Impressum

Isabel Leyla Erdem

Hasta Siempre, Bruder

Tod im Bundestag

Roman

ISBN 978-3-95655-015-7 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-014-0 (Buch)

 

Lektorat: Jennifer Domnick

Gestaltung des Titelbildes: Simon Erdem

 

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PROLOG

„Schau dir die Brücken an, Marc! Da wird einem ganz mulmig. Augen zu und durch, so muss man es machen ...“

 

30. Mai, 8.00 Uhr, Berlin: Der Abgeordnete Dr. Michael Meyer wurde heute Morgen tot in einem Gebäude des Deutschen Bundestags aufgefunden. Aller Wahrscheinlichkeit nach beging er Suizid, indem er sich von einer zwanzig Meter hohen Brücke im Paul-Löbe-Haus stürzte. In den vergangenen Jahren war der querschnittsgelähmte Richter mehrfach in die Schlagzeilen geraten. Als parteiloser Kandidat zog er vor drei Jahren über die Liste der SPD in den Bundestag ein. Bald darauf traten Unstimmigkeiten zwischen ihm und seiner Fraktion auf. Trotzdem übernahm der ehemalige rheinland-pfälzische Verfassungsrichter eine Reihe wichtiger Ämter für die Sozialdemokraten. Auch über die eigenen Reihen hinaus wurde er als außerordentlicher Jurist hoch geschätzt.

 

Augen zu und durch, so muss man es machen ...

1. TEIL

Die Notwehr ist eine der natürlichsten Erscheinungen des tierischen Lebens. Es ist ganz gleichgültig, ob wir sie nur als individuelle Reaktion des einzelnen Geschöpfs oder als gemeinsame Reaktion eines Kollektivs vorfinden. Nach dem Zeugnis der Gelehrten, die das Leben der Bienen studieren, greifen die Bienen, die den Eingang des Bienenstocks bewachen, jede fremde Biene an, wenn diese in den Stock einzudringen versucht, um Honig zu stehlen, und stechen sie. Ist aber eine fremde Biene bereits in den Stock eingedrungen, wird sie sofort umgebracht, sobald man sie dort vorfindet.

(Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, 1929, S. 152)

1

Die Fensterrahmen klapperten. Zweige schlugen gegen die Mülltonnen, eine Katze schrie empört in die Nacht. Der Wind pfiff um das Gemäuer auf der Suche nach einer Spalte in der Fassade.

Sie lauschte. Es beruhigte sie, auf der richtigen Seite zu sein. Im Inneren der menschlichen Behausung. Das Kind neben ihr schlief unruhig, seine Arme zuckten, schwarze Locken klebten an seiner Stirn. Seine zu dünnen Beine lagen ineinander verdreht und zitterten. Sie fühlte, dass er die Decke abgestrampelt hatte. Ihre Hand tastete danach und zog sie behutsam über den Jungen. Sie vernahm einen erleichterten Laut, gefolgt von seinem gleichmäßigen Atem. Hannah öffnete die Augen. Es war an der Schwelle zum Tag, zu früh noch, daran zu denken. Sie schlief wieder ein.

 

In der Kanzlei schaltete sie die Kaffeemaschine ein. Dabei warf sie einen Blick auf den Wandkalender. Verhandlung im Amtsgericht Tiergarten. Ein Einbruchsdiebstahl. Sie rief Julius an, um ihn zu erinnern. Er war noch mit einer anderen Mandantin beim Jugendamt, in einer Scheidungssache. Die Frau wollte ihren Sohn zurück. Hannah dachte an ihren eigenen. Was für ein Glück sie doch hatte. Ruckartig griff sie nach ihrer Tasse und ging ins Arbeitszimmer.

Auf der linken Seite ihres Schreibtischs lag die laufende Kanzleiarbeit. Rechts erinnerte ein Stapel loser Papiere an ihre Dissertation. Verdammt. Seit Wochen war sie mit anderen Dingen beschäftigt als mit internationaler Rechtshilfe zwischen Deutschland und Lateinamerika. Als ihr der Freiraum neben ihrem Computer ins Auge sprang, seufzte sie. Vermutlich hatte Julius wieder ihre Unterlagen „sortiert“. Von einem ihr unbekannten Ordnungsfanatismus getrieben. Danach fand sie nichts mehr wieder.

Hannah rührte einen Löffel Zucker in ihren Kaffee, nahm einen Schluck und machte sich an die Arbeit. Als erstes musste sie einen Termin für die Sozialrechtsberatung verschieben. Sie sah kurz in der Akte nach. Ärgerlich. Wie gut hätte sie die Familie beraten können. Sie durfte nicht. Noch nicht. Dabei hatte sie ein nervenaufreibendes Jurastudium hinter sich. Neben ihrer Arbeit als Anwaltsgehilfin. Das hatte ihr zumindest ein eigenes Büro und eine kleine Gehaltserhöhung eingebracht. Doch solange sie keine Rechtsanwältin war, blieben Beratungen und Gerichtstermine weiter an Julius hängen. Um jeden Fall zu kennen, verbrachte er seine Nächte oft auf dem Sofa in ihrem Büro. Es war zu viel für ihn. Das wusste sie. Und er wusste es auch. Dafür verschwendete sie ihre Kraft mit unsinniger Sekretariatsarbeit. Allein dieser Kalender! Er nahm die halbe Rückwand ihres Büros ein. Gespickt mit Klebezetteln. Aktenzeichen über Aktenzeichen. Rasch sah Hannah die Faxe vom Vortag durch und trug die Fristen ein. Am Telefon verlangte ein potentieller Mandant einen Termin für die Erstberatung. Aufenthaltsrecht. Gleichzeitig rief Julius auf ihrem Handy an. Er suchte den Gerichtssaal. Als ob es keine Raumpläne gäbe.

Hannah kam Julius entgegen, wo sie konnte. Doch es gab eine Grenze ihrer Belastbarkeit, die sie beide kannten. Und die hieß Mirko.

 

Ihr Chef kam in ihr Büro gestürmt, als Hannah bereits den Computer ausgeschaltet hatte. Dabei vergaß er, die Tür zu schließen, sodass sie mit einem lauten Knall zuschlug. Wie üblich. „Ich habe was für dich!“ Immer das Gleiche, wenn sie mal zeitig gehen wollte.

„Keine Angst, nicht für die Rechtsanwältin, sondern für die Doktorin in dir.“

„Einer der beiden Titel würde mir schon reichen“, murmelte sie.

„Hast du mal von einer Gruppe namens Estroja gehört?“

Sie schüttelte den Kopf. „Klingt wie eine Tankstelle.“

„Oh, oh. Da musst du noch einiges recherchieren, Kollegin. Estroja kommt von Estrella Roja, roter Stern. Wirklich kreative Revoluzzer ...“, sagte er. „Das war anscheinend eine chilenische Guerillagruppe, nach der international gefahndet wurde, weil sie auch im Ausland aktiv war. Angeblich sind ihre Mitglieder nach Chile ausgeliefert worden oder einfach verschwunden. Auch in Deutschland gab es ungeklärte Todesfälle.“

Hannah zog die Augenbrauen hoch. „Ich habe noch nie von denen gehört. Wie kann das sein?“

Julius hielt ihr einige Seiten Papier hin. „Es scheint eine kleine Gruppe gewesen zu sein. Ich bin zufällig über eine Anwaltsmailingliste drauf gestoßen. Hab dir die Homepage rangeschrieben. Sonst findet man im Internet nichts dazu. Der Text ist immerhin über dreißig Jährchen alt. Wundert mich, dass er überhaupt archiviert ist.“ Hannahs Augen suchten den Namen des Autors. Miguel Meyer. Der Artikel war in der familiares – Angehörigensolidarität erschienen.

