Impressum

Heinz-Jürgen Zierke

Karl XII.

Historischer Roman

 

ISBN 978-3-95655-280-9 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1978 im VEB Hinstorff Verlag Rostock.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung eines Gemäldes von David von Krafft aus der Mitte des 18 Jahrhunderts

 

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Dalarne

Die langen Winterabende lagen wie schwarze Pelze über den düsteren Wäldern Dalekarliens. Böiger Wind wirbelte über raue Kuppen, brach sich an schroffen Hängen, fing sich im Tal zwischen den niedrigen Gebäuden und zerrte an den Dachschindeln. Die Schafe im Pferch drängten sich hinter den aus Reisig geflochtenen Schutzwänden eng aneinander; die zottigen Hunde duckten sich in die Mulden, horchten auf das Heulen des Sturms, ob sich nicht der Laut der Wölfe darein mischte, und knurrten böse.

Weich und warm aber hüllte der Winterabend die Menschen ein, die in den dumpfen, dunklen Hütten um den Herd saßen und die rissigen Hände schützend vor die Augen hielten, denn der graue Qualm, bevor er den Abzug unter dem First fand, biss in die Lider. Die Bäuerin, die Hüterin des Herdes, warf ab und an ein paar Scheite in die Glut, nicht viel, damit die Flamme nicht zu hell aufstob, doch so reichlich, dass die dunstige Wärme sich noch auf dem groben Balkengefüge der Wände niederschlug. Holz gab es genug in den Wäldern, Windbruch; es verrottete, wenn die Bauern es nicht verbrannten.

Aber der Lichtschein! Zwar waren die kleinen Fensterlöcher verhängt, von außen mit bretternen Lukendeckeln und von innen mit dem Sonntagsrock des Bauern; doch das Licht fand die kleinste Ritze und verriet über sieben Meilen, dass es hier Leben gab.

Die Bauern fürchteten nicht so sehr die Graupelze als vielmehr die Werwölfe, entlaufene Soldaten, die mit ihren grobschrötigen Büchsen und breiten Messern alles anfielen, was atmete. Und dann die Herren, schlimmer noch, die sich nun nach Karls Tod von den Bauern zurückholten, was ihnen des eisenköpfigen Königs Vater genommen hatte.

Was gab es schon zu holen aus den niedrigen Hütten! Sie nahmen, was sie fanden. Holzgeschnitzte Löffel und Kellen, den Schinken aus dem Rauch und den Hammel aus dem Pferch, Schurwolle, raues Leinen und dünnes Bier — und die Hanfstricke, mit denen sie die Bauern an die Eschen banden, damit sie sahen, was der Herren Knechte ihren Frauen und Töchtern antaten. Sollte nur einer wagen, sich bei der Königin oder beim Reichsrat zu beschweren, mündlich oder schriftlich, ganz gleich! Von keinem hat man je gehört, dass er aus der Hauptstadt zurückgekehrt wäre. Einem Schulmeister, der einem Bauern ein Schriftstück aufgesetzt hatte, gingen nachts die Bären an den Honigstock, und als er sie stören wollte, brachen sie ihm mit eisernen Tatzen die Arme. Er schwor Stein und Bein, es seien wahrhaftige Bärenbestien gewesen, breit und schwer wie des Grafen Gyllenbrooks Hufschmied und zottig wie der Leibhaftige. Ein Pastor, der des Allmächtigen Hilfe für die Bedrängten angefleht hatte, stürzte bei der nächsten Sonntagspredigt mitsamt der Kanzel auf den gestampften Lehmboden seiner Kirche, das Kruzifix ihm nach, die Dornenkrone riss ihm unter dem rechten Ohr den Hals auf. Die Kirchgänger erschauerten, und eine vierzigjährige Witwe flüsterte ergriffen: „Des Heilands Wunde!“ Sein Amtsbruder, der eigens von Falun herüberkam, sagte am Grabe, der Höchste habe mit eigener Hand ein verirrtes Schaf in seinen Pferch zurückgeholt, damit es nicht vollends zum Wolf würde und seine eigenen Lämmer zerrisse!

Was Wunder, dass an den langen, dunklen Winterabenden, bevor die Bauern in die Bettverschläge krochen, der guten alten Zeit gedacht wurde und dass in den Geschichten, die man sich über der knisternden Glut zuflüsterte, der alte König, der mit strenger Hand den Adel geduckt hatte, und der junge, der in die Welt hinausgezogen war, um Heldentaten zu verrichten, wie die alten Recken aus der Zeit, als Thor und Odin noch in den Bergen polterten, und der nach seiner Rückkunft elendig umgekommen sein sollte, dass diese beiden Könige endlich zusammenwuchsen zu einem Geschöpf, einem jungen, strahlenden Helden, der dem Bauern die Zügel lockerließ und dem Adel die Peitsche gab. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, der König sei nicht erschossen und begraben. Die Herren hätten sich, als er gekommen war, um mit seiner eisernen Schaufel allen Unrat vom Land ins Meer zu werfen, wider ihn verbündet. Von Wunden über und über bedeckt, hätte er sich in die Tiefe der Wälder zurückgezogen, um sich auszuheilen. Statt seiner hätte man einen andern in die Gruft gesetzt, einen Schreiber, der seinem Herrn so ähnlich gesehen habe wie kein Bruder seinem Geschwister. In den Schluchten Norrlands halte sich der König verborgen und die Lappen brächten ihm heilkräftige Rentiermilch. Eines Tages werde er herabsteigen, seine Dalkerle um sich scharen und mit ihnen in die Hauptstadt ziehen. Alle Herren, die sich hatten etwas zuschulden kommen lassen, werde er in die Eisengruben schicken, wo sie ihr Leben lang Erz klopfen müssten.

Fast ein Festtag war’s, wenn einer der Geschichtenerzähler, die von Gehöft zu Gehöft zogen, sich in die Tür zwängte, vom peitschenden Schneesturm verfolgt, bedächtig die Hände über der Glut wärmte und sich auf der fellbezogenen Bank niederließ. Dann rührte die Bäuerin wohl einen Krümel Hammeltalg mehr an die Grütze und stellte auch einen Krug Dünnbier warm. Schweigend aß und trank man, rückte die Schemel an den Herd und lauschte dem leisen Singsang des Gastes.

