Impressum

Jürgen Borchert

Spiel gegen sich selbst

Feuilletons & Geschichten

ISBN 978-3-86394-695-1 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 1987 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig.

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

© 2014 EDITION digital®

Pekrul & Sohn GbR

Alte Dorfstraße 2 b

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Auskünfte zur Person

Ich bevorzuge Tee. Ich bin mittelgroß und für meine Größe entschieden zu schwer. Ich rasiere mich nass. Ich bespritze mir bei Regenwetter stets die rechte Fußspitze bis zum Spann, obwohl ich mich doch so sehr vorsehe. Ich liebe weiträumige Landschaften und Kiefernwald. Ich schreibe meine Texte direkt in die Maschine. Ich bin verheiratet und habe eine Tochter. Ich trage Schlipse, die nicht immer zum Hemd passen. Ich habe kein Auto. Ich halte drei Tageszeitungen, zwei Wochenzeitungen und eine Literaturzeitschrift. Ich liebe Prag, alten Weinbrand und getrocknete Pilze. Ich habe bisher zwölf Bücher geschrieben, von denen zehn gedruckt worden sind. Ich halte Toleranz für eine Tugend. Ich habe panische Angst vor frei herumlaufenden großen Hunden (aber nur, wenn sie schwarz sind). Ich unterhalte mich gelegentlich mit meiner Briefträgerin. Ich würde gern einmal nach Island reisen. Ich verstehe nichts von Literatur (theoretisch). Ich war Fotograf, Student und Bibliothekar, ehe ich Schriftsteller wurde. Ich habe eine starke Zuneigung zu alten Gebäuden aus rotem Backstein. Ich halte nichts von Gesprächen mit dem Friseur. Ich bekomme viel Post und schreibe viele Briefe. Ich mag zu Weihnachten nur silberne Kugeln an meinem Tannenbaum. Ich nehme mir oft vor, den Keller aufzuräumen, tue es dann aber doch nicht. Ich bin Rechtshänder und auch sonst ziemlich normal. Ich esse sehr gern Fisch. Ich benötige jedes Jahr einen schmalen, dünnen Taschenkalender. Ich begeistere mich für Labyrinthe, Luftschiffe und Lexika. Ich halte Friedhöfe für sehr lebendige Orte. Ich schreibe morgens. Ich bin außerordentlich vergesslich. Ich bin weitsichtig und trage deshalb eine Brille. Ich beschimpfe das Betonhaus, in dem ich wohne, und schätze seine zivilisatorischen Segnungen. Ich lese am liebsten Biografien, Memoiren und Briefe. Ich ärgere mich über Schwarzfahrer in der Straßenbahn, über Druckfehler und über großsprecherische Transparente. Ich verabscheue Operettenmusik. Ich höre nicht zu, wenn man mit mir spricht. Ich habe, von meiner Arbeit abgesehen, keine Hobbys. Ich halte die These, Mecklenburg sei ein rückständiges Land (gewesen), für falsch. Ich bewundere Johann Sebastian Bach. Ich bin zurzeit frei von ansteckenden Krankheiten. Ich liebe den Zirkus, an erster Stelle den Musikalclown. Ich kann die Behauptung der Philanthropen, dass der Mensch gut sei, nicht unbedingt immer unterstützen. Ich hasse Bahnhofsklosetts, kalten Tabakrauch und die Wagenradkultur. Ich meine, der Mensch hat ein Recht auf sich selbst. Ich mag klares, stark perlendes, kaltes Selterswasser in einem hellen Glas. Ich bin ziemlich unsportlich, liebe es jedoch, den Handballern zuzuschauen. Ich bin Bürger der Deutschen Demokratischen Republik. Ich habe Kragenweite 43. Ich war bisher in Polen, der CSSR, der Sowjetunion, in Ungarn, in Belgien, in der Bundesrepublik Deutschland und in Westberlin. Ich finde es langweilig, Weiteres über mich zu sagen. Ich bin alt genug, um zu wissen, wohin ich gehöre. Ich mag es nicht, wenn man mir erklärt, wie ich denken soll. Ich schätze Brecht nicht sonderlich, halte aber seinen Satz aus dem Galilei, dass das Denken das größte Vergnügen der menschlichen Rasse sei, für einen der wichtigsten Sätze, die in diesem Jahrhundert gesagt worden sind. Ich wünsche, dieses Vergnügen würde zu einem allgemeinen Bedürfnis.