„So, das war’s auch schon.“ Julius verließ den Raum.

Erleichtert setzte sie sich auf das Sofa und begann zu lesen. Dann ging sie eben ein andermal mit Mirko in den Zoo.

„Julius!“, rief sie kurze Zeit später. Seine Tür stand auf. Sie wedelte mit dem Artikel. „Echt brisant, das hier. Seltsam, dass er nur in diesem kleinen Blatt veröffentlicht wurde.“

„Wahrscheinlich liegt es genau daran“, warf er ein.

„Ein illegales Netzwerk in Europa. Ein Auslieferungsverfahren, das mit Toten in einem deutschen Gefängnis endet. Wenn das stimmt, was er schreibt ...“

„... dann bringt das deine Diss’ voran!“

„Heh, bin ich so egoistisch? Aber im Ernst, Julius. Stell dir vor, die BRD hätte dem Pinochet-Regime Rechtshilfe geleistet und die Chilenen in den Tod abgeschoben. Oder getrieben. Wegen irgendwelcher nie aufgeklärter Taten. Das ist doch ein Skandal.“

Julius hob die Schultern. „Deutsche Unternehmen haben damals Pinochet gratuliert. Was will man erwarten?“

„Na, ein kleiner Unterschied besteht wohl noch zwischen Wirtschaft und Staat. Und wenn es nur die Bindung an das Grundgesetz ist.“ Hannah sah sich nach dem Telefon um. „Hier steht ein Impressum. Ich will rausfinden, wer der Verfasser ist. Klingt nämlich nach einer Quelle aus dem Umfeld der Gruppe.“ Sie zog das Telefon aus einer seiner Akten. Aus der Akte Lackovic. Verdammt. Bereits im Flur, sagte sie noch: „Natürlich kann es auch ein Spinner sein. Aber wenn nicht, hab ich endlich einen brisanten Einzelfall.“ Sie tippte eine Nummer ein.

„Hab ich’s doch gleich gewusst“, triumphierte Julius, bevor sie leise seine Tür schloss.

Eine halbe Stunde später fand sie ihn rauchend in der Küche. Auf die beschlagene Fensterscheibe hatte er eine Grimasse gemalt und darunter „Hannah“ geschrieben. Sie ignorierte ihr Portrait und riss das Fenster auf. Geraucht wird nur bei offenem Fenster! „Mensch, weißt du, wer der Verfasser ist?“, fragte sie.

„Hast du mit ihm gesprochen?“

„Das geht nicht mehr“, sagte sie, „er ist tot.“

„Wie, er ist tot? Ist er etwa ein Verschwundener?“

„Das nicht. Aber Miguel Meyer heißt eigentlich Michael Meyer, Dr. Michael Meyer.“ Julius blickte verwirrt. „Der Abgeordnete!“, rief sie. „Der sich im Bundestag von der Brücke gestürzt hat.“

„Der Behinderte?“, fragte er verdutzt.

Hannah nickte. „Keine Ahnung, was er in den Siebzigern gemacht hat. Und warum ein anderer Name unter dem Text steht.“

„Interessant ist es schon.“

„Jedenfalls nicht nur ein Spinner“, sagte sie.

Im Internet las sie einen kurzen Lebenslauf von Dr. Michael Meyer. Geboren 1957 in Mannheim. Aufgrund eines Selbstmordversuchs seit 1977 querschnittsgelähmt. Abitur 1980, danach studierte er in Trier Rechtswissenschaften. Es folgte ein steiler Aufstieg. Promotion neben der Tätigkeit als Rechtsanwalt. Danach Übernahme des Richteramts am Sozialgericht. Später Richter am Landesverfassungsgericht Rheinland-Pfalz. Ende der neunziger Jahre trat er aus der SPD aus, der er seit seiner Jugend angehört hatte. Seit 2004 parteiloser Abgeordneter im Bundestag. Über die Liste der SPD. Für seine ehemaligen Genossen saß er im Rechtsausschuss, im Ausschuss für Menschenrechte und im Parlamentarischen Kontrollgremium für die Geheimdienste. Außerdem in der AG Lateinamerika der Fraktion. 2007 beging er Selbstmord.

Den letzten Eintrag las Hannah zweimal. Das einzige, was sie von Meyers Leben gewusst hatte. Man konnte von Abgeordneten sagen, was man wollte. Dieser Werdegang nötigte ihr einigen Respekt ab. Bis auf das Ende natürlich. Sie griff noch einmal zum Telefon. „Ich hab eben schon angerufen, wegen dem Artikel von Dr. Meyer. Haben Sie vielleicht später noch was von ihm gedruckt? ... Oder über das Thema? ... Klar, lange her. Danke, dann wende ich mich am besten an diese Dame.“ Hannah notierte eine Adresse. In ein Altenheim nach Oberschöneweide konnte sie heute nicht mehr fahren.

Sie fuhr nach Friedenau, ihren Sohn abholen.

 

„Na, Mirkolein, alles klar?“

„Alles paletti!“ Das Kind fegte mit dem rechten Arm die Legosteine vom Tisch. „Will nicht mehr Legos spielen.“

„Kein Grund, alles zu verwüsten.“

„Ich verwüste gern alles. Los jetzt, Mama! Muss mich ja auch mal bewegen.“

Lachend zog sie den Rollstuhl zurück. „Woher hast du das denn?“ Sie löste die Gurte um Mirkos Hüfte und Schienbeine, wartete, bis sie seinen Arm um den Hals spürte und trug ihn ins Kinderzimmer.

„Schuhe aus, Mama!“, verlangte ihr Sohn. Sie befreite seine Füße von den festen Schuhen. Dann sammelte sie die Legosteine auf.

Anschließend rief sie ihren Bruder an. „Felix, man hört ja gar nichts mehr von dir. Anscheinend hast du lange keinen Streit mehr mit der Staatsmacht gehabt.“

„Lass mich wenigstens Hallo sagen“, sagte er. „Ob du es glaubst oder nicht: Die Erstsemester müssen gerade ohne mich protestieren. Ich will endlich einen Abschluss. Und bei dir? Ist was passiert?“

„Kannst du Mirko am Wochenende nehmen?“

„Ich lerne für eine Klausur über das zentrale Nervensystem. Aber für meinen Neffen hab ich doch immer Zeit, bring ihn einfach vorbei.“

Ihr Sohn lag unter dem Tisch im Kinderzimmer und zählte Buntstifte. „Mirkolein, du gehst nachher zu Felix, alles klar?“

Er legte den Kopf schief und sagte verschmitzt: „Ja, ja.“

 

„Will nicht. Nein, nein, nein!“ Er warf den Kopf herum, sein rechter Arm sauste durch die Luft.

„Mirko!“ Die Krankengymnastin hielt mit festem Griff seinen Oberkörper umschlungen.

„Bah!“, schrie Mirko.

