auf und sah mir die Verandatür an. Oben hatte sie eine Reihe kleiner Scheiben mit buntem Glas. Stellmacher Werner aus Dickhusen hatte was Besonderes machen wollen. Ich wusste, die gefielen Mutter sowieso nicht. Wenn man nun eine der Scheiben rausnehmen würde? Das wäre ein Anfang, und die Schwalben könnten rein und raus, wie sie wollten.

Aber dann dachte ich an Vaters Gesicht. Schwalben gehören in den Stall! Hat er auch recht mit! Wenn sie sich erschrecken, kacken sie beim Fliegen alles voll! Ist nicht schön, Vogeldreck auf dem Tisch und den Stühlen. Und im Stall ist Platz genug.

Aber im Stall war das andere Schwalbenpaar. Vielleicht vertrugen sie sich nicht miteinander?

Ein Problem. Darüber konnte ich die Matheaufgaben glatt vergessen. Aber das Heft lag auf dem Tisch, und ich setzte mich wieder hin.

An der Fensterscheibe spazierte eine Fliege. Oben am Rahmen brummte sie wild und rutschte runter. Sie war ziemlich ausdauernd. Wie die Schwalben. Sie kroch wieder nach oben! Ich nahm meinen Filzstift und hielt ihr den vor. Die Fliege kletterte vorsichtig auf den glatten Stift. Ich hielt ihn ganz still, und die Fliege putzte sich mit den Vorderbeinen die roten Augen. Ich stand auf, ganz langsam. Ich wollte die Fliege zur Tür tragen. Nur so. Mal probieren, ob ich das schaffte. Man darf dabei kein bisschen zittern, sonst haut sie ab.

Ich schaffte es natürlich nicht. In die Verandatür fiel ein Schatten, ich erschrak, und die Fliege burrste los. Sie sauste zur Tür raus und genau einem Mann ins Gesicht, der hereinkam.

Er war schon ziemlich braungebrannt und hatte wenig Haare. Die waren blond und lockig und standen um die rotbraune Kopfplatte wie eine Hecke. Er grinste ein bisschen. Zur Cordhose trug er eine ausgeblichene grüne Windjacke und Gummistiefel. Gummistiefel bei diesem Wetter!

Ich muss ziemlich dammlich ausgesehen haben mit meinem Filzstift in der ausgestreckten Hand.

„Hallo, Fliegenbändiger“, sagte der Mann.

„Tag“, knurrte ich.

„Bist du der Chef im Haus?“, fragte der Mann. Er hatte ein lustiges Gesicht.

„Wenn Sie wollen, bin ich der Chef!“

Der Mann mit der Platte streckte mir die Hand hin. „Ich heiße Häublein.“

„Aha“, machte ich. Und ich musste mir das Grienen verkneifen.

In der vorigen Woche hatte Vater gesagt: „Da wollen ein paar Gänsefänger kommen. Sie fragen, ob sie bei uns ein Zelt aufstellen können.“

Ich hatte überlegt und konnte mir keinen Vers darauf machen, denn bei uns war doch Naturschutzgebiet. Jäger durften da nicht jagen, also durfte doch bestimmt niemand Gänse fangen. Das sagte ich auch, aber Vater zuckte mit den Schultern. Er hatte einen Brief in der Hand, darauf stand: „Zentrale für Wasservogelforschung.“ Unterschrieben von einem Professor. Es musste eine wichtige Sache sein. Er hatte unsere Genossenschaft um Unterstützung gebeten und um eine Zeltmöglichkeit für Dr. Häublein und Mitarbeiter auf einem Grundstück dicht am See. Bei uns auf dem Hof also. Unser See schien plötzlich wichtig zu sein. Warum wohl?

Das war nun der Dr. Häublein. Er machte einen kumpeligen Eindruck. Nur, er hatte für seinen Namen ’ne ganze Menge Haare zu wenig auf dem Kopf. Und darüber musste ich doch bannig grienen.

Ich nahm die Hand, die Dr. Häublein mir entgegenstreckte, und schüttelte sie.