Der noch andere Kleist

Die Genealogen interessieren sich ja immer nur für die Toten.

Der noch andere Kleist

Ich meine nicht Heinrich von Kleist, den hochverehrten Dichter des »Zerbrochenen Kruges«, auch nicht den anderen Kleist, Ewald von Kleist nämlich, der ein alter Haudegen und fridericianischer Sänger gewesen ist, ich meine den noch anderen Kleist, den alle vergessen haben und den auch ich nicht kennte, wäre mir nicht der Zufall zu Hilfe gekommen und der Großherzog Friedrich Franz von Mecklenburg-Schwerin. Natürlich war auch dieser noch andere Kleist ein Dichter, was wiederum gar nicht so sehr natürlich ist, denn eigentlich waren die Kleiste eine sehr martialische Familie, zahlreich und fruchtbar; Friedrich der Große hat gesagt: »In Pommern sitzt hinter jedem Busch ein Kleist.« Allein sechzig Offiziere dieses Namens haben in Friedrichs Schlesischen Kriegen ihr Leben gelassen! Wie viele Kleiste am Leben geblieben sind, vermag niemand zu sagen; die Genealogen interessieren sich ja immer nur für die Toten.

Franz Alexander von Kleist, der in keinem Literaturlexikon steht, hat mit seinem Oheim Ewald und mit seinem Vetter Heinrich nach dem Dreißigjährigen Kriege einen Vorfahren gemeinsam; die wie ein Gestrüpp in der Mark wuchernde Familie der Kleiste brachte neben kriegerischen Dornen erstaunlicherweise auch drei Blüten hervor: Ewald, Franz und Heinrich, die allerdings ganz unterschiedliche Augen und Herzen erfreuten und in der Zeit so verschiedene Wirkungen hatten, wie es Blüten eines Baumes nur haben können. Heinrich: ein Olympier. Ewald: ein literaturwissenschaftlicher Fakt. Franz Alexander: ein Vergessener.

Franz Alexander von Kleist kam auf diese Welt am Heiligen Abend des Jahres 1769 und hat sie schon am 8. August 1797 wieder verlassen. Das hat ihn aber nicht gehindert, zwischendurch sehr fleißig zu schreiben und sich seine Gedanken zu machen über Gott und die Welt. Geblieben ist freilich nichts; in der Privatbibliothek des Großherzogs von Mecklenburg fand ich einen winzigen, schmalen, mit Kupfern geschmückten Band, 1799, also schon nach Franzens Tode bei Friedrich Viehweg in Berlin erschienen: »Liebe und Ehe in drei Gesängen von Franz Alexander von Kleist«, und der Großherzog hat mit schwarzer Tinte und krakeliger Sütterlinschrift allerlei alberne Marginalien in das Büchlein gepinselt und sie schamhaft (oder von sich überzeugt, wer will das wissen) mit einem schlichten F. gezeichnet.

Es war ja die Zeit der jungen Genies, und Durchlaucht, als ein schöngeistiges Schlitzohr bekannt, versenkte sich tief in die tönenden Oden des Franz Alexander und seiner Zeitgenossen; Anachreons Blütenkranz rutschte ihm dabei über die Augen, da konnte er das Elend seines Ländchens nicht sehen. Einmal allerdings kommt in Franzens Ode das Wortbild »bepurpurter Verbrecher« vor, das hat der Großherzog unterstrichen, dabei denke jeder, was er will.

»Welkt vor Psyches Liebessitze,
wo die schlanken Pappeln stehn,
in der schwülen Sommerhitze
ein geliebtes Tausendschön;
eilend schöpft sie dann im Kühlen
ihr Erquickung aus dem Bach,
schwärmt in seligen Gefühlen,
girrn des Pappelwalds Gespielen,
ihr die Turteltäubchen nach.«

Genügt Ihnen das? Was die Stiche in dem Bändchen angeht, so muss ich schnell noch ein kurioses Stückchen erzählen, denn der arme Franz Alexander von Kleist hat in Könneckes »Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur«, Marburg 1886, Urständ feiern müssen, und zwar als - Friedrich von Schiller. Man sieht auf dem Bilde einen Herrn mit langer Nase und eine schöne Frau in einer Sommerlaube sitzen; die Frau hält ein kleines Mädchen auf dem Schoß, ein weiteres Exemplar dieser Gattung umspielt Franz Alexanders Knie, und darunter steht: »Schillers Familienbild aus dem Jahre 1797. Schiller und Lotte mit den Kindern Karl und Ernst.« So was passiert deutschen Literaturprofessoren, weil sie vor lauter Buchstabenwissen der Kenntnis der Kindermoden entraten (welcher Umstand keinesfalls an die klassischen Zeiten gebunden ist). Wahrscheinlich hat Könnecke, als er nach Schillerbildern suchte, immer nur die Nase als Richtpunkt benutzt. Die Nase aber ist die einzige Verbindung zwischen Schiller und dem noch anderen Kleist.