„Mirkolein, mein Großer“, sagte Hannah, „wir gehen gleich ein Eis essen, ja?“

Er schob die Unterlippe vor. Die Krankengymnastin stellte ihn ins Stehgerät  und schnallte seine Beine fest. Sie legte eine Stoffpuppe vor ihn und fragte nach dem Kindergarten. Mirko stieß die Puppe weg. Die Krankengymnastin erzählte, dass ihre Tochter neulich in Brennnesseln gefallen war. Hatte sie überhaupt eine Tochter? Hannah trat aus seinem Blickfeld. Nicht umdrehen, sieh aus dem Fenster! Aus den Augenwinkeln sah sie seine Arme zucken. Da hörte sie ihn schon schreien. Die Krankengymnastin sprach leise weiter. Er versuchte, sich zu Hannah zu drehen, wodurch die Spastik in seinen Beinen verstärkt wurde. „Mama!“, rief er flehend. Draußen tropfte der Regen von den Zweigen. Eis essen, blöde Idee.

„Psssch“, machte die Krankengymnastin, „wie heißt noch dein Freund, der so schnell laufen kann?“ Mirkos Nacken färbte sich dunkelrot, seine rechte Hand krallte sich am Tisch fest und er ließ seine Stirn auf die Platte knallen. Hannah stürzte zu ihm und löste die Gurte. Er presste sein Gesicht in ihre Armbeuge und wimmerte. Sie wiegte ihn. „So geht es doch nicht“, sagte sie leise.

„Nein“, sagte die Krankengymnastin, „so geht es wirklich nicht. Er weiß, dass Sie ihm helfen, dann beruhigt er sich nicht. Es macht mir auch keinen Spaß, Kinder schreien zu lassen.“

War es nicht gut, dass er das wusste? Dass ihn seine Mutter nicht vor Schmerzen weinen ließ? Hannah entschuldigte sich bei der Krankengymnastin. Die strich Mirko übers Haar, doch er schlug nach ihrer Hand. Hannah entschuldigte sich ein weiteres Mal.

 

Später brachte sie ihn zu ihrem Bruder. Dort lachte er wieder.

„Bei dem Wetter? Schwimmt das Eis da nicht weg?“

„Weiß nicht ...“ Mirko kniff angestrengt die Augen zusammen.

„Was weißt du nicht?“, fragte Felix und biss sich auf eine Haarsträhne. Das würde er sich wohl nie abgewöhnen.

„Weiß nicht ...“, murmelte Mirko.

„Ich weiß nicht, was du nicht weißt.“

„Und ich weiß nicht, was du nicht weißt!“, sagte ihr Sohn. Hannah blieb in der Wohnungstür stehen. Stolz beobachtete sie ihn. Er beachtete sie nicht, ins Gespräch vertieft.

„Das weiß ich meistens auch nicht, sonst wüsste ich es ja“, sagte Felix.

„Wie meinst du das?“, piepste Mirko.

„Weißt du das nicht, du Schlaumeier?“, fragte ihr Bruder und küsste ihn auf die Stirn.

„Felix, bin ich ein Schlaumeier?“

„Auf jeden Fall“, hörte sie ihn versichern. Was hatte sie für ein Glück mit ihrem Bruder.

„Muss ich auch“, bemerkte Mirko.

„Was meinst du?“

„Na, schlau sein!“

Sie zog die Tür hinter sich zu. Ihr Sohn war einfach zu schlau.

2

In Köpenick gab es schöne Seen und verlassene Bahnhöfe. Die NPD saß hier in der Bezirksversammlung. Die Arbeitslosigkeit lag bei zwölf Prozent. Kleine Fenster lugten aus der abblätternden Fassade des Pflegeheims. Lange Gänge dienten als Aufbewahrungsort für gekrümmte Menschen mit Blicken in die Vergangenheit. Regina Zinntals magerer Körper war ganz in schwarz gekleidet. Ihr Rollstuhl widersprach den technischen Errungenschaften. Ob der überhaupt noch rollte? An ihrem Mund befand sich eine Konstruktion, die Hannah zuerst als Hilfe zum Trinken oder Atmen missdeutete; auf den zweiten Blick erkannte sie eine Zigarettenhalterung. Was es alles gab! Hannah wollte ihren Besuch erklären, doch die andere kam ihr zuvor.

„Danke dir für dein Erscheinen ... in meinem trüben Alltag.“ Frau Zinntal atmete zischend ein und aus und unterbrach ihre Worte durch lange Pausen. Ihre Stimme klang rau und heiser. „Das Alter ... die Leute verstehen es nicht. Zugleich ... ist es unumgänglich. Das macht Angst ... deshalb sind sie so. Im Heim ...“, sie streckte ihren Zeigefinger in die Höhe, „gibt es Schwestern ... die könnten meine Urenkel sein. Sie behandeln uns ... wie Kinder. Sie verkennen den Unterschied ... zwischen Kommen und Gehen. Bei Leuten deines Kalibers ...“, der Finger flog auf Hannah zu, „spreche ich lieber von gleich zu gleich ... und duze dich ganz unumwunden.“

Verdutzt nickte Hannah. „Ich finde das Du auch besser, sonst fühlt man sich so alt!“ Verdammt, was sagte sie da?

Regina Zinntal lachte, wie über einen guten Witz. „Wie jung bist du?“

„35 geworden“, murmelte Hannah.

„Komm mit mir nach hinten“, verlangte Regina Zinntal. „Ich zeige dir ... das Paradies.“ Sie kicherte kehlig. Als sie ihre Aufforderung wiederholte, verstand Hannah. Sie löste die Bremsen des Rollstuhls. Wider Erwarten fuhr das Ding. Die alte Frau steuerte sie durch eine Feuerschutztür ins Freie. „Garten kann man es kaum nennen“, erklärte sie. „Aber die Relativität der Schönheit ... im Verhältnis zum Hinterhof ....“ Nach einigen Metern Kiesweg fragte sie: „Kennst du dich ... mit Rollstühlen aus?“

Hannah verlangsamte das Fahrttempo und murmelte entschuldigend: „Mein Sohn ...“

Regina Zinntal fiel ihr ins Wort: „Du gefällst mir. Du kannst ... mich häufiger besuchen. Aber was willst du eigentlich? Wenn ich ... richtig informiert bin, hat es mit der ... ,Angehörigensolidarität‘ zu tun?“

Richtig informiert? Einen Moment lang war Hannah irritiert.

„Was genau ... möchtest du wissen?“

„Das weiß ich eben nicht so genau“, gestand sie. „Mich interessiert der Artikel von Meyer über die chilenischen Terroristen. Aber auch der Kontext und eure Zeitschrift.“

„Also alles.“

„Wenn das geht.“ Der Weg endete. Hannah stoppte den Rollstuhl unter einer überdachten Laube aus rostfarbenem Geäst und setzte sich auf einen feuchten Baumstamm.

„Wisse, meine Gute“, sagte Regina Zinntal, „meine Konzentration, die Sprache, die Ausdauer ... und auch mein Erinnerungsvermögen ist begrenzt.“ Hannah sah sie ermutigend an. „Anfang der siebziger Jahre haben sich ... in Westdeutschland Exilanten zusammen geschlossen, deren Angehörige in Lateinamerika im Gefängnis saßen. Die Gruppe ... hat versucht, die Bundesrepublik zur Aufnahme von Flüchtlingen zu bewegen. So entstand die familiares. Ich habe ... die Zeitschrift gegründet, weil mein Jüngster in die Tochter ... eines Argentiniers verliebt war. Sie hatte ... Schlimmes erlebt. Schlimme Dinge, während der Diktatur. Aber du kannst beruhigt sein ... Heute leben die beiden glücklich in Argentinien.“ Regina Zinntal lachte schmatzend. Hannah war nicht beruhigt. Was ging sie das Liebesleben von Frau Zinntals Sohn an?