Mitunter begannen die Augen alter Männer zu glänzen, alter Kämpen, der wenigen, die die Feldzüge glücklich überstanden hatten. Vergessen Blut und Tod, vergessen die am Stiefelleder aufgeriebenen Füße, der Hunger, die Frostbeulen, die Läuse, vergessen all die Kameraden, Bauern aus Dalarne, Värmland, Uppland, aus allen Provinzen des Landes, die an der Düna, an der Weichsel, am Dnjepr die Zähne in den Sand geschlagen hatten. Die Erinnerung deutete den Feuerschein brennender Dörfer um in den Goldglanz ruhmreicher Heldentaten. Am hellsten aber leuchteten die Augen der Jungmänner, die den Krieg nur aus diesen Geschichten kannten, und die sich fortsehnten aus der Eintönigkeit des Alltags, aus dem ewig gleichen Rhythmus von Arbeit, Essen, Schlaf. Dann beugte sich der Erzähler tiefer über die Glut, senkte die Stimme, und in seinen Worten wuchs König Karl zu einem Recken auf, der dem alten Gotte Thor glich, Blitz und Donner unter die feindlichen Riesen schleudernd; die Kämpfer an seiner Seite, der Erzähler vor allem, wuchsen mit, und ein Platz an der Göttertafel von Walhall wartete ihrer. Freilich, den Namen des heidnischen Gottes brachten weder Erzähler noch Zuhörer über die Lippen. Sie waren fromme Christen, und wenn ihnen so gotteslästerliche Dinge in den Sinn kamen, beteten sie still ein schnelles Vaterunser hinterher. Dann winkte der Bauer der Tochter oder der Magd, den Krug noch einmal herumzureichen, und die Hausfrau suchte ein Paar schafwollene Fäustlinge aus der Lade, damit dem Gast auf dem Weg zum nächsten Hof die Hände nicht erfrören.

Mag sein, dass auch die Herren solche Geschichten gern hörten, namentlich die von des Königs Heldentaten. Sie ermunterten die Erzähler mit manchem guten Groschen und mit Ratschlägen, denn auch sie hatten viel erlebt und an der Seite der Majestät gefochten, und ein Widerschein von deren Glanze fiel auch auf sie. Einige der Geschichten, beileibe nicht alle, ließen sie von ihren Schreibern aufschreiben, von ihren Druckern drucken und von ihren Händlern dem Volk aushändigen. Wer im Klee der Juniwiesen träumt, dachten sie bei sich, spürt die Disteln im September nicht.

Es ist nicht bekannt, ob der Erzähler mit der Stumpfhand, wie man ihn nannte, die gedruckten Bücher gelesen hat; so viel ist sicher, er hätte es tun können, denn er war ein Schreiber, der, wenn man ihm glauben wollte, lange Jahre in des Königs Zelt gelebt hatte und ihn besser kannte als dieser sich selbst. War es am Ende derselbe, den man statt des Königs begraben haben wollte? Der König war tot, eine norwegische oder — niemand weiß es — vielleicht auch eine schwedische Kugel hatte ihm die Schläfe zerschmettert und eine andere seinem Schreiber zwei Finger abgerissen, dass die Hand zu nichts mehr taugte, als über der knisternden Herdglut gewärmt zu werden und anzudeuten, dass eine neue Geschichte begänne.

Dass der König in den nördlichen Felsenklüften seiner Auferstehung harre, davon erzählte dieser nichts. Doch manchem grauhaarigen Bauern spukten sonderbare Gedanken durch den Kopf. Gottes Wege sind wunderbar ...

Da war er in den Wald gelaufen, erzählte der Schreiber, ohne auch nur zwei Atemzüge lang auszuruhen, solange er noch das Bersten der Bomben und die schrillen Signale der Hornisten hörte, acht oder zwölf Tage lang, die Hand mit dem blutverschmierten Fetzen eines Soldatenhemdes umwickelt, einen Kanten gefrorenen Brotes in der Rocktasche, ohne einen Schluck wärmenden Branntweins. Nachts grub er sich Löcher in Schneewehen, immer gewärtig, von Bären oder Wölfen angefallen zu werden. Aber nicht Bestien fanden ihn, sondern Menschen, Bauern, Dalkerle. Er kam zu sich, als er über der Schulter eines Burschen lag, der ihn in eine rauchige Hütte schleppte. Er warf ihn auf die Bank und schnürte ihn mit einem Lederriemen fest. Der Bauer zog sein Messer aus dem Stiefel, schärfte es an den kantigen Ziegeln des Herdes, prüfte die Schneide mit der Daumenkuppe und trat zu dem Gebundenen. Der schloss die Augen. Harte Hände umklammerten seinen Arm. Ein Schnitt, ein schriller Schmerz.

Als er die Augen öffnete, sah er ein dunkelbraunes haariges Mal in einem Altfrauengesicht, dann die wasserhellen Augen der Greisin, die einen lauen, lindernden Brei aus Talg und Kräutern auf die Wunden legte und leise, unverständliche Sprüche murmelte. Ihr Atem wärmte seine Handfläche.

Er besaß nichts, womit er den Leuten hätte danken können, nicht einmal eine schwarze Kupfermünze. In seiner Verlegenheit begann er zu erzählen, kleine Erlebnisse aus den langen Jahren der Kriegszüge, und siehe, Wort reihte sich an Wort, Satz an Satz, es wurden ihrer immer mehr; sie ballten sich wie von selbst zu Geschichten zusammen, und wenn er die eine beendete, lag ihm schon der Anfang der nächsten auf der Zunge. Gedanken kamen ihm in den Sinn und in den Satz, fremde oder auch eigene und doch neue, jedenfalls für ihn neue, er sprang noch einmal in die Sümpfe von Narwa, ritt über die blühenden Getreidefelder Polens, kroch durch die Steppen der Ukraine, träumte auf türkischen Seidenkissen, trank mit deutschen Landgrafen, segelte über die aufgewühlte Ostsee der Heimat zu, alles war wieder da und doch anders, als geschähe es dem Sven Svensson von heute, nur dass Finger und Fuß noch gesund waren, und zuletzt wusste er nicht mehr, hatte er alles wirklich erlebt oder nur gedacht.

Jeden Morgen und jeden Abend erneuerte die Alte den Verband, legte Kräuterpaste auf und betete ihre heidnischen Sprüche dazu. Der Schmerz ließ nach; wenn er redete, spürte er ihn kaum, und manchmal redete er, um nicht an die Hand denken zu müssen und daran, dass sie nie mehr die Feder führen würde. Manchmal aber, wenn einer nur ein Ohr dafür gehabt hätte, konnte man aus dem Klang der Worte und Sätze einen verstörten Ton heraushören, wie wenn einer mit sich selbst redet und dabei nicht in den Spiegel zu schauen wagt.