Wie ich Auburtinist wurde

Noch kein einziges Feuilleton hatte ich geschrieben, ich wusste überhaupt nichts vom Feuilleton und kannte nicht einmal das Wort, hätte es auch, falls es mir bekannt gewesen wäre, weder richtig aussprechen noch richtig niederschreiben können, und doch war mir Victor Auburtin schon ein Begriff. Das kam so: Ich hatte eine Tante in Berlin, die hatte eine Freundin, wie sie Tanten ja zu haben pflegen, und diese Tante wurde von uns Kindern so geliebt, dass wir auch ihre Freundin in diese Liebe einbezogen und sie nach Art der Kinder ebenfalls und kurzerhand zur Tante erhoben. Jene Nenn-Tante nun, eine schwarzgewandete Diakonisse mit weißer Haube, nicht unbeträchtlichen Leibesumfanges, auch ständig schwankend zwischen der Würde der Gewandung und dem Humor des Herzens (sie neigte meist dem letzteren zu und flüchtete sich ins erste nur, wenn wir ihr Nervenkostüm allzusehr zerrüttet hatten), war eine Tochter von dem Bruder der Frau jenes besagten Victor Auburtin, eine sogenannte angeheiratete Nichte also des Schriftstellers mit dem französischen Namen. Wenn von Schriftstellern die Rede war, assoziierte ich: Aha, so einer wie der Onkel von der Tante G. Auch ein Buch dieses geheimnisvollen Mannes hatte ich bei der Tante gesehen, hatte sogar den Versuch gemacht, darin zu lesen, dies jedoch bald wieder aufgegeben. Wer wird von einem vierzehnjährigen Abenteuergierling verlangen, er möge Feuilletons interessant finden? Immerhin erinnere ich mich genau an das Aussehen des schmalen broschierten Bändchens: eine Katze schritt erhobenen Schwanzes durch eine Arkade maurischer Bögen. Das Buch hieß »Seifenblasen«.

Erst viele Jahre später wies mich Heinz Knobloch, um feuilletonistischen Rat befragt, auf Auburtin hin, und da erst merkte ich, dass ich einen literarischen Lehrmeister, einen der »Kirchenväter des Feuilletons«, sozusagen in der Familie hatte. Mit ihm verbindet mich die »Kette der Händedrücke«, von der der »Einmenschdichter« Eugen Roth geschrieben hat, und zwischen mir und Victor Auburtin steht nur ein einziges Zwischenglied: die dicke, gute, schwarze Tante G. Natürlich bemerkte ich die Armseligkeit meiner eigenen feuilletonistischen Bemühungen am Maßstab Auburtins sehr schnell. Seither benutzte ich den Meister als wirksames Dämpfungsmittel bei aufsteigender poetischer Euphorie. Man befördert eine Seite Manuskript leichteren Herzens in den Papierkorb, wenn man zuvor eine Seite Auburtinischer Prosa gelesen hat. Denn das ist eine Sprache, die über aller Grammatik zu schweben scheint wie Lerchengesang über dem Kohlfeld, eine disziplinierte Sprache, die kein Wort zu viel duldet und keine unnütze Silbe. Aus solcher Sprache webte Auburtin seine Netze und warf sie dem Bürger über den Kopf.

Und dann die Pointen: Auf Katzenpfoten kommen sie einher, und bei der leisesten Berührung fahren sie messerscharfe Krallen aus. Auch heute noch haben sie nichts an Schärfe verloren.

Fünfzig Jahre nach Auburtins Tod hat man sein Grab in Garmisch-Partenkirchen eingeebnet. Weder die verkappte Weißwurstmonarchie an der Isar noch die ach so reiche Republik am Rhein hatten die Mittel flüssig, es ferner zu erhalten. Das hat er nun davon. General hätte er werden sollen.