„In dieser Gruppe war auch Miguel.“

„Miguel?“, fragte Hannah überrascht. „Hieß er nicht Michael?“

„Er hatte einen deutschen Vater und eine chilenische Mutter ... Sie haben ihn Michael getauft. Aber in Chile ... machten sie daraus Miguel. Es war ein ziemliches ... Hin und Her in seiner Familie. Er wurde hier geboren, aber seine Eltern sind mit ihm nach Chile ausgewandert, als er noch klein war. Nach dem Putsch haben sie ... ihn ins Flugzeug gesetzt und wieder hergeschickt. Sie wollten nachkommen. Aber beide sind in Chile verschwunden ... wahrscheinlich ermordet.“ Regina Zinntal lehnte sich erschöpft zurück. „Miguel war in keiner Kultur richtig zu Hause. Reychina ... hat er mich am Anfang genannt. Das war lustig, denn er sah sehr deutsch aus ... Wenn er etwas nicht verstand, hat er nachgehakt und Widersprüche zutage befördert. Man konnte ihm nichts verheimlichen, gar nichts ... Er war ein aufgeweckter Kerl. Deshalb hat er sich dann auch mit dieser Guerillagruppe beschäftigt ...“ Sie brach unvermittelt ab. „Wenn du mehr wissen willst, komm noch einmal wieder.“

Hannah fuhr auf. „Ich wollte dich nicht anstrengen.“

„Sei nicht so höflich.“ Die alte Frau verlangte eine Zigarette zum Abschluss. Ihre zitternden Hände dirigierten. Hannah zog eine Zigarette aus dem Leinensäckchen an der Kopflehne und steckte sie in das Gestell. Ob es selbstgebaut war? Womöglich hatte die Frau es eigens konstruieren lassen. Um auch im Alter ihrer Sucht nachgehen zu können. Faszinierend. Mit trockenen Lippen schnappte Regina Zinntal danach und nahm gekonnt einen Zug. Sie stieß einige Rauchkringel aus, bevor sie sagte: „Die meisten Informationen ... würdest du bestimmt bei Miguel finden. Er hat viel gesammelt. Ich weiß nicht ... wo seine Unterlagen gelandet sind, nachdem ...“ Sie stöhnte leise. „Ich weiß nicht mal, wo er gelandet ist.“

Hannah schlenderte zum S-Bahnhof Schöneweide zurück. Seit der Geburt ihres Sohnes fragte sie sich oft, wie es wohl ist, wenn einem der Körper nicht gehorcht. Wenn man anderen vertrauen muss. Für Kinder war das noch einfach. So war es doch? Doch Regina Zinntal, eine emanzipierte Frau. Nach einem selbstbestimmten Leben. Mit einem Mal war man abhängig. Wehrlos, ausgeliefert. Doppelt eingesperrt. Hannah schämte sich vor der alten Frau. Weil der Gedanke, später in einem Pflegeheim zu leben, ihr Gänsehaut verursachte. Rasch schob sie die Vorstellung beiseite. Den Rest des Weges grübelte sie über ihre Dissertation nach.

 

„Die kann sich ausdrücken wie ein Buch!“ Hannah räumte die Spülmaschine aus. Julius lehnte am Küchenschrank. Wie immer stand er ihr im Weg. Sie reichte ihm eine saubere Tasse und schob ihn Richtung Kaffeemaschine.

„Und, was sagt das Buch so?“

„Sie hat mir die Tür geöffnet zu einer Welt, von der ich keine Ahnung hatte.“

Er kicherte. „Jetzt redest du schon selbst wie ein Buch. Bleibst du an der Sache dran?“

„Darauf kannst du dich verlassen.“

„Vielleicht solltest du die Gespräche im Altenheim durch herkömmliche wissenschaftliche Methoden abrunden. Hat der Meyer keine Familie, die seinen Nachlass verwaltet? Frag doch mal im Bundestag nach, vielleicht stellen die dir den Kontakt her.“

Was hatten eigentlich Mirkos Buntstifte im Küchenschrank zu suchen? „Immer mit der Ruhe ... wie du weißt, habe ich selbst Familie. Und du brauchst mich ja auch manchmal.“

„Oh ja! Eine neue Akte würde ich dir gern noch aufs Auge drücken. Es geht um einen Abiturienten, der am 1. Mai eine Flasche auf die Polizeikette geworfen haben soll, ermittelt wird wegen gefährlicher Körperverletzung, dabei war es wohl eine Plastikflasche. Behauptet jedenfalls seine Mutter. Hast du meine Zigaretten gesehen?“ Er schenkte sich Kaffee ein. Ohne Drogen kam ihr Chef einfach nicht durch den Tag. „Ich muss gleich zu meinem Lieblingsrichter“, erklärte er. Julius hatte bereits zwei Befangenheitsanträge gegen ihn gestellt.

Immer wenn ihr Chef bei Gericht war, klingelte das Telefon am laufenden Band. Jetzt war Herr Lackovic am Apparat. Er hatte einen Brief von der Ausländerbehörde bekommen. Seine Worte gerieten durcheinander und es dauerte, bis ihm die deutschen Begriffe einfielen. Die Behörde hatte ihm geschrieben, dass sie ihn ohne Ankündigung abschieben könnten. „Wo sind Sie jetzt?“, fragte Hannah.

„In einer Telefonzelle.“

„Wenn Sie nach Hause gehen ... die Ausländerbehörde hat Ihre Adresse. Sie kommen und holen Sie.“ Im Flur blätterten zwei neue Mandanten in Modemagazinen und verfolgten interessiert das Gespräch.

„Wann kommen sie?“, fragte Herr Lackovic.

„Die können immer kommen, auch in der Nacht.“

„Was kann man jetzt machen?“, fragte er.

Hannah atmete tief durch. Die juristischen Möglichkeiten waren ausgeschöpft. Herr Lackovics Asylantrag war abgelehnt worden. Endgültig. Langsam sagte sie: „Gar nichts. Es tut mir leid. Haben Sie Freunde oder Verwandte? Wenn Sie zu Ihrer Wohnung gehen, können sie Sie holen, verstehen Sie? Die nehmen Sie mit nach Serbien, wenn ...“

„Ja ich verstehe, verstehe“, unterbrach er, „Sie können nichts machen“, bevor er auflegte. Einer der Wartenden regte sich. „Ausländerbehörde hat auch Adresse von Freunde und Verwandte“, sagte er. Seinem Akzent nach kam er aus der Türkei.

Als ob sie das nicht wüsste.

 

Als Hannah Mirko abholte, erzählte sie ihrem Bruder von Estroja. „Krass“, sagte Felix. „Chilenische Freiheitskämpfer in der BRD – und niemand bekommt was davon mit.“

„Juristisch betrachtet handelt es sich eher um eine terroristische Vereinigung“, bemerkte sie.

„Du kannst sie nicht einfach Terroristen nennen. Du weißt noch gar nicht, was sie getan haben. Wahrscheinlich haben sie gegen Leute gekämpft, die selber Terroristen waren“, erwiderte er stürmisch.

„Aha, und ihre Attentate wären dann eine Art Antiterrorkampf?“, fragte sie amüsiert.