Eines Abends kam ein Nachbar herüber, an Brauen und Bart Eisstückchen, drei Meilen war er durch den Schnee gestiefelt. Er setzte sich stumm, kaum dass er dem Bauern und der Hausfrau zugenickt hatte, dem Gast gegenüber, schlürfte dünnes Bier und hörte mit geschlossenen Augen zu. Als nach Stunden der Hausherr sich räusperte und die Frau die Laken über das Stroh breitete, stand er auf, nahm einen Holzspan vom Herd, drehte ihn zwischen den Fingern, nickte und ging.

Drei Tage darauf kam er wieder, nachmittags schon, über der linken Schulter ein paar Stiefel aus Ziegenfell, unter dem rechten Arm eine Filzdecke. Beides warf er vor dem Fremden auf die Bank und stieß zwischen den Zähnen hervor: „Komm!“

Svensson sah seine Gastgeber an, auch die Alte mit den Sprüchen, alle nickten. Da zog er die Stiefel an, warf die Decke über die Schultern und murmelte ein Abschiedswort. Sie vermieden es, sich anzusehen.

Ein sternklarer Abend, fast windstill, die Äste knarrten im Frost, und wenn eine Schneeeule über die Lichtung strich, hörte es sich an, als klatschte ein Segel gegen den Mast. Irgendwo im Dickicht glühten feurige Punkte auf. Wolfsaugen? Sven griff in den Gürtel, aber er besaß kein Messer mehr. Der Bauer vor ihm ging ruhig weiter. Nach zwei Stunden erreichten sie den Hof, auch hier die Wände aus klobigen Stämmen gefügt, die Fensterluken mit Brettern vernagelt, der Innenraum niedrig, dunkel, verräuchert, und die Schemel standen um den Herd. So hatte es auch im Haus seiner Eltern ausgesehen, nur dass dort außer den Alten noch drei Söhne am Herd gesessen hatten und eine Tochter. Aber vielleicht hatten diese hier auch Söhne gehabt, die dem König gefolgt waren bis nach Russland hinein, oder Töchter, die ihren Männern gefolgt und als Marketenderinnen am Wege geblieben waren. Auch in diesem Hause gab es eine Alte mit Brei und Sprüchen, nur dass sie wohl andere Kräuter daruntermischte, denn ihr Atem roch anders. Seine Wunde überzog sich langsam mit narbiger Haut.

Nicht länger als eine Woche blieb Svensson hier, dann stand ein anderer Bauer in der Tür, so groß, dass er sich bücken musste, um nicht anzustoßen. Bei dem blieb er nur drei Tage, und das war gut so, denn hier wuchs eine blankäugige Tochter heran, die beim Lauschen die Enden ihrer strohgelben Zöpfe um die Finger wickelte und vor Staunen den Mund offen hielt, sodass er sah, wie ihre Zungenspitze auf den Lippen tanzte, und dann stockte er mitten im Satz.

Mochte der Teufel wissen, woher bei diesen Entfernungen die Bauern erfuhren, wo er sich gerade befand und dass er etwas zu erzählen hatte. Nur wenige Tage blieb er jeweils, manchmal auch nur einen einzigen Abend, dann holte man ihn fort, und als die Tage heller wurden, wies man ihm nur den Weg und schickte ihn weiter.

Eine Zeit lang gefiel ihm dieses Leben, nicht nur wegen der heranwachsenden Mädchen oder der Hausfrauen, die manchmal noch recht jung und schon Witwe waren. Doch je mehr seine Wunde vernarbte, desto mehr fühlte er sich als unnützer Esser. Er steckte seinen Löffel in die Breischüsseln der Bauern, sie teilten ihren letzten Kanten Brot mit ihm, und er konnte nicht einmal in der Wirtschaft mit zupacken. Die gesunde linke Hand war so ungeschickt, dass sie kaum die Peitsche hielt, wenn der Bauer das Vieh aus dem Pferch in den Stall oder aus dem Stall auf die Weide trieb. So fiel es wie eine Last von seinen Schultern, wenn er das Hoftor hinter sich geschlossen hatte, und leicht und froh ging er die ersten Schritte, aber schon hinter dem nächsten Busch sprang ihn der heimtückische Troll wieder an, nahm mit jedem Atemzug an Gewicht zu, und wenn Sven die Hand an den Torriegel legte, knickten ihm die Knie ein, und er musste sich am Pfosten stützen. War er durch die niedrige Haustür getreten, reckte er sich steif auf, um den widrigen Kerl am Türsturz abzustreifen. Doch der Troll war geschickt genug, sich den Rücken hinabgleiten zu lassen und nach dem ersten Schritt in der Stube wieder auf die Schulter zu springen. So saß denn Svensson gebückt am Tisch; das Genick schmerzte mehr als die Wunde. Doch kam er ins Erzählen, ließ sein Bedränger von ihm ab, hockte sich still unter den Schemel, und erst wenn Sven sich auf der Bank ausstreckte und ein verfilztes Fell über sich breitete, sprang er ihm auf die Brust.

Vielleicht hätte sich Svensson weniger gefürchtet, vielleicht hätte er seinen Peiniger mit einem Lachen verjagt, wenn ihm bewusst geworden wäre, dass er nicht in der Schuld seiner Gastgeber stand. Im Gegenteil, sie waren ihm dankbar, seine Geschichten hellten die Eintönigkeit ihres Lebens ein wenig auf. Wenn sie ihm das nicht sagten, dann deshalb, weil es nicht ihre Art war, viele Worte zu machen. Sie holten ihn von Gehöft zu Gehöft. Daran musste er doch merken, wie sehr sie ihn brauchten. Wenn er sah, wie sie ihm zuhörten, musste er es spüren. Der eine saß mit offenem Mund, das Kinn in die Fäuste gestützt, der andere kaute vor Erregung die Daumennägel, und oft genug vergaß die Großmutter, das Spinnrad zu treten, und der Faden riss. Er spürte auch etwas davon, und mit der Zeit immer mehr; er sah in die Gesichter, in die Augen, und er richtete seine Geschichten danach ein.

Ja, je öfter er erzählte, desto genauer sah er seine Zuhörer an. Nicht dass er ihnen zum Munde redete, nein, es bereitete ihm geradezu Freude, etwas zu sagen, was sie erschreckte, wenn er nur mit dem nächsten Satz die aufgeregten Wogen wieder glätten konnte. Nur den jungen Mädchen, denen konnte er das nicht antun, ihnen erzählte er von Heldentaten tapferer Grenadiere oder Kürassiere, bis ihre Augen so glänzten, dass es in der Stube licht wurde wie in der Mittsommernacht. Den jungen Frauen beschrieb er die Schwere des Soldatenloses, damit sie Gutes taten an ihren Männern, solange sie sie noch an ihrer Seite hatten. Die Greise tröstete er, indem er ihnen zuflüsterte, selbst der Heldenkönig, dieser Bär an Kraft und Mut, sei einer Frau gegenüber hilflos gewesen wie eine Fliege im Milchtopf. Die Matronen hinter ihren Spinnwirteln und Webrahmen kicherten verächtlich. Oft aber erzählte Sven Svensson von der Unerschrockenheit und dem Heldenmut des Königs.