„Lehmann“, sagte ich, „Knut Lehmann, genannt Knuppe! Sind Sie der Gänsefänger von dem Professor?“

Er lachte. „Gänsefänger ist gut! Ja - Gänsefänger bin ich auch. Wir sind drei. Weißt du, dass wir bei euch zelten wollen?“

Ich nickte. „Im Obstgarten, ich kann Ihnen die Stelle zeigen. Da ist es schön, die Pflaumenbäume blühen gerade, und auch die Birnen fangen schon an!“

Der Doktor wehrte ab. „Nicht nötig, du hast ja zu tun. Mathe, was?“ Seine Stimme war nicht nur fragend.

Vielleicht war er kein Mathefreund.

Ich nickte nur, nicht gerade begeistert.

Der Mann gab mir einen kleinen freundschaftlichen Stoß. „Dann mach mal los! Wir fahren jetzt zum See runter und sehen uns ein bisschen um. Wenn dein Vater inzwischen kommt, grüß ihn! Am späten Nachmittag sind wir wieder da.“ Damit drehte er sich um und verschwand über den Hof.

Ich hörte, wie ein Motor ansprang, und rannte durch die Küche ins Wohnzimmer. Aus dem Fenster sah ich, wie ein dunkelgrüner, hochbeiniger Kleinbus zum Wiesenweg einbog. Noch ein Mann saß drin und eine Frau vorn neben dem Gänsedoktor. Ich pfiff durch die Zähne: Die hatten doch tatsächlich einen GAS, so einen Sanka, wie ihn die Freunde fahren, mit Allradantrieb. Damit konnten sie sogar über den Acker kutschen, wenn sie wollten!

Als ich in die Veranda zurückkam, waren die Schwalben schon wieder da. Sie sausten von der Gardinenleiste und fegten in der Veranda herum. Sie hatten sich doll erschrocken. Auf meinem Matheheft war ein dicker, fetter Klecks!

Das sah übel aus. Rausreißen konnte ich die Seite nicht. Der Klecks saß genau über Wurzelmüllers rotem, schwungvollem M. Ich stellte mir schon sein Gesicht am nächsten Tag vor! Von Pech oder Zufall konnte bei ihm keine Rede sein. Es gibt keine Zufälle, sagt er. Hier hatte er recht. Deshalb trieb ich die Schwalben raus und machte die Tür noch eine Nummer lauter zu als Vater am Abend. Ich konnte ihn gut verstehen! Aber ich öffnete das Fenster.

Der Garten roch gut - die Obstbäume! Ich sah, wie der GAS mit den Gänsefängern dunkelgrün und klein hinter der Schlehenhecke zwischen den beiden Seen verschwand. Die weißen Büsche verschluckten das Auto.

Ich war ein Dämelklaas! Warum war ich nicht mitgefahren? Nagut, ich hatte wenig Ahnung von den Gänsen, und von den anderen Vögeln wusste ich auch nicht viel. Aber ich kannte mich am See aus und konnte genau sagen, wo die wilden Gänse meist waren. Da hätte der Doktor nicht nein gesagt.

Vor Wut schnitt ich mir eine Grimasse im Spiegel. Döskopp Knut!

Zu allem Überfluss kamen auch die Schwalben wieder. Sie flatterten vor der Tür mit ihren Schnäbeln voll Erde. Da konnten sie lange flattern! Doch sie waren nicht dumm! Sie segelten um die Ecke und rüttelten auf der Stelle vor dem offenen Fenster.

Schwupp, schon war die erste drin. Zack, kam die zweite hinterher. Ich saß ganz still. So wütend ich war, ein kleines bisschen freute ich mich doch, als die beiden über mir auf der Leiste landeten. Sie zwitscherten so schön. Ihre Schwanzspieße waren ganz dünn und lang und schwarzblau wie feine Drähte. Mit einem eleganten Bogen schwangen sie sich wieder ab, huschten durch den Raum, fanden sofort das offene Fenster und fegten über meinen Kopf nach draußen.