„Wenn du es so ausdrücken willst.“ Felix knöpfte Mirko die Jacke zu und zwickte ihn in die Wange. „Stimmt’s, Schlaumeier? Wenn man zu bösen Leuten böse ist, ist das gut und nicht schlecht.“ Ihr Sohn überlegte kurz und nickte ernst.

„Du hast dir ziemlich schnell eine Meinung von den Leuten gemacht, ohne irgendeine Ahnung zu haben. Etwas differenzierter kann man es wohl betrachten, oder? Immerhin studierst du. Wenn auch nur Medizin ...“

„Bist du jetzt sauer, oder was?“, fragte Felix verblüfft.

„Nein, warum?“, bestritt Hannah. Wahrheitswidrig. „Ich stelle bloß fest, dass du keine Ahnung hast. Also tu mir den Gefallen und lass mein Kind damit in Ruhe.“ Sie packte Mirko und verließ die Wohnung.

„Ach geh“, hörte sie Felix wütend rufen, „bevor der böse Onkel ihn zum Terroristen ausbildet!“ Anschließend winkte er aus dem Fenster. Wahrscheinlich hatte er ein schlechtes Gewissen. Sollte er ruhig.

„Tschühüüs“, krakeelte ihr Sohn und versuchte zu winken. Hannah hob kurz ihre Hand. Für Mirko.

3

Nach ausgiebiger Durchleuchtung ihrer Tasche durfte Hannah das Jakob-Kaiser-Haus betreten. Hinter der Schranke sah sie sich um. Hier arbeiten also die Volksvertreter. Steile Treppen führten an betonierten Wänden in die Höhe. Wer war bloß Jakob Kaiser?

Die Büroleiterin, bei der Hannah sich angemeldet hatte, begrüßte sie überschwänglich. Sie hatte kurze blondierte Haare und sprach in einer Tonart, die auf eine Berliner, vielleicht ostberliner Herkunft schließen ließ. Ihre Augen schienen riesig. Das lag an einer extravaganten Brille mit rotbraunen Zacken an den Schläfen. Oben Tigerstreifen, unten randlos. Frau Wedekin führte Hannah zielsicher zu einem gläsernen Fahrstuhl, der kaum wahrnehmbar in den dritten Stock schwebte. Man konnte den Himmel und das Reichstagsufer sehen. Treppen über Treppen.

„Beeindruckend, nicht wahr?“

„Oh ja“, beteuerte Hannah. Das Wort Volksvertretung rotierte in ihrem Kopf. Kam ‚vertreten‘ ursprünglich von ‚treten‘? Und wer war das Volk?

„Wie Alcatraz, das Gefängnis. Der Bundestag ist ja auch so eine Insel für sich.“ Hannah hatte keine Ahnung, wovon die Dame sprach.

„Ich kann das beurteilen, ich arbeite seit vier Jahren hier“, erklärte Frau Wedekin. „Erst habe ich Michaels Büro gemanagt. Wir waren ein unabhängiges Büro, ein Gallisches Dorf im Bundestag. Danach bin ich Herrn Hegener zugeteilt worden. Da spürt man die Parteiknute.“ Sie seufzte. Hannah löste ihren Blick von einem kopfüber hängenden Steinkunstwerk und fixierte die Tigerstreifen.

„Leider kann man nichts ungeschehen machen. Ich habe Glück, dass ich übernommen wurde. Den Rest unseres Büros haben sie auf die Straße gesetzt. Es gibt auch Nette in der Partei. Nach Michaels Tod haben uns welche unterstützt, von denen hätte ich das gar nicht erwartet. Wir standen regelrecht unter Schock, müssen Sie wissen.“

Hannah gab einen verständnisvollen Laut von sich und folgte Frau Wedekin zu ihrem Arbeitsplatz. Auf einem Schild neben der Tür zum Vorzimmer war der Name ihres neuen Chefs zu lesen: Christian Hegener, MdB, Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Der Abgeordnete war in einer Sitzung, auf seinem langen Schreibtisch türmten sich Gesetzesentwürfe. Zur Straßenseite hin war der Raum verglast. Hannah setzte sich auf das mondäne schwarze Sofa. Auf einem Bildschirm ließ sich die Bundestagsdebatte live verfolgen, stumm geschaltet. Auf dem Tisch stand eine Vase, in der orangefarbene Plastikblüten ihre Köpfe hängen ließen. Wer stellt sich bloß verwelkte Kunstblumen ins Zimmer?

„Für mich ist es schwierig zu sagen, an was Michael zuletzt gearbeitet hat.“ Frau Wedekin nahm sich mit einer Serviette Zuckergebäck aus einer gläsernen Schale. „Wir erstickten geradezu in Arbeit. Vieles wusste ich auch gar nicht. Was seine Vergangenheit angeht, das haben wir erst später erfahren. Er hatte schreckliche Dinge erlebt.“

„Mmh?“, fragte Hannah.

„Er hatte seine Eltern in Chile verloren.“

„Davon habe ich gehört. Bei dem Putsch“, murmelte sie.

„Danach in Deutschland ist er auch nicht mit offenen Armen empfangen worden. Sonst hätte er als junger Mann kaum versucht, sich umzubringen.“ Frau Wedekin sah sie scharf an, dann senkte sie den Blick und zerkrümelte ihr Gebäck. „Ich war ganz fertig, als ich das in der Zeitung gelesen habe. Dabei war er so lebenslustig. Es gibt überall welche, die vom Unglück verfolgt werden. Die haben schon einen schlechten Start ins Leben und dann geht es weiter, bis ...“, sie seufzte.

„Gab es Kollegen, mit denen er seine Arbeit besprochen hat?“, lenkte Hannah das Gespräch auf den Zweck ihres Besuchs.

„Darauf können Sie wetten, er besaß einen ganzen Stab von Mitarbeitern. Außerdem hat er viel mit anderen Abgeordneten aus dem Rechtsausschuss oder dem PKG zusammen gearbeitet. Wissen Sie, was das PKG ist? Das parlamentarische Kontrollgremium. Für die Geheimdienste! Es tagt da unten, abgeschnitten von der Außenwelt.“ Geheimnisvoll zeigte sie auf den hellblauen Teppich. „Wenn Sie mich fragen: Das Parlament ist eigentlich eine Farce. In der ganzen Zeit hat Michael vielleicht eine Handvoll Gesetze selbst gelesen. Den Rest fassen die Mitarbeiter zusammen. In den Ministerien arbeiten sie Jahre an den Gesetzesentwürfen und dann werden sie stapelweise durch den Rechtsausschuss gepeitscht. Tolle Gewaltenteilung.“

„Mit dieser Einstellung sind Sie hier richtig?“, rutschte es Hannah heraus.

„Das kann man nicht gerade sagen. Aber man freut sich, wie gesagt, wenn man abgesichert ist. Michael war anders. Er wollte wirklich was verändern in der Welt. Und er hatte Spaß dabei. Das war seine chilenische Mentalität. Einmal ist er uns bei einer Sitzung zusammengeklappt, weil er zwei Tage nicht geschlafen hatte. Zwei Tage! Was ist das erste, was er danach sagt? Dass es praktisch ist, im Rollstuhl zu sitzen. Da kann man nämlich nicht aus den Latschen kippen.“ Sie lächelte.