 

Wenn Svensson jedoch zu fett gegessen oder zu stark getrunken hatte — aber wann kam das schon vor! Wer hatte in dieser Zeit soviel, dass er einen Bettler überfüttern konnte! —, dann mischte er grimmige Flüche in seine Worte, oder er sprang mitten im Satz auf, wankte schleppenden Fußes auf den Hof und erbrach sich. Dann rieb er Stirn und Genick mit Schnee oder eiskaltem Brunnenwasser ab, setzte sich wieder an den Herd unter die wartenden Hausgenossen und erzählte ruhig seine Geschichte zu Ende.

Noch im Sommer, als sich die Wunde längst geschlossen hatte, zog er durch die Täler und über die Berge. Da wandte er sich nach Norden, nach Härjedalen, Medel- pad und Jämtland, als wollte er in den Schluchten und finsteren Wäldern nach dem verschollenen König suchen, und als nach dem kurzen Sommer wieder ein langer Winter kam, pilgerte er südlich, nach Västmanland, Västergötland, ja bis nach Halland hinunter. Und manchmal hielt er inne, ergriff mit der verstümmelten Hand einen Stock und malte Buchstaben und ganze Wörter in den Schnee.

Man kannte ihn nicht nur in den Bauerngehöften, bis in die Adelshöfe drang sein Ruf, wobei freilich nicht sicher ist, ob man ihn nicht mit anderen Wandererzählern verwechselte. Jedenfalls lud man ihn auf einen Adelssitz. Der sah nicht viel freundlicher aus als ein Bauernhof, unterschied sich von ihm aber dadurch, dass man den Hauptraum zu einem Saal erweitert hatte, dessen Dach durch zwei Reihen Stämme gestützt wurde, wie ein Kirchenschiff. Die Knechte schliefen nicht im gleichen Raum mit dem Hausherrn, sondern in einem Verschlag des Pferdestalls. Wie in der Kirche kam sich Svensson auch sonst vor, schon wegen der vielen Leute, die auf Lehnstühlen saßen, Kissen im Rücken, und ihn anstarrten, als erwarteten sie von ihm eine Predigt. Wie es die Sitte befahl, erhielt er sein Essen, reichlich und gut, das musste er zugeben, fast zu gut sogar. Der Wein war etwas abgestanden, aber er hatte lange keinen getrunken, so stieg er ihm bald in den Kopf und lockerte die Zunge. Da man ihn zur Belustigung der Damen gerufen hatte, erzählte er denn freimütig, wie die Gräfin Aurora von Königsmarck, gewesene Geliebte des sächsischen Polenkönigs, sich in des Schwedenkönigs Bett legen wollte, um einen glimpflichen Frieden auszuhandeln. Da sprangen die Herren auch schon zu und stopften — zum Bedauern der Damen — dem Erzähler die Fäuste in den Mund und stießen ihn vor die Tür, ohne ihm auch nur eine Öre in die Tasche zu stecken. Wäre er nicht auf den Dunghaufen gesprungen, wohin ihm mit Rücksicht auf die Empfindlichkeit weiblicher Nasen niemand zu folgen wagte, hätten sie wohl ihre Reitgerten an ihm zerrieben.

Von da an erzählte Svensson nur noch in Waldhütten, und auch da beleckte er, bevor er den Mund aufmachte, erst seinen Zeigefinger und hielt ihn in die Höhe, um zu prüfen, aus welcher Richtung der Wind wehte. Wie keiner weiß, welche Gedanken unter einem grauen Schädel hausen, kann man auch nicht ahnen, was alles unter einem bemoosten Schindeldach Platz findet.

Mit der Zeit erlahmte seine Sorgfalt. Eines Abends saß im Halbdunkel ein Graukopf, dessen zerschlissener Rock einmal eine Soldatenmontur gewesen sein konnte, nur waren die Aufschläge abgetrennt und die blanken Messingknöpfe durch einfache Holzscheiben ersetzt. Svensson erzählte gerade, wie die Schweden gegen die befestigte Stadt Poltawa anrannten, und sie hätten sie auch genommen, wenn nicht der König ...

Der Alte hüstelte. Sven schaute auf. Die Art, wie der Fremde den Kopf in der Hand stützte, sodass der Daumen unter der Nase zu liegen kam, und die Finger das Kinn verdeckten, erinnerte ihn an jemand, er wusste nicht, an wen, es musste lange, sehr lange her sein. Mein Gott, wie viel tausend Krieger hatte er schon gesehen, wenn sie am Lagerfeuer saßen oder an fremden Tischen! Als der Mann die Linke fortnahm, um die Rechte an deren Stelle zu legen, bemerkte Sven, dass der halbe Kiefer fehlte. Ein Invalide, dachte er, ich will die Tapferkeit der Truppen rühmen, das wird ihm das Herz erwärmen.

„Der König, seiner schwärenden Wunde trotzend, ließ sich auf einer Bahre vor die Front tragen, rief: Mir nach, meine Kinder! und wies mit dem Degen vorwärts, auf die Russen zu. Und die Bataillone marschierten, die Piken gesenkt, ohne sich von den Schüssen des Feindes beirren zu lassen; eine dichte Menschenmauer, die unaufhaltsam vorwärtsdrängte. Als die Russen unsern König sahen, der auf seiner Bahre wie auf einem Thron saß und seinen blanken Säbel schwang, lösten sich ihre Linien auf, das erste Glied machte kehrt und riss das zweite mit sich und das dritte, und alles lief und hastete, um nur lebendigen Leibes davonzukommen. Zar Peter hatte geglaubt, unser König und Herr wälze sich, vor Schmerzen stöhnend, in seinem Zelt, und sich deshalb bis in die vordere Linie gewagt. Als er nun des Helden Karl Degen blinken sah, kam es ihm an, dass er eilig ins Gebüsch musste

„Glaubt ihm nicht“, krächzte der Invalide. „Glaubt ihm kein Wort!“

Svensson brach ab, kniff die Augen zusammen und rieb sich das Kinn. Diese Stimme!