Mein Schiller ist aus Gips

Drei Konfrontationen und ein Fazit

1. Konfontation

Die erste Begegnung vermittelte Quasimodo, der eigentlich schlicht und einfach Schmidt hieß, Studienrat Schmidt. Die Herkunft seines schon von Generationen benutzten Spitznamens sollte, wie ich später erfuhr, noch aus jenen archaischen Zeiten herrühren, zu denen Quasimodo Gymnasialprofessor gewesen war, als welchem ihm die Abhaltung des Religionsunterrichtes am Schillergymnasium oblegen hatte. Schon damals muss Quasimodo seinem fast pathologischen Hang zum Einbläuen von Texten, dem gefürchteten »Auswendiglernen«, gefrönt haben, denn mein Onkel Waldemar erinnerte sich lebhaft solcher unter Quasimodos Leitung genossener Exerzitien und konnte bis ans Ende seiner Tage die Reihenfolge der Sonntage des Kirchenjahres herunterschnurren: Quasimodogenitimisericordiasdominijubilatekantaterogateexaudi, das waren die Sonntage zwischen Ostern und Pfingsten.

Nein, Quasimodos religionspädagogische Fähigkeiten lernte ich nicht mehr am eigenen Leibe kennen, wohl aber ihn selbst, weil er mein Deutschlehrer war, welches Amt auszuüben man ihm, kurz vor der Pensionierung, noch für ein paar Jahre gestattet hatte. Wegen seiner eifrigen Beteiligung an der hitleristischen Erneuerung der teutschen Nation hatte er, nach dem »Umsturz«, zunächst als Gehilfe eines Dachdeckers wirken müssen und war, nach reumütigsten Bekundungen seiner Loyalität (und natürlich auch des akutesten Lehrermangels wegen), im Jahre Null der Republik in den Schuldienst zurückgeholt worden. Freilich: das Schillergymnasium, das nun »Oberschule F. Schiller« hieß, blieb ihm fürderhin versperrt, seine Wiederzulassung galt nur für die Grundschule. So kriegten wir ihn. In Deutsch, wie gesagt. Meine Erinnerung an Quasimodo ist von jenem Hass verdüstert, den ich schon früh auf den alten Mann geworfen hatte. War er nicht eigentlich nur ein Narr, der seine Seele den Braunen verkauft hatte und dafür später in unserer Schülerhölle braten musste? In jenen Jahren kamen mir solche Bedenken nicht; mir erschien er wie der Leibhaftige, wenn er in seinem abgewetzten Rock und mit seinem verkniffenen Gesicht die Klasse betrat. Sein gewaltiger, kahler Schädel, von ein paar Resten mottenfraßiger Haare garniert, überwölbte ein faltiges Greisenantlitz. Das war mein Bild von Quasimodo - selbst die milde Stimmung des Erinnerns vermag es nicht zu retuschieren. Wenn er die Knabenschule erreichen wollte, musste er an der einstigen Stätte seines Wirkens vorbei, an der »Oberschule F. Schiller«. Das war ein pseudogotisch gebildeter Bau am Ufer des Flüsschens, das eben hier, vor dem Schultor, unter alten, himmelhoch sich wölbenden Linden, brausend über ein Wehr sprang. Es hatte, ein Lehrerleben lang, ob nun bei geöffneten oder geschlossenen Fenstern, Quasimodos Unterrichtsstunden begleitet: Ob er nun Religion gab und die Sonntage des Kirchenjahres eintraktierte oder deutsche Literatur und Goethen vornahm oder Schillern, den Namenspatron der Anstalt - immer rauschte das Wasser über das Wehr, und es bedürfte schon eines klirrenden Januars, um das Geräusch in eisiger Stille zu ersticken. Onkel Waldemar behauptete, Quasimodo habe, als diese Stille wirklich einmal eintrat, spontan stabreimend ausgerufen: »Hört ihr, Halunken, wie Hartung herbe die huschende Hydra beherrscht?«

Nun aber schlich er, eingezogenen Nackens, an Schillers Weihestätte vorbei, zu uns, den Volksschülern, in die Knabenschule, die, nicht weniger gotisch, aber in mancherlei Hinsicht proletarischer konstruiert, sich hundert Meter weiter an einer Bleichwiese erhob, ein finsterdunkler Kasten mit hallenden Terrazzofluren. Noch war man der Koedukation abhold, wenn auch weniger aus ideologischen, sondern vielmehr aus praktischen Gründen; rein maskulin war die Schülerschaft, weil die Schule, was auch die junge Volksmacht so fix und flink nicht zu ändern vermochte, nur ein Klo besaß, eines für Knaben, einen flachen Trakt am Rande des schlackigen Schulhofes, wie der Hauptbau selbst mit spitzbogigen Fenstern geziert und im Innern von einer langen, schwarz geteerten Wand durchzogen, die, neben ihrem obligatorischen Zweck, zugleich auch als praktische Anschlagfläche benutzt wurde. Das ganze Häuschen war erfüllt von einem so infernalischen Gestank, dass Aufsichtspersonen, ja selbst der hartgesottene einbeinige Hausmeister »Rübe« Sattsam, niemals sein Inneres betraten.