„Sein Tod war bestimmt ein schwerer Schlag für Sie.“

„Für uns alle“, sagte Frau Wedekin. „Sie müssen sich vorstellen: Ein Arbeitstag dauert hier in den Sitzungswochen zwölf Stunden oder länger. Als er gestorben ist, fühlten wir uns wie Familienangehörige. Er hatte auch sonst niemanden.“ Die Büroleiterin zupfte an ihrer Serviette. „Fassungslos waren wir. Es dauerte eine Weile, bis wir es glauben konnten.“

Hannah unterdrückte ein Seufzen. Meyer hatte also keine Familie, die seinen Nachlass verwaltete. Blieben nur die Kollegen. Sie fragte: „Wie viele waren Sie im Büro?“

„Außer mir zwei Referenten und ein persönlicher Mitarbeiter, Stefan Jensen. Wir hatten damals auch einen Praktikanten, Marc. Michael kannte ihn aus seiner Heimatstadt.“ Frau Wedekin trank schnell einen Schluck Wasser. „Gottchen, was wohl aus dem geworden ist, das war so ein Lieber. Ich würde wetten, dass er mittlerweile studiert. Wir anderen haben manchmal Kontakt, aber mit Marc habe ich nicht mehr gesprochen. Er hat einen Asthma-Anfall bekommen, als wir es erfahren haben. Vor dem Gebäude standen wir. Ich musste noch den Notarzt holen.“ Sie schwieg bestürzt. „Pfaffmann, so hieß er, Marc Pfaffmann. Michael hat ihn überall mit hingenommen. Vielleicht wenden Sie sich an ihn? Er könnte mehr wissen. Dann grüßen Sie ihn von mir! Und die Nummer von Stefan suche ich Ihnen raus, bei dem müssen noch Tonnen Papier lagern. Würde ich drauf wetten, dass er nichts weggeworfen hat.“

Na dann, blieb zu hoffen, dass die Dame noch keine Wette verloren hatte.

 

Bei Stefan Jensen erreichte sie nur einen Anrufbeantworter. Sie hinterließ keine Nachricht. Von dem Praktikanten hatte sie eine Mobilfunknummer. Beim zweiten Klingeln meldete er sich. „Spreche ich mit Marc, Marc Pfaffmann?“

„Ja, das bin ich.“ Eine sanfte Stimme, melodisch wie die eines Schuljungen.

„Mein Name ist Hannah Arndt, aus der Kanzlei Ohneweg in Berlin. Frau Wedekin hat mich an Sie verwiesen. Sie hat im Büro Meyer gearbeitet, im Bundestag.“ Hannah wartete einen Moment, aber er reagierte nicht. „Ich suche jemanden, der etwas über Meyers Arbeit zu Chile weiß.“

„Was wollen Sie?“ Heftig gesprochene Worte.

„Eigentlich wollte ich mich mit Ihnen treffen. Das ist besser als am Telefon.“

Sie hörte ihn schnell atmen. Sie zögerte. „Störe ich gerade? Ich kann später wieder anrufen.“

„Ja, bitte.“ Es folgte ein Klicken in der Leitung. Verwundert betrachtete sie den Hörer.

4

Gedanken krochen aus verschlossen geglaubten Türen. Frau Wedekin, Gerda Wedekin. „Darauf kannst du aber wetten!“-Gerda. Er zwang sich, ruhig zu atmen. Seine Stirn schmerzte, Tränen brannten hinter seinen Augen. Er drehte das Radio auf volle Lautstärke, heitere Musik. Langsam zählte er bis zehn, dann bis zwanzig. Als er bei fünfzig angekommen war, schlug er auf das Radio, riss das Fenster auf und streckte seinen Kopf hinaus. Regentropfen liefen ihm in den Nacken. Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und öffnete ein Internetfenster. Hanne Arnd? Hanna Arnt? Hannah Arndt. Sie arbeitete zusammen mit Dr. jur. Julius Ohneweg. Von ihm fand er ein Foto, von ihr nicht. Sie hatte auch keinen Dr. vor dem Namen. Schwerpunkte der Kanzlei: Strafrecht und Ausländerrecht. Berlin. Marc zählte noch einmal bis zehn.

„Ohneweg, Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“

„Ich möchte Frau Arndt sprechen.“ Er wartete, bis der Dr. jur. sie geholt hatte. Dann sagte er schnell: „Entschuldigen Sie, ich wollte nicht abweisend sein. Es ist ... also, es war nicht leicht für mich nach Michaels Tod. Weil, er hat mich einige Jahre aufgezogen. Als Sie angerufen haben ... Ich musste mich erst beruhigen. Jetzt können wir uns unterhalten.“ Er hörte sie Luft einziehen.

„Er hat Sie – was? Er hat Sie aufgezogen?“

„Ja, das kann man sagen.“

„Ohjeh, das wusste ich nicht. Sonst hätte ich natürlich nicht einfach drauflos gefragt.“

„Das konnten Sie doch nicht wissen.“

„Wollen wir uns nicht duzen?“, schlug sie vor. „Ich bin gerade erst aus der Uni raus. Du studierst doch auch?“

„Kann man sagen, ja. Jura und spanisches Recht.“

„Frau Wedekin hat mir erzählt, dass du bei ihnen im Praktikum warst. Sie lässt dich übrigens grüßen. Bist du noch da, Marc?“

In seinem Kopf stürmte es. Er biss sich mit aller Kraft auf die Unterlippe und zwang sich, zu antworten. „Ich weiß nicht ... ich weiß nicht viel über seine Arbeit. Außerdem wohne ich in Trier, das ist ziemlich weit weg.“

„Das ist tatsächlich zu weit für einen Kaffee.“

„Ich mache bald ein Praktikum in Potsdam, dann könnten wir uns vielleicht treffen, also, wenn Sie möchten. Bloß, die Anwältin dort ist etwas unorganisiert. Sie hat noch nicht gesagt, wann ich kommen soll.“ Er erklärte, die Anwältin sei Lateinamerikanerin. Ihr Name sagte Hannah Arndt nichts.

 

Am Tag darauf war der Kindergarten geschlossen. Betriebsausflug. Mirko robbte über das Parkett in der Kanzlei, während Julius Hannah in neue Fälle einarbeitete. Zwischendurch nahm sie im Vorraum Anrufe entgegen. Als sie in die Küche kam, saß Mirko bei ihrem Chef auf dem Schoß. Julius schob ihm gerade ein Stück Marmorkuchen in den Mund. Mit der anderen Hand drückte er seine Zigarette aus. Hannah sah ihn missbilligend an und strich eine Staubflocke aus Mirkos Haar. „Mein Sohn ist weder ein Staubwedel noch ein Rauchmelder!“ Mirko lachte ihr Kuchenkrümel in die Bluse. „Gerade hat dieser Marc angerufen“, sagte sie.

„Wolltest du dich nicht mit ihm treffen?“, fragte Julius.

„Das ist leider in weite Ferne gerückt. Die Anwältin, bei der er ein Praktikum machen wollte, muss jetzt plötzlich nach Chile.“

„Ausgerechnet, das Land scheint uns zu verfolgen. Und was macht der strebsame Jurastudent nun?“

„Naja, sie will ihn weitervermitteln. Es gibt doch jede Menge überforderte Anwälte.“ Sie musterte ihn gespannt.

„Hannah?“

„Julius?“

„Hannah und Julius!“, rief Mirko und schlug ihr seinen Arm auf den Kopf.