„Glaubt ihm kein Wort!“, fauchte der Alte wie ein wütender Kater. „Unsere sind gelaufen, wie blinde Hasen ins Netz.“

Die Stimme scheuchte Erinnerungen auf, die sich zu Bildern ballten: eine livländische Landstraße, ein Pikenier, ohne Rock und mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, teert die Achse, aus der grauen Plane arbeitet sich ein Frauenkopf vor, will der Herr etwas von uns, Per? Ein blasses Mädchen, Strickzeug im Schoß, ein verkrauteter Teich, Frauen mit entblößten Brüsten ...

Sven hob die Stummelhand und wischte die Bilder fort, aber der Nachhall ferner Stimmen blieb, Annas Stimme, die des Königs, seine eigene, die dieses Mannes ... den Strick in die Hand nehmen ... aufhängen, alle aufhängen ... und dann glotzen sie dich an, die Augen quellen vor ... die blaue Zunge im Gesicht … fünfzig Mann, Befehl des Königs ... schieß ihn nieder, schieß ... Ich bin kein Henker ... hattest Befehl, Per ... dass ich zugesehen habe ...

„Kein General, kein König ...“

„Still doch, still! Was soll ich die Leute betrüben, die Zeit ist schlimm genug. Ein bisschen Freude braucht der Mensch, sich kräftig fühlen will er, und wenn’s nur in der Erinnerung ist.“

„Auch um den Preis der Lüge?“

„Ach was, Lüge! Ich erzähle meine Geschichten und basta! Wer genau hinhört, findet für sich das Rechte heraus. Der Sperling pickt im Pferdemist und wird kugelrund dabei.“ Etwas leiser setzte er hinzu: „Die Wahrheit lässt sich auf vielerlei Art sagen, Per.“

Von da an zogen die beiden gemeinsam durch die Lande. Sven hielt noch immer den nassen Zeigefinger der unversehrten Hand in die Höhe, um die Windrichtung zu prüfen, und der Invalide zog beim Zuhören geräuschvoll die Luft über seinen zerschmetterten Kiefer, denn bei all seiner grimmigen Wahrheitsliebe scheute auch er ungebrannte Asche.

Ohne dass es ihm bewusst wurde, erzählte Sven anders, wenn Per in der Ecke saß, den Kopf in die Hand gestützt, den Daumen unter der Nase. Aber ganz konnte er nicht aus seiner Haut, und oft genug verfiel er in Prahlereien, dann schnaufte der Alte, und Sven kam wieder zu sich.

Per schwieg, wenn Sven erzählte, er schnaufte nur, brummig oder zufrieden, je nachdem. Er schwieg auch unterwegs; vielleicht strengte ihn das Sprechen zu sehr an. Erst nach Wochen, als sie einmal den nächsten Hof nicht vor der Nacht erreichten und nebeneinander im Moos lagen, mit trockenen Zweigen zugedeckt, würgte Per, bevor er in dumpfe, von heiseren Schreien unterbrochene Träume fiel, ein paar Brocken Erinnerung aus: bei Poltawa verwundet, fiebernd im Badehaus einer Kosakenwitwe versteckt, ganz Russland durchwandert, Finnland, heim nach Schweden.

„Und Anna?“

Per schnaufte und schwieg.

Am Morgen tauchten sie die Gesichter in einen Bergbach und rieben sich mit den Rockärmeln trocken. Per antwortete ungefragt: „Vielleicht von Läusen gefressen, im Straßengraben verreckt, führt einem gelbsüchtigen Pastor die Wirtschaft, an der Lustseuche verfault, mit einem steifnackigen Bauern ein Dutzend Kinder in die Welt gesetzt, der Teufel mag’s wissen! Seit der Beresina ...“

„Hast du sie gesucht?“

Per schwieg.

 

Gegen Ende des Sommers, die Abende dunkelten schon früh hier im Norden, fiel Per in eine Wolfskuhle, deren Grund mit angespitzten Pfählen gespickt war. Als Sven hinabstieg, um ihn von dem Holz zu lösen, fauchte er schon nicht mehr. Die Erde soll ihn nicht haben, dachte Sven und bedeckte ihn mit Geröll.

Eine Woche stieg Sven in den Felsen herum, allen Menschen ausweichend. Dann trieb ihn der Hunger ins nächste Gehöft. Er setzte sich stumm vor den Herd und starrte in die Glut. Aber schon zu Michaelis hatte er zurückgefunden zu seinen fröhlichen und grausigen Märchen vom König Eisenkopf.

Wenn er aufschaut, die Augen noch geblendet von der Glut, hört er es aus der dunklen Ecke fauchen; dann bricht er mitten im Wort ab, besinnt sich und schlägt eine andere Tonart an.

Narwa

Die erste Begegnung des Dalarner Bauernsohnes Sven Svensson mit dem König Karl brachte der Zufall zustande, im Winter des Jahres 1700, auf einem überfrorenen Landweg in Estland, vor der großen Schlacht von Narwa, die dem jungen König Ruhm und dem ebenso jungen Schreiber Hoffnungen bringen sollte.

Der Zufall spielt auch weiterhin eine nicht unbeträchtliche Rolle in unserer Geschichte, wie er das auch gemeinhin im Leben der meisten Menschen tut, wenn auch vielleicht keine so entscheidende wie hier.

Die Berichte, auf die wir uns stützen, haben auf ihrem jahrhundertelangen Weg unter manchem blühenden Kirschbaum Rast gehalten, in herbstlichen Wäldern vor Stürmen Schutz gesucht, manche weiße Blüte und manch oktoberbuntes Eichenblatt sind ihnen zugeflogen, Sommerregen hat sie ausgewaschen, Eis und Schnee haben an ihnen gekratzt, und so erscheinen sie heute an einigen Stellen übertrieben bunt, an anderen dafür grau und rissig, und wer will sagen, welche Form und Farbe ihnen ursprünglich sind.

Es mag auch sein, dass die frühen Erzähler dieser Geschichte wohl wussten, dass ihre Zuhörer wundersame Berichte hören wollten, denn die Alltäglichkeit, die sie umgab, brauchte man ihnen nicht auch noch vorzusingen. Und da das Zuhören einmal als Feierlichkeit galt, als eine Art Gottesdienst, der Erzähler und Hörer in den Rausch der Schöpfung versetzte, reihten sie also solche Geschehnisse, die sie für wert fanden, erbauliche oder erschreckende, stets aber erregende Gefühle zu wecken, aneinander, ohne zu fragen, ob sie auch durch Ursache und Wirkung miteinander verknüpft seien, konnten sie doch, wo einer ihrer Hörer die Weihe nicht empfangen hatte und sich zu kritischen Bemerkungen berechtigt wähnte, die in Anwürfen wie „unwahrscheinlich“ gipfelten, auf die Allmacht des Schöpfers oder auf Gottes unerforschlichen Ratschluss verweisen, den wir Heutige nüchtern in den simplen, im Grunde ebenfalls nicht zulässigen Zufall säkularisiert haben.