Was soll man da machen? Ich kramte mein Schulzeug zusammen, schloss das Fenster und öffnete die Tür wieder, sperrangelweit - sollten die Schwalben ihren Willen haben! In Dreideubels Namen, würde Paul Kowaltschik sagen. Hartnäckig genug waren sie ja. Ich fand das doll, und ich wollte versuchen, Vater von den Schwalben in unserer Veranda zu überzeugen.

Dann schleppte ich meine Bücher und die Hefte und den anderen Kram auf Vaters Arbeitstisch.

Der war sauber aufgeräumt wie immer. Rechts ein paar Gesetzbücher und Tabellenwerke, links ein Stoß Akten. In der Mitte, hinter der grünen Filzplatte, die Schale mit Faserschreibern, rote, grüne und blaue, so viel Ordnung kriegte ich in meinem Zimmer oben nie hin. Vater schüttelte immer nur den Kopf.

„Bring bloß mal deine Mölbude wieder auf Vordermann“, sagte er, und dann räumte ich meinen Kram von einer Ecke in die andere.

Ich nahm mir wieder mal vor, klar Schiff zu machen. Aber jetzt blieb ich an Vaters Platz sitzen. Das war schon gut so - der Frühling blieb draußen, ausgesperrt. Unter den Gehörnen an der Wand - Vaters Jägerstolz -, unter den Keilerzähnen war immer ein leiser Zigarrenrauch. Der ging nie raus aus diesem Zimmer, und die Aktenstöße auf dem Tisch, die gaben mir so den richtigen Ruck für meine Arbeit. Ich wollte schließlich Mathe machen. Nichts anderes. Und ich rechnete verbissen.

Vielleicht konnte ich die Gänsefänger doch noch am See abpassen. Es war ja noch nicht mal halb vier!

2. Kapitel

Der Reiherberg ist gar kein Berg. Bei uns gibt es keine Berge. Der Reiherberg ist eine Viehkoppel, eine Halbinsel mit Gras, auf der unsere Kühe weiden. Sie sind den ganzen Sommer draußen, so ungefähr zweihundert Stück. Nicht nur auf dem Reiherberg. Die Koppeln ziehen sich fast um den ganzen See rum. Nur bei Baudin nicht, da ist Ellernbruch und viel Schilf und Weidendickicht. Dort ist auch die Ellernbucht, in der wir angelten, Kalle und ich und Paul Kowaltschik.

Hinter dem Reiherberg fängt der große Luzerneschlag an, die Felder liegen ein bisschen höher, und von oben hat man einen freien Blick über den See bis zu unserem Dorf. Der See ist wie eine große, flache Wanne. Aber baden kann man da nicht, ist viel zu flach und krautig und das Wasser voller Wasserflöhe. Sind wohl Millionen - eine richtige, rotbraune Suppe aus Wasserflöhen. Fische sind massenhaft im See: Ganz große Karauschen vom Kilo, die gibt es woanders nie! Und Hechte natürlich und Rotfedern und Barsche auch. Ich kenn mich da ziemlich aus.

Heute müssten die Rotfedern wieder gut beißen. Warmes Frühjahrswetter mögen sie!

Der Himmel ist ganz blau. Keine Wolken. Der Wind macht die Luft klar. Wenn es heiß wird - ohne Wind -, dann flimmert die Luft.

Über dem See fliegen die Rohrweihen. Sie sind erst ein paar Tage hier. Unheimlich, wie die fliegen können! Sie überschlagen sich im Sturzflug, legen die Flügel an und rauschen runter, man glaubt, gleich klatschen sie ins Wasser. Aber dann reißen sie die langen Flügel auseinander und fegen in steilen Bögen wieder hoch. Da kann einem die Luft wegbleiben.

Viele Graugänse sind schon gekommen. Von Baudin her fliegt ein Trupp über den Ellernwald. Sie schreien und halten die Flügel still. Wie an Fallschirmen hängen sie. Jetzt kippeln sie von einer Seite auf die andere und fallen zum See herunter.

Wenn ich das sehe, könnte ich heulen.

Komisch ist das, wenn man so eine Idee hat. Die wächst und wächst und lässt einen nicht wieder los. Auch wenn die anderen darüber lachen, gerade dann willst du es beweisen. Aber wann fängt so was an?