Ihr Chef runzelte mit gespielter Verwunderung die Stirn: „Sag mal, warum haben wir uns eigentlich noch keinen Praktikanten zugelegt? Die sollen so praktisch sein. Wenn auch eher theoretisch bewandert, man sollte sie Theoriekanten nennen.“

Sie zuckte mit den Achseln. „Ehrlich gesagt habe ich auch noch nie gehört, dass sie eine Hilfe sind.“

„Ach, im schlimmsten Fall schicken wir ihn Berlin angucken.“ Er sah sie streng an. „Raus mit der Sprache, Kollegin! Was hast du ihm gesagt, wann er hier anfangen kann?“

Sie prustete los. „Was glaubst du eigentlich? Noch gar nichts habe ich ihm gesagt. Aber er scheint ganz nett zu sein, kein typischer Jurist. Außerdem bringt er vielleicht meine Doktorarbeit voran. Und das käme auch dir zugute.“

„Über Umwege sozusagen. Gut, dann mach mal. Aber vergiss nicht, ihm noch eine Wohnung zu besorgen. In der Kanzlei wird das etwas eng, wir haben ja nur ein Sofa. Und Chefs gehen vor.“ Sie warf ein Papierkügelchen nach ihm.

Er war doch wirklich ein putziger Chef. Seit er als Referendar zu ihnen gekommen war, hatte sich ihr vertrautes Verhältnis kaum verändert. Sie hatte sich gefreut, als er die Kanzlei übernommen hatte. Viele Rechtsanwälte behandelten ihre Gehilfinnen von oben herab. Julius hingegen wollte Hannah als Partnerin. Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg.

 

Marc erwachte aus einem schlimmen Traum. Er fühlte sich müde und steif, also blieb er im Bett liegen und summte vor sich hin. Als das nichts half, schrammte er mit dem Fuß an der Wand entlang, bis der Schmerz in den Zehen unerträglich wurde. Nach einigen Minuten wurde der Traum unscharf. Er sprang aus dem Bett. Als er unter der Dusche stand, hörte er es klingeln. Er stieß die Badtür auf, rutschte aus und verlor kurz das Gleichgewicht. Fluchend lief er zum Schreibtisch. Sein Handy lag unter dem Zivilrechtsskript. Marc nahm ab, ohne auf das Display zu schauen. Am Telefon war die Anwaltsgehilfin aus Berlin, sie schlug ihm vor, in der Kanzlei Ohneweg sein Praktikum zu machen. Als er nicht antwortete, fragte sie verwirrt: „Störe ich wieder?“

„Ich bin nur überrascht“, sagte er schnell. „Positiv überrascht natürlich. Berlin ist besser als Potsdam, und Potsdam war schon besser als Trier.“

„Na dann. Komm, wann du willst“, sagte Hannah Arndt. „Die ersten Tage kann ich dich unterbringen, ich hab ein kleines Gästezimmer. Ehrlich gesagt ist es eher ein Abstellraum. Dafür wohne ich nicht weit von unserer Kanzlei.“

Angestrengt überlegte Marc, was er sagen sollte. „Wenn du es bereust, kannst du mich wieder wegschicken.“

Sie lachte vergnügt. „Lernen wir uns doch erstmal kennen. Da ist noch eine Sache: Ich habe einen Sohn. Manchmal sind die Leute erschreckt, wenn sie ihn sehen. Er ist anders als andere Kinder. Das soll er bitte nicht merken.“

„Ich war auch anders als andere Kinder“, sagte er nur.

 

Eine Woche später saß Marc auf der obersten Stufe des Marktkreuzes am Trierer Hauptmarkt. Menschen liefen über den Platz, stießen gegeneinander, ohne sich zu sehen. Am Brunnen fütterte eine luxemburgische Familie Tauben. Dem kleinen Jungen fiel sein Eis aus der Hand. Schrie er deshalb oder weil seine große Schwester ihres noch hatte? Marc entdeckte den Mann, der wegen einer Muskelstörung immer lachen musste. Bei seinem Anblick musste jeder lächeln, unwillkürlich. Manche Leute erkannten ihren Fehler und schauten schnell weg. Marc lachte ihn an und vielleicht lachte der Mann wirklich zurück. Eine junge Frau schob genervt einen Kinderwagen, an der Hand ein stolperndes Mädchen. Marc kannte sie, sie überquerte jeden Tag den Hauptmarkt. Vor einem Jahr hatte sie in demselben Wagen die Kleine geschoben, die sie jetzt hinter sich her schleifte. Manchmal machte Marc Faxen, wenn er den verklärten Blick des Kindes einfing. Heute wandte er sich ab. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und drehte seine Schirmmütze in den Händen. Hier saß er zu jeder Jahreszeit. Hier kannte er sich aus. Warum hatte er bloß ein Praktikum in einer unbekannten Kanzlei in Berlin zugesagt? Weil man Gelegenheiten ergreifen musste. Man musste sie ergreifen, bevor man es sich anders überlegen konnte.

Als drei junge Punks sich auf den Stufen niederließen und unter den abfälligen Blicken zweier vorbeiziehender Nonnen ihr Hunde liebkosten, als eine junge Frau mit ihrem Stöckelschuh in einem historischen Gullideckel hängen blieb, als eine Taube ihr Geschäft über dem Marktkreuz abwarf, als scheiße sie auf solches Heiligtum – da zog Marc sein Handy aus der Tasche, um sich bei Julius Ohneweg anzukündigen.

5

Am Samstag kam Marc in Berlin an und fand mühelos den Weg nach Neukölln. Es war ein sonniger Nachmittag. Wäre er nicht so aufgeregt und sein Koffer nicht so schwer gewesen, hätte es ihm gefallen, durch die Straßen zu schlendern.

Er sah die kleine Frau im Türrahmen stehen. Sie war schlank, aber kräftig und trug eine bunte Strickjacke. Von ihrem Arm schaute ein kleiner Kinderkopf. Die Ähnlichkeit war verblüffend: Zwei runde Gesichter, umringt von schwarzen Locken. Zwei dunkle Augenpaare, die ihm offen entgegenstrahlten. Zierliche Nasen über sanft geschwungenen Lippen. Der Junge hatte etwas dunklere Haut und für ein Kindergesicht ungewöhnlich deutlich ausgeprägte Wangenknochen. Sein linker Arm war dicht am Körper gebeugt, mit dem anderen umklammerte er ihren Hals. Ein doppeltes Wunder. Marc hielt kurz den Atem an. Dann sagte er: „Ich bin Marc Pfaffmann.“ Wie dumm, dachte er, wer soll ich denn sonst sein.

„Ich bin Hannah, und das ist Mirko. Komm rein.“

Das Kind verzog angespannt das Gesicht. „Du!“, sagte es, wobei sein Kopf nach hinten schnellte. „Weißt du, dass ich schon fünf bin? Und weißt du, dass ich behindert bin?“ Der Junge war viel zu klein für sein Alter, wenn er wirklich schon fünf war. Er sprach undeutlich, aber verständlich.

Marc überlegte. „Und du“, erwiderte er, „weißt du, dass ich schon zwanzig bin? Und weißt du auch, dass ich Asthma habe?“

Das Kind sah ihn skeptisch an. „Wirklich?“, fragte es. Seine Beine zuckten.

„Ja, wirklich“, bestätigte Marc.

„Achso“, sagte der Kleine, „ich hab das auch! Ich weiß nur nicht, wo. Weil mein Zimmer ist ein einziges Chaos.“

Das war es wirklich. Es war kunterbunt und voller Spielsachen. Hannah führte Marc durch die kleine Wohnung und stellte seine Sachen in die Kammer hinter dem Bad. Sein Zimmer im Wohnheim war kaum größer. Mehrmals dankte er ihr für alles.