Ein solcher Zufall, der durch nichts zu begründen ist als durch eine Kette weiterer Zufälle, führte also an einem Novembernachmittag des Jahres 1700 einen wegen eines Achsenbruches von seiner Kolonne abgekommenen schwedischen Kanzleiwagen einen ausgefahrenen estländischen Landweg entlang. Die Männer in den blauen Mänteln mit den gelben Knöpfen trotteten hinter dem ächzenden Gefährt her, die Arme bis zu den Ellenbogen in die Taschen versenkt, die Gesichter mit Wolltüchern umwickelt, und sie froren trotzdem. Der Kanzleirat, der im Unterschied zu seinen Schreibern beritten war, fürchtete um seine Zehen und wünschte sich zurück in die große Stube seines Faluner Elternhauses, wo er schwere Eichenkloben in den Kamin schieben und honiggesüßte Milch schlürfen konnte, oder wenigstens in das Stockholmer Kontor seines Amtes. Aber König Karl hatte befohlen, dass die Armee übers Meer ginge, damit sie die Sachsen und Russen strafte. In den Regimentern herrschte strenge Ordnung; ein Tross von Kanzleibeamten und Schreibern trug jeden gewonnenen oder verlorenen Hufnagel fein säuberlich in Listen ein, kopierte diese und schickte sie an die Kanzlei der Armee, wo die Papiere erneut kopiert und an die Staatskanzlei nach Stockholm weitergeleitet wurden. Von dort erhielten die verschiedenen Beschaffungsämter neue Kopien, und dann liefen alle Aktenstücke dieselbe Strecke zurück. Um diesen langen Weg abzukürzen, hatte die Regierung angeordnet, dass einige Ämter, die der Zivilkanzlei unterstanden, die Armee auf dem Feldzug begleiten sollten.

Ein Hornsignal, das in der schneeträchtigen Luft dünn und verloren klang, schreckte die Männer auf. Der Kanzleirat schob das Tuch aus der Stirn und sah sich um. Ein Reiter trabte heran; sein blauer Radmantel bauschte sich im Gegenwind. Er stieß wieder ins Horn, rief: „Aus dem Weg! Seine Majestät, der König! Aus dem Weg!“ und sprengte vorüber.

Wie denn? Sie waren hinter der Armee hergezogen. Wie kam der König, der stets an der Spitze des Heeres ritt, in ihren Rücken? Hatten sie die marschierenden Kolonnen überholt, ohne auch nur einen Rossschweif zu erblicken? Gottes Wege sind wunderbar, gewiss, und dennoch!

Zeit zum Grübeln blieb nicht. Der Kanzleiwagen musste aus der Spur. Die Kutscher packten die Pferde an den Kopfgestellen, die Schreiber griffen in die Speichen. Der Kanzleirat dirigierte das Fahrzeug an den Rand eines Wacholdergebüsches. Als der Wagen stand und die Kutscher die dampfenden Pferde abgerieben hatten, wischte auch er sich den Schweiß von der Stirn, musterte seine Leute und befahl ihnen, die schützenden Tücher zu entfernen. Königliche Schreiber hatten anständig auszusehen. Carolus Rex wär ein gestrenger Herr.

Lassen wir den Herrn Kanzleirat in seinen Ängsten allein; wir werden ihn ohnehin für einige Zeit aus den Augen verlieren, da wir gesonnen sind, uns an die Fersen des Schreibers Sven Svensson zu heften, der bald und nicht ohne Zutun des Kanzleirats seine eigenen Wege gehen sollte.

Dieser Sven Sevensson benutzte die erzwungene Rast, um sich ein paar Schritte weiter ins Gebüsch zu hocken. Thorsson runzelte zornig die Brauen, zuckte dann aber ergeben die Achseln.

Sven hatte sich kaum ins Gesträuch geduckt, da tobte die Kavalkade auch schon heran, ein Dutzend gepflegter Pferde, prächtige Herren auf ihren Rücken, Generale oder mindestens Oberste, Ordenssterne trugen sie auf der Brust und breite Schärpen um den Leib. Auf einem brandroten Fuchs saß der König, der jüngste der Herren und viel einfacher gekleidet; man konnte meinen, die Offiziere führten einen Gefangenen ab, dem sie alle Rangabzeichen genommen, der Ehre halber aber den Säbel gelassen hatten. Und dennoch, in dem blauen Radmantel mit dem roten Kragen war es unverkennbar der König. Er saß aufrecht und locker im Sattel, sah nach links, nach rechts, beobachtete scharf das Gelände; die eine Hand hielt den Zügel, die andere den Degenknauf. Die Herren bemühten sich, ihm zu gleichen, in der Haltung, im Blick, nur dass sie nicht so einfach gekleidet waren. Auch sie trugen die Mäntel offen, aber das schien ihnen nicht zu behagen; sie hatten geschwollene Augenlider wie nach einer durchzechten Nacht. Des Königs Augen leuchteten der Kälte trotzig entgegen, in froher Erwartung der Schlacht. Das vor allem unterschied den König von seiner Begleitung: für die Generale war der Krieg eine zwar unbequeme, aber einträgliche Form des Dienstes, für ihren jugendlichen Oberherrn dagegen ein spannendes Spiel, in dem er sich Meister wusste, obwohl er erst einmal Gelegenheit gehabt hatte, sich darin zu üben; allzu schnell war die Partie beendet gewesen, bevor er noch alle seine Trümpfe ziehen konnte, und seine Mitspieler, die Seemächte England und Holland, hatte ihm den Siegespreis vorenthalten und den Gegner, Schwedens Erbfeind Dänemark, glimpflich davonkommen lassen. Diesmal spielte er allein; er bestimmte den Einsatz, in seiner Hand lagen Sieg oder Niederlage, und niemand würde ihm den Preis entreißen. Niemand!

Das alles sah Sven Svensson an König Karl, vielmehr glaubte er später, es gesehen zu haben. Vorerst konnte er durch das stachlige Gezweig gar keine Einzelheiten in den Gesichtern erkennen. Von Angesicht zu Angesicht sah er den König zum ersten Mal; gehört hatte er von ihm desto mehr, vom Vater, der sich schmeichelte, ein Freund des elften Karl gewesen zu sein, vom Kanzleirat, von dessen Vater, von jedermann.

Der Kanzleirat straffte sich und meldete mit belegter Stimme: „Königlich schwedisches ziviles Reichshufnagelbeschaffungsamt, zurzeit abkommandiert zu Eurer Majestät Armee, fünf Schreiber, zwei Pferdewärter, Chef Kanzleirat Thorsson.“

Der König musterte missmutig das dreckverkrustete Schuhwerk.