Wenn ich damals mit Kalle auf Rotfedern gegangen wäre, hätte bestimmt alles einen anderen Verlauf genommen. Dann würde ich jetzt sicher nicht hier am Reiherberg sitzen.

 

Ich war mit Ach und Krach mit meinen Matheaufgaben fertig geworden. Ich stopfte die Hefte und Bücher in die Tasche und schob sie in die Verandaecke. Die Schwalben flatterten.

Ich wollte jetzt zum See. Raus aus der Tür, über den Hof, in den Schuppen und aufs Fahrrad, noch im Laufen, dann im Bogen durch die Hofpforte. Den Bogen hatte ich raus, tägliche Übung!

Kalle war schon ein paarmal hängen geblieben, als er’s nachmachen wollte. Ich flitzte zum Kirchberg hoch, um die alte Feldsteinmauer und die Trauereschen und an der Scheune vorbei. Dort oben standen schon die Störche auf dem alten Rohrdach in ihrem Nest. Sie waren ziemlich früh gekommen, schon am zweiten April. Das lag wohl am warmen Wetter. Hinter der Scheune ging es wieder bergab. Da lag der See. Die Räder pfiffen auf dem glatten Pfad neben dem zerwühlten Feldweg. Hier hätte auch der GAS nicht fahren können! Aber dieser Weg zur Schlehenhecke war kürzer.

Hinter dem Zaun von Schülers Hof stürzte Purzel heraus. Er kläffte und jaulte. Kalles weißer Spitz lag immer auf der Lauer, um die Radfahrer zu erwischen, die hier zu den Koppeln fahren mussten. Purzel ist sonst ein prima Hund, aber das kann Kalle ihm nicht abgewöhnen.

„He, Knuppe“, schrie Kalle. Er stand mit einem Spaten im Garten. Ich bremste, und Purzel trollte sich befriedigt vom Zaun weg.

„Was ist denn los“, schrie Kalle, „wolln wir nicht angeln?“ Er stieß den Spaten in die Erde und kam zum Zaun.

„Nee“, sagte ich, „heute nicht, morgen vielleicht!“

„Ich kann sowieso nicht“, knurrte er. Mit dem Daumen zeigte er über die Schulter auf das Beet. Da war noch eine ganze Menge umzuwerfen. „Dann hau mal rein, tief stechen - weit schmeißen!“ Ich sah, wie er sich ärgerte. Er zuckte die Schultern. „Kann man nichts machen - wir wollen Bohnen legen. Wo haste denn deine Peitsche?“ Er wunderte sich, dass ich meine Angel nicht ans Rad gebunden hatte.

Aber ich hatte es eilig und sagte nur: „Gänsefänger sind am See, da will ich hin.“ Ich trat in die Pedale und fragte noch: „Wartest du morgen?“, und sah, wie Kalle nickte und ein ziemlich bedeppertes Gesicht machte. Er wäre wohl gern mitgekommen.

Der Schlehenweg stand in voller Blüte. Ich fuhr wie durch dichtes Schneegestöber. Im nassen Lehmweg fand ich die frischen Spuren des GAS, mit dem die drei Gänsefänger von der anderen Seite an den Hohlweg herangekommen waren. Und da stand dann das dunkelgrüne Auto, halb von den mächtigen Büschen verdeckt. Von den Gänsefängern war nichts zu sehen. Ich schob mein Fahrrad in die Hecke. Das Auto war verschlossen, aber durch die Scheiben konnte ich alles genau erkennen. Hatten die das Auto vollgestopft! Als ob sie nach Afrika fahren wollten. Zeltrollen und große, stabile Holzkisten. Hinter dem Fahrersitz war ein Propangaskocher montiert. Töpfe und Pfannen darunter in ein Regal gebunden. Ein zusammengerolltes großes Schlauchboot an der Hecktür, Rucksäcke, Paddel, drei Rollen mit elektrischen Kabeln, Akkus, zwei Spaten und Stricke und ein großer Kasten mit Knöpfen und Schaltern. Und dann waren da noch merkwürdige Dinger aus Stahl, mit Lederriemen in einem schmalen Holzregal festgeschnürt. Die sahen wie kleine Bomben aus oder wie Raketen vielleicht.