Eine der Inschriften, die die schwarze Fläche verzierten, lautete, in nicht gerade einwandfreier Orthografie, aber jedem Benutzer durchaus verständlich: »Schiler is doof«.

Ich kann mich nicht erinnern, ob es einen Schüler gab, der Schiller hieß oder einen Lehrer dieses Namens, beides wäre ja ohne Weiteres denkbar, denn der Name Schiller ist nicht eben selten. Ich glaube jedoch, die Losung richtete sich gegen den Dichterfürsten, womit wir nun wieder bei Quasimodo sind, der allerdings das Sakrileg meines Wissens nicht zu Gesicht bekommen hat.

Quasimodos pädagogisches Steckenpferd, nachdem er den Sonntagen des Kirchenjahres aus naheliegenden Gründen hatte entsagen müssen, hieß: Schiller; und wenn innerhalb dieser Leidenschaft noch Steigerungen denkbar waren, so galt ihm nichts auf der Welt mehr als des lockigen Dichters Balladen, und, wo wir ohnehin dabei sind, die Angelegenheit auf die Spitze zu treiben: die Spitze aller Schillerschen Balladendichtung war »Die Bürgschaft«.

Von der »Glocke« wäre, nebenher, natürlich auch zu reden: indes stand sie nicht auf dem Lehrplan der achtklassigen Volksschule. Die »Bürgschaft« wurde wohl für ausreichend peinvoll gehalten. Quasimodo verstand diese Einengung seiner Wirkungsmöglichkeiten als persönliche Kränkung und setzte sich zäh über alle Einwendungen des Schulrates und Rektors hinweg und die »Glocke« auf den Plan - wir mussten sie lernen. Keuchend saßen wir über dem schier unverständlichen Text. Mit immer noch geübtem Griff umspannte Quasimodos Rechte den Zeigestock; er hieb das Deutinstrument skandierend auf den Lehrertisch, während Boddin, mein Banknachbar, stotternd das Seine ablieferte: »... doch der Segen kömmt von oben ...« und natürlich Schwierigkeiten hatte mit dem Übergang zur ersten Kommentarstrophe, die, im Gegensatz zur ersten Liedstrophe, mit einer Senkung beginnt: »Zum Werke, das wir ernst bereiten ...«. Quasimodo kündigte, unzufrieden mit der Leistung des Probanden, für den nächsten Tag eine erneute Abhörung an, und Boddin, ungehalten über die Aussicht, dass er morgen wieder mit »diesem Scheiß« würde belästigt werden, sägte mit seiner Laubsäge nach Unterrichtsschluss den Zeigestock kurz über dem Griff tief ein, verschmierte die Kerbe mit gekautem Roggenbrötchen und genoss anderntags das unsäglich verblüffte Gesicht Quasimodos, dem der Knüttel daumenbreit über der Hand zerspellte, als er eben den Segen von oben kommen lassen wollte. Was ihn mehr ärgerte an der Sache, muss im Unklaren bleiben: Dass er statt eines Schülergesäßes nur den Lehrertisch verdreschen durfte oder dass auch Volksschüler, wie ehedem seine Gymnasiasten, zu solchem Tort und Tun fähig waren; das bleibt dahingestellt.

Die »Glocke«, soviel aber ist sicher, kann ich seither nur mit dem Gefühl äußersten Widerwillens lesen.