„Kein militärischer Rang?“

„Zu dienen, nein, Majestät!“

„Militärisches Kommando braucht militärischen Vorgesetzten. Er kann Kapitän werden, wenn er seinen Mann steht.“

„Euer Majestät erlauben, ein ziviles ...“

„Ein ziviles Amt passt nicht in meine Armee! Wozu? Hufnägel hat jeder Dorfschmied.“

„Eine Anordnung Eurer Majestät seligen Vaters“, erklärte Graf Piper, der Minister, ein beleibter Mann im scharlachrotem Rock.

„In ein Militäramt umwandeln! Neue Zeit, neue Gesetze.“

Der Kanzleirat erbleichte.

Des Königs Blick glitt erneut über die Schreiber. Schätzte er ab, wer die Muskete tragen könnte? Plötzlich zogen sich die hellen Brauen streng zusammen. „Wo ist Sein fünfter Mann?“

„Hier, Majestät!“ Sven Svensson legte die Hand an die Mütze und ließ die Hose fallen. Die Wacholdersträucher deckten ihn.

„Kanzleirat, was treibt der Mann da?“

„Der Mann, mit Verlaub ..."

„Weiß schon. Unpassender Augenblick.“

Sven sah, der Kanzleirat zitterte am ganzen Leibe. Doch der König ließ ihn noch immer nicht in Ruhe.

„Was tut Er hier?“

Sichtlich um Fassung ringend, bemühte Thorsson wohlgesetzte Worte, die die Verspätung erklären sollten. Doch nach jedem Satz umwölkte sich des Königs Stirn mehr. „Lapperei! Wie kommst du der Armee einen halben Tagesmarsch voraus, wie das? Vor dir ist nur leichte Reiterei.“

Die Antwort hätte der Kanzleirat auch gerne gewusst. Er stotterte: „Gottes Wege ...“

„Du sollst den Namen Gottes, deines Herrn, nicht missbrauchen.“

„Jawohl, Majestät.“

Der König wandte sich den Schreibern zu. „Nun, ihr Klugscheißer, wisst ihr’s?“

Schweigen.

„Wird’s bald!“

Die Schreiber senkten die Köpfe und starrten auf die Hufe des königlichen Reittieres, die Kutscher versteckten sich hinter den Pferden und bissen in die Rockärmel, um nicht laut zu lachen. Svensson, der sich nun erleichtert fühlte, zog die Hose hoch und rief: „Ich hab’s, Majestät.“ Sein Kopf tauchte auf. Alle Blicke wandten sich ihm zu. „Das ist wie beim Schweinetreiben. Eine einzelne Sau läuft wie ein Gaul. Aber eine Schweineherde kriecht wie eine Raupe über den Kohl, überall schmatzend ...“

„Er ist Bauer, wie?“

„Aus Dalarne.“

Svensson zog den Rock glatt und trat aus dem Wacholder. Am liebsten wäre er gleich wieder zurückgesprungen. Die hohen Herrschaften starrten ihn an, als stünde er nackt auf dem Stockholmer Slottsbacken. War etwas an ihm nicht in Ordnung? Er sah an sich hinab; die Hose saß vorschriftsmäßig, die Knöpfe waren geschlossen, nur am Mantel nicht, aber den trug auch der König offen.

Auch dem König fiel das sonderbare Verhalten seiner Herren auf. Er sah Sven Svensson genauer an, bemerkte aber nichts Verwunderliches. So stieß er einem Oberst, der vor Staunen den Mund halb offen hielt, in die Seite und fragte: „Was gibt es zu gaffen?“

Dem Oberst klappten die Kinnbacken zusammen, er lief rot an, schluckte dreimal und stotterte: „Es ist, Majestät verzeihen, ungeheuerliche Verrücktheit der Natur, eine gewisse ...“

„Lapperei!“ Der König peitschte mit der Reitgerte seine Stiefelschäfte. „Deutlicher, Sparre! Ein Oberst, der stottert, wird nicht General.“

„Zu Befehl, Majestät! Mit gütiger Erlaubnis den Burschen auf Euer Majestät Pferd, in Euer Majestät Rock und Mantel, dann ... ich bring’s nicht, ich bring’s nicht.“

„Meinen Offizieren ist der Mut eingefroren. Hoffe, dass er vor dem Feind wieder auftaut.“

„Majestät!“

„Sag du’s, Piper!“

Der prächtig gekleidete Dicke neigte leicht den Kopf. „Der Oberst will sagen, dass dieser Bursche Euer Majestät auffallend ähnlich sieht.“

„Nur äußerlich, selbstverständlich“, setzte der Oberst erleichtert hinzu.

Der König zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf einen den Kutscher. „He, du! Stimmt das?“

Der Mann kratzte sich die Nase, schloss zuerst das linke Auge und sah mit dem rechten den König an, dann schaute er nach links zu Sven. Als er sich auch dessen Gesicht eingeprägt hatte, bedeckte er beide Augen mit den Händen, als wollte er dahinter die eben geschauten Bilder in Ruhe vergleichen, ließ die Arme wieder sinken und sagte: „Majestät haben die Pockennarben auf der andern Backe.“

Der König wandte sich Piper zu und strich mit der Reitgerte leicht über dessen seidene Schärpe. „Ihr meint, Graf, ein Fremder könnte uns verwechseln?“

„Unter bestimmten Bedingungen wohl, Majestät.“

König Karl warf die Gerte in die Luft und fing sie wieder auf. „Komm näher, Sven Svensson! So sehe ich aus? Du ersparst mir also den Spiegel.“ Er sprang vom Pferd. „Mantel, Rock, Hut ausziehen. Kanzleirat, steig ab!“

„Zu Befehl, Majestät!“ Thorsson kletterte steifbeinig aus dem Sattel. Er war froh, feste Erde unter den Füßen zu spüren.

König und Schreiber wechselten die Kleider. Karl bestieg das Kanzleirats-, Sven das Königspferd.

„Den Degen!“, rief Karl. „Sparre, gib ihm deinen!“ Missmutig schnallte der Oberst sein Wehrgehänge ab.