Ich drückte mir die Nase an den Fenstern platt und rätselte herum, was das sein mochte.

Ich ließ mein Fahrrad in den Schlehenbüschen und ging los. Der Blütentunnel war gleich zu Ende. Dann begann schon die erste große Koppel vor der Luzerne. Als ich aus den Büschen kam und den Weg über die Koppel laufen wollte, auf dem die Bahnwärter von unserem Dorf zu ihrer Schranke fahren, flog eine Menge wilder Gänse hoch. Sie hatten da gestanden und das Gras gefressen, und ich hatte sie nicht gesehen.

Ich ärgerte mich, dass ich die Gänse hochgejagt hatte. Vielleicht war Dr. Häublein in der Nähe und wollte sie gerade beobachten?

Der Gänsedoktor war tatsächlich in der Nähe. Die Gänsefänger saßen auf dem Hügel, oben auf dem Luzerneacker hinter den Betonringen der Berieselungsanlage. Ich hätte links von der Hecke hinter dem Hügel bleiben müssen, um die Gänse nicht zu verscheuchen!

Nun war es passiert. Ich ging geradewegs zu den Gänsefängern hoch.

Das erste, was ich da oben sah, war ein großes Fernrohr auf einem massigen Holzstativ. Dann erst sah ich mir die Leute an.

„Das ist meine Frau, und das ist Herr Fraedrich“, stellte mir der Doktor seine Begleiter vor. Ich gab ihnen die Hand und sagte, dass ich die Gänse nicht verscheuchen wollte und dass es mir leid täte.

„Halb so schlimm“, sagte die Frau, „ganz gut, dass du gekommen bist. Du kennst dich doch aus hier?“

Ich nickte. „Aber von Gänsen habe ich keine Ahnung!“

3. Kapitel

Um die wilden Gänse hatte ich mich nie viel gekümmert. Sie waren eben da! So wie die Möwen und die Zappen. Ich wusste, dass es jedes Jahr Ärger wegen der Gänse gab. Vater fluchte und schimpfte auf sie und saß am Abend in seinem Zimmer hinter der Schreibmaschine und machte eine Eingabe für die Genossenschaft an den Bezirk, weil die Gänse im Winter den halben Weizenschlag am See weggefressen hatten und weil die Koppeln an manchen Uferstellen stark verbissen wurden. Und ich wusste auch, dass die Jäger noch immer schimpften, weil sie am See nicht mehr jagen durften. Die Angler schimpften, denn sie durften nicht mehr angeln, und unser ABV schimpfte, denn er sollte mit auf den See auf passen. Er schimpfte auf uns, auf Kalle, auf Paul Kowaltschik und auf mich. Er hatte uns noch nie erwischt. Aber er wusste genau, dass wir am See angelten und nicht am Torfstich.

Angeln war das Größte! Angeln mit Paul Kowaltschik.

Dabei passte er auch auf die Gänse auf, und ich weiß noch genau, wie er zwei Jungs aus Wismar zu fassen kriegte, die sich Wildganseier aus den Nestern geholt hatten. Die mussten zurück in das kalte Wasser waten und die Eier wieder in die Nester bringen. Die Bengels, die mit einem Moped aus der Stadt gekommen waren, reagierten mächtig sauer. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass ein Mann mit ’nem Holzbein sie erwischen würde. Sie wollten auf ihr Moped steigen. Aber Paul Kowaltschik hatte die Ventile von ihrem Moped in der Tasche. Da standen sie und machten dumme Gesichter.

Erst wollten sie Stunk machen, Paul Kowaltschik blieb kalt und ruhig. Erst als sie ihre Ausweise gezeigt und Paul ihre Namen aufgeschrieben hatte, durften sie losfahren.