 

Als Mirko im Bett war, saßen sie in der Küche. Im Radio sprach jemand über islamischen Fundamentalismus und die Wahlen in einem afrikanischen Land. Hannah betrachtete Marc von der Seite. Ihr neuer Mitbewohner hockte auf der Sofakante und guckte in seine Teetasse. Der Student war fünfzehn Jahre jünger als sie und sah noch um einiges jünger aus. Er hatte schmale Schultern, selbst seine Finger waren zart. In seinem bartlosen Gesicht tummelten sich Sommersprossen. Eine dunkelgrüne Schirmmütze bedeckte sein kurzes rotes Haar. Er sah süß aus. Doch er wirkte verschreckt. Nur mit Mirko schien er keinerlei Berührungsängste zu haben. Er hatte so unbefangen mit ihm gespielt, wie es selten jemand tat.

Sie wartete, ob er das Wort ergreifen würde. Er schien dem Experten im Radio zu lauschen. Dabei erzählte der wie immer nur Blödsinn. „Du hast doch keine Angst vor mir, Marc?“, fragte sie.

Er errötete. Dann riss er sich die Brille von der Nase und putzte sie mit einem Hemdzipfel. „Ich bin das nicht gewohnt, so nette Menschen zu treffen. Ich habe Angst, dass ich was falsch mache.“

Jetzt stieg ihr selbst das Blut in den Kopf. Was sagte er da? Er kannte sie doch gar nicht. „Meinst du, wir verlangen irgendwas von dir, was du nicht kannst?“, fragte sie. „Brauchst du nicht. Wir freuen uns schon, wenn du bei Kleinigkeiten helfen kannst.“

„Es ist nicht nur das Praktikum ...“

„Na, du wirst dich schon einleben“, versicherte sie. „Morgen kann ich dich auf die Arbeit vorbereiten.“

Marc goss sich umständlich Tee nach. „Beim letzten Praktikum war ich juristisch noch ziemlich ... unerfahren, kann man sagen.“

Und jetzt bist du schon im zweiten Semester, dachte sie belustigt.

 

Nach dem Aufwachen wollte Mirko direkt zu Marc getragen werden. Sie versuchte, seinem Geschrei Einhalt zu gebieten. Durch mütterliche Autorität. Wie üblich misslang der Versuch. Als Mirko in einem unbeobachteten Moment gegen seine Zimmertür schlug, kam Marc vollständig angekleidet heraus. „Auch schon wach?“, begrüßte er ihren Sohn.

„Mein Bruder kommt zum Frühstück, deshalb ist er so aufgedreht“, entschuldigt sich Hannah.

Kurz darauf warf Felix den jubelnden Mirko durch die Luft. Hannah winkte Marc auf den Balkon und zog die Balkontür von außen zu. Dort hatte sie den Tisch gedeckt. „Jetzt tritt endlich Ruhe ein“, sagte sie und nahm sich einen Eierkuchen. Mirko hatte Kokosflocken, Rosinen und andere außergewöhnliche Zutaten in den Teig gemischt. Als Marc zögerte, sagte sie: „Du brauchst das nicht essen, kannst dir auch ein Brot machen.“

Marc streute sich reichlich Zimt und Zucker darüber. „So schlecht schmeckt es gar nicht.“ Er schien sich für das Unkraut zu interessieren, das Mirko in seinem Blumenkasten züchtete.

Sie ließ sich in den Liegestuhl fallen. „Ich weiß nicht, was ich ohne Felix tun würde. Er hilft mir sehr mit Mirko.“

„Wohnt er in der Nähe?“, fragte Marc.

„Leider nicht. Prenzlauer Berg, das ist einmal quer durch die Stadt.“

„Ich weiß, ich war schon öfter in Berlin.“ Marc nahm seine Mütze ab. „Er hat mich manchmal mitgenommen.“

„Meyer meinst du?“

Er nickte. „Er hatte eine Abgeordnetenwohnung in Grunewald. Als ich das erste Mal da war, hab ich gedacht, ganz Berlin sieht so aus.“

„Was hast du als Praktikant im Bundestag eigentlich gemacht? Oder möchtest du nicht darüber sprechen?“

„Schon okay. Es ist über ein Jahr her. Nach so langer Zeit sollte man damit umgehen können.“

Er war wirklich noch jung. „Da irrst du dich, Marc“, sagte sie. „Wenn man einen wichtigen Menschen verliert, kann das ein halbes Leben dauern. Es tut mir echt leid, dass ich dich einfach so angerufen habe.“

„Es war ein Glück, dass du angerufen hast“, erwiderte er. „Was man so macht? Also, am Anfang musste ich die Drecksarbeit erledigen. Post abholen, Akten tragen und so. Dabei habe ich mir den Bundestag angeguckt. In der Kuppel ist mir schwindelig geworden. Später haben sie mir Recherchen aufgegeben, ich war ja drei Monate da. Meistens bin ich mit Michael mitgegangen.“

Hannah war unschlüssig. Er sollte sich nicht wieder fürchten. Trotzdem fragte sie: „Hat er mit dir mal über Chile gesprochen?“, und beobachtete ihn. Er wirkte entspannt.

„Manchmal“, sagte er zögernd. „Was politisch so passiert ist, hat er mir erzählt. Vom Putsch und so. Aber nichts Persönliches. Außer, wenn er manchmal Andeutungen gemacht hat. Was glaubst du eigentlich, an was er gearbeitet hat? Was hat er mit deiner Doktorarbeit zu tun?“

Sie horchte auf. Die erste Frage, die er ihr stellte. Mit Bedacht wählte sie ihre Worte. „Mein Chef hat einen alten Artikel gefunden. Es geht um eine bewaffnete Organisation aus Chile. Offenbar gab es da einige Verwicklungen um ihre Auslieferung.“ Sie erklärte, über was sie promovierte, und berichtete von ihrem Besuch im Altenheim und im Jakob-Kaiser-Haus.

Als sie geendet hatte, fragte Marc: „Diese Gruppe, hat die auch etwas bei uns getan?“

„Du meinst in Deutschland? Kann sein. Hast du davon gehört?“

Er steckte einen Bügel seiner Brille in den Mund und stützte den Kopf in die Handfläche. „Ich glaube, dass er mal was gesagt hat. Von wegen, dass Deutschland die Verbrechen in Chile mit zu verantworten hatte. Dass ein paar Leute deshalb Anschläge verübt haben. Gab es was mit einer Botschaft?“

„Botschaft, das sagt mir gar nichts. Aber das Ganze war auch lange vor meiner Zeit. Irgendwann nach 1973. Offenbar war die Gruppe nicht lange aktiv.“

„Du könntest vielleicht seinen Mitarbeiter fragen“, schlug Marc vor. „Den Stefan Jensen. Der weiß über alles Bescheid, womit Michael zu tun hatte.“

„Ach, den wollte ich doch anrufen.“

Er schien noch etwas sagen zu wollen, doch in diesem Moment sprang die Balkontür auf und Mirko flog hinaus – gesteuert von Felix, dessen Haar sich aus dem Zopf gelöst hatte und ihm wild ins Gesicht hing.

„Hubschrauber, tut, tut“, verkündete ihr Sohn. „Hört auf zu quatschen, sonst stürz ich ab!“

6