Der König deutete auf eine entfernte Dornhecke. „Bis dahin und zurück! Schritt, Trab, Galopp im Wechsel, en face und en profil! Hock nicht so bäurisch! Mein Fuchs ist kein Ochse! Rücken gerade, Brust raus, etwas mehr soldatische Haltung! Allez!“

Da dem König die erstaunliche Ähnlichkeit offensichtlich Spaß machte, fanden es auch seine Offiziere: „Eine vortreffliche Kopie, selbst die Gestalt!“ Piper flüsterte dem Grafen Stenbock zu: „Wenn der Zar die beiden nebeneinander sieht, hält er sich für betrunken.“

Alles sah dem Davonreitenden nach, amüsiert oder neugierig, und so bemerkte niemand, nicht einmal der König, dass sich von der Narwaer Seite her ein Offizier näherte, ein schwedischer zum Glück, sonst wäre es der Gesellschaft schlecht ergangen. Erst als er meldete, wurde man seiner gewahr, erschrocken, Sparre griff nach dem Degen, aber der war nicht da. Der König bewahrte ruhig Blut, nahm das Couvert entgegen, riss es auf, überflog die Meldung und vergaß im Augenblick das Abenteuer mit dem Doppelgänger. Er setzte dem Kanzleiratsross die Sporen in die Weichen und klatschte ihm die Reitpeitsche auf die Hinterhand. Das war gar kein so schlechter Renner; des Königs Suite holte ihren Herren erst nach mehr als dreihundert Schritt ein, gerade in dem Moment, als Sven Svensson das befohlene Ziel erreichte, in entgegengesetzter Richtung und kaum noch als Reiter zu erkennen, ein dunkler Fleck, der über die weiße Fläche kroch.

„Majestät“, rief Stenbock dem König zu, „Majestät tragen noch die Montur des Schreibers.“

„Lapperei!“, rief Karl und schwang den Degen. „Dem Feind ist’s gleich. Drauf!“

Sven hatte manches Pferd mit und ohne Sattel geritten, aber dieses nervöse Tier spürte den Fremden, und er musste die Schenkel fester andrücken, um die befohlenen Manöver ausführen zu können. Erst als er die Dornhecke erreichte, beherrschte er den Fuchs so, dass er beim Wenden aufschauen konnte. Was war das? Die königliche Kavalkade hatte den Kanzleiwagen verlassen und bewegte sich mit unverständlicher Schnelligkeit nordostwärts. Hatte man des Königs Pferd, Mantel, Rock, Hut und ihn einfach vergessen? Da war es ihm nun glücklich gelungen, den König auf sich aufmerksam zu machen, er hatte sich in Hoffnungen gewiegt, und jetzt? Sollte der Kanzleirat ...? Ach, was! Sven Svensson wandte den Kopf nach rechts und nach links und blies die Sorgen von den Schultern. Er war nicht ängstlich, sorgte sich wenig um seine Zukunft, hatte den Optimismus des Vaters geerbt, der auch in der Not nie den Mut verlor. Sein Schädel war ein Dalarner Dickkopf.

Svens Elternhaus war eine Bauernhütte, in deren niedriger Tür selbst ein nur mittelgroßer Mann den Kopf einziehen musste, wollte er sich keine Beule stoßen. Die Wände bestanden aus behauenen Stämmen, so kunstvoll aneinandergefügt, dass man keine Ritze mit Moos oder Lehm zu verstopfen brauchte. Im Moos nistete Ungeziefer.

Die Svenssons waren keine Riesen, auch der Vater nicht, aber breit in den Schultern und von einer Armkraft, über die man im Tal und noch in den Nachbargemeinden Geschichten erzählte. Dass der Vater den Pflug mit einer Hand anhob und am gestreckten Arm hielt, mochte noch angehen; das Holz war ausgetrocknet, das Eisen abgewetzt. Aber er hatte auch mit der nackten Hand einen Wolf erschlagen. Tatsächlich! Sven hatte den Vater gefragt, als sie auf der Kuppe bei den drei Schweinssteinen gesessen hatten, von wo aus man in drei Täler und in den blauen Himmel schauen konnte, an dem wunderfältig geformte Wolken auf- und abstiegen. Mit diesen Wolken hatte es eine Bewandtnis: Man krümmte die linke Hand zur Faust und legte den Daumen so, dass er die Fingernägel bedeckte. Schaute man durch die Höhlung, konnte man erkennen, ob das, was man gerade hörte, wahr war. Richtig, als Sven seine Finger sortiert hatte, entdeckte er eine Wolke, die Ähnlichkeit mit dem Kopf einer Bestie hatte. Mit jedem Wort des Vaters flachte sie ab wie von einem gewaltigen Hieb getroffen, bis sie platt war wie ein Fladen aus Gerstenmehl, der schließlich zerbröckelte. Der Vater hatte tatsächlich einen grauen Räuber erschlagen, nur keinen reißenden Altwolf, wie Sven es gewünscht hätte, sondern ein Jungtier, und nachher hatte es ihm leid getan. Drei Tage lang hatte er die Schlaghand mit scharfem Flusssand gescheuert.

Auch Großvater war ein starker Mann gewesen; von ihm erzählte man, wenn auch mit Augenzwinkern, er habe einen lebendigen Bären in einem gespaltenen Birkenstamm eingekeilt. Sven glaubte es, obwohl er mit dem alten Mann niemals auf der Schweinskuppe gesessen hatte. Doch er hatte oft genug erlebt, wie Vater und Großvater Birken fällten. Zuerst sägten sie den Stamm zur Hälfte ein, dann kletterte Vater bis in die Spitze des Baumes, um ein langes Hanfseil mit einer dreifachen Schlinge festzuknoten. Vorsichtig stieg er wieder herab. Das andere Seilende über die Schultern geworfen, stemmten sich die Männer mit aller Kraft gegen den Boden und ruckten und ruckten, bis sich der Baum stöhnend bog. Er wehrte sich, knirschte, grollte, schüttelte sich und musste sich endlich doch ergeben. Mit einem Schrei, einem richtigen hellen Schrei, der in eine lang gezogene Klage und in ein müdes Röcheln überging, klaffte der Stamm der Länge nach auseinander. Die Männer ließen los. Wie ein Bogen, dessen Sehne reißt, schnellte der Stamm zurück; die Wucht schleuderte die abgespaltene Hälfte davon. Lachend sägten die Männer den Rest ab. Ja, Sven konnte sich vorstellen, dass man einen Bären in eine gespaltene Birke klemmt.

In einer Sache hatte sich der Vater gegen den Alten durchgesetzt. Er hatte seinem ältesten Sohn nicht seinen und seines Vaters Namen Sven gegeben, sondern ihn Karl taufen lassen, nach dem König, nicht dem jetzigen, der war ja nicht älter als Sven, vielmehr nach dessen Vater und Vorgänger. Von diesem König sprach man öfter als vom Herrgott in der Svenssonschen Hütte; am liebsten hätte der Vater alle drei Söhne nach ihm benannt. Warum das so war, wusste Sven höchstens zur Hälfte zu sagen.