Wie wütend Paul Kowaltschik gewesen war, habe ich erst nachher gemerkt. „Diese Bande“, knurrte er, „denken wohl, sie können machen, was sie wollen! Da hört sich denn ja wohl alles auf!“

Und er war am Abend mit dem Fahrrad zum ABV gefahren und hatte die Namen der beiden auf den Tisch gelegt. Leutnant Leisig muss sich sehr gewundert haben, denn Paul Kowaltschik und das Angeln, das war so eine Sache für sich, und der ABV traute ihm nicht so ganz über den Weg. Und damit hatte er auch recht. Damals jedenfalls!

 

Frau Häublein fragte mich, wie viele Gänse an unserem See brüten, und ich sagte: „Och, ’ne ganze Masse. Unser Vater sagt immer, es sind zu viel.“

Der andere Mann, der hinter dem großen Fernrohr stand, zog die Nase kraus. „Zuviel können es gar nicht sein!“

Ich sah mir den Mann an. Er war ’ne richtige Type. Ziemlich lange, schwarze Haare, eine spitze Nase und grüne Augen. Um die Augen eine Menge Falten. Irgendwie war das ein Vogelgesicht. Ein bisschen witzig. Er hatte uralte Jeans an, aus denen die Knie herausstachen, und eine Jacke, die mochte vielleicht vor zehn Jahren mal neu gewesen sein! Aber er war noch ziemlich jung, und ich überlegte, was für einen Beruf er haben mochte. Gänsefänger ist ja wohl kein Beruf, dachte ich mir.

Er starrte durch das große, schwere Doppelfernrohr zum See. Er war genau das Gegenteil von dem Gänsedoktor. Ich fand, er sah ein bisschen wie ein Gammler aus. Solche Typen kannte ich nur aus dem Fernsehen, und in Wismar hatte ich mal einen Trupp Dänen gesehen, die waren so langhaarig. Aber nicht so zerlumpt!

Ich schielte zum Fernrohr. „Darf ich mal durchsehen?“, fragte ich Dr. Häublein. Er nickte und tippte dem Langhaarigen auf die Schulter. „Frosti, lass den Knut mal durchsehen!“

„Bitte sehr“, sagte der Mann Frosti, griff an die Stativbeine, machte die Stellschraube los und schob das Dreibein tiefer, bis das Fernrohr genau in meiner Höhe war. Mit einer Handbewegung winkte er mich an das Glas.

Ich sah durch und machte oh!

Mann, das war eine Wucht! Ich hielt die Luft an. So was hatte ich noch nie gesehen! Das andere Ufer stand plötzlich ganz dicht vor mir. Und mitten im runden Fernrohrbild ein großer Gänsetrupp, sicher die Gänse, die ich aufgescheucht hatte. Sie waren über den See geflogen. Ich drehte an den Okularen des Glases und stellte auf das Wasser scharf ein. Wie bei Vaters Jagdglas, soviel hatte ich schon gemerkt. Im Wasser, vor dem Ufer schwammen dicht bei dicht unzählige Zappen und Enten. Die starke Vergrößerung ließ die Abstände zwischen den Vögeln, uns und dem Ufer zusammenschrumpfen. Alles sah wie ein aufgeklebtes Bild aus, auf dem sich die Vögel übereinander bewegten.

„Na, was siehst du?“, hörte ich den Gänsedoktor.

„Jede Menge Enten“, flüsterte ich, „und Zappen, und hinten auf der Koppel sind ’ne Masse Gänse!“

„Kannst ruhig laut reden“, spottete der Mann, den sie Frosti nannten, „die hören dich nicht!“

Im Fernrohr war alles so unheimlich nah.

Ich sah, wie die Gänse auf der Koppel die Hälse streckten. Plötzlich fingen sie an zu laufen, gegen den Wind, machten die Flügel auf und flogen los. Erst eine, dann sieben, die ganze große Masse dann auf einmal. Sie kamen schräg über den See und stiegen immer höher. So gut und nahe hatte ich noch nie Gänse fliegen sehen.

Jemand packte mich am Arm. „Los, runter!“, befahl Dr. Häublein und zog mich vom Fernrohr weg. Wir warfen uns hinter die Betonringe und lagen nebeneinander auf dem Bauch. Frau Häublein und der Doktor spähten durch ihre Jagdgläser. Wir lagen in guter Deckung, sodass wir eben noch zum See und die Koppel sehen konnten.