2. Konfrontation

Unter dem Birnbaum saß Tante Marianne. Sie sog an ihrer Zigarette, legte sie zielsicher, ohne hinzugucken, mit der Glut nach außen auf die Kante des Gartentisches und griff nach dem Lexikon (falls nicht gerade Tante Amelie darin beschäftigt war). Tante Amelie nämlich saß auch unter dem Birnbaum, der Tante Marianne gegenüber, und das Lexikon lag in der Mitte zwischen den beiden alten Damen auf dem Tisch. Ja, Tante Marianne und Tante Amelie waren meist mit der Lösung von Kreuzworträtseln beschäftigt. Sobald das Wetter es irgend zuließ, wurde »die Laube« bezogen, ein weinlaubumrankter, sehr sympathischer Platz, den ein alter verkrüppelter Birnbaum überschattete. Das Lexikon war ein »Großer Volksbrockhaus« in einem Bande, der noch aus »großer Zeit« stammte, längst seiner Einbanddecken verlustig gegangen war und vor dem endgültigen Auseinanderfallen von ein paar derben Heftpflasterstreifen bewahrt wurde. Als die Tanten Geburtstag hatten (sie waren Zwillinge), schenkte ich ihnen ein neues Lexikon, das selbstredend gebührende Bewunderung fand. Die Tanten stellten das teure Stück in den Glasschrank neben die Bibel, das Auermeyerschc Kochbuch und den vierbändigen Bongschen Schiller in grünem Pressleinen. Auf dem Gartentisch blieb der Volksbrockhaus, und Tante Marianne begründete das damit, dass die Verfasser der Rätselzeitung »Puck« (oder war’s der »Kobold«?), auf die sie abonniert waren, wohl zur Verfertigung der Rätsel ebenfalls den »Großen Volksbrockhaus« benützten, denn sie kämen sehr gut damit zurecht.

Was nun den Bongschen Schiller angeht, so teilte er wohl das Schicksal des niemals angerührten Lexikons, jedoch aus anderen Gründen: Tante Marianne kannte ihren Schiller und war so sehr mit ihm vertraut, dass sie den Bong höchstens bei Streitfragen hervorholte. Nicht, dass sie Streit mit ihrer Zwillingsschwester gehabt hätte - so etwas kam niemals vor, denn die Lebensaufgaben der Schwestern waren bestens geteilt, eine jede hatte ihre Kompetenzen: Amelie besorgte das Kochen und den Garten, Marianne war mehr für die wissenschaftlichen und finanziellen Fragen zuständig. Sie hatte das Lyzeum besucht und eine Handelsschule und sodann fünfzig Berufsjahre im Büro eines Strafverteidigers zugebracht: deswegen kannte sie Schiller, das Bürgerliche Gesetzbuch und die Bankgeschäfte.

Amelie hingegen hatte in einem frommen Stift den Haushalt und das Kochen gelernt und fünfzig Jahre der Küche eines Altersheimes vorgestanden. So konnte nun jede der beiden das Ihre einbringen beim Lösen der Rätsel und der Rätsel des Lebens.

Nein, um nun endlich auf Schillern zu kommen: Streit gab es eher mit ihrem naseweisen Neffen, der natürlich von Marianne abgefragt werden musste, wenn Quasimodo ihm entsprechende Exerzitien auferlegt hatte. Entweder: ich hatte Zeilen verwechselt und beharrte auf meinem Standpunkt (»... Doch dir wird die Strafe erlassen, und er muss statt deiner erblassen ...«), oder ich machte aus Dionys einen Doinios, oder es unterlief mir »... des Wanderers Keule in drohend geschwungener Eile«; oder ich stellte wirklich dämliche Fragen, warum der König in der vorletzten Strophe, wenn er ein menschliches Rühren verspüre, die beiden anderen auf den Thron führen ließe, denn ich für mein Teil ginge, wenn ich ein solches ... »Pscht! Dummer Bengel!« sagte Tante Marianne in solchen Fällen entrüstet und holte den grünen Bong aus dem Glasschapp, um mir schwarz auf weiß meine Irrtümer nachzuweisen. Sie war es auch, die mir geduldig den Unterschied zwischen einem Erb-lasser und einem Er-blasser erklärte, wobei sie jedoch nicht umhinkonnte, die aus fünfzigjähriger Erfahrung an den Fleischtöpfen Justitias stammende Erkenntnis einzuräumen, dass natürlich der Erb-lasser gleichzeitig auch einer gewissen fahlen Gesichtsfarbe nicht entgehen könne, nebbich. Und an diesem hundertfachen Lapsus sei Schiller schuld, der Gute, der habe, des Reimes wegen, das Wort »erblassen« für »sterben« verwendet, und zwar akkurat in der zwanzigsten Zeile der »Bürgschaft«. Da schlug auch ich den Bong auf und kontrollierte, aber da war nichts daran zu tippen, wenn Tante Marianne »Zeile zwanzig« sagte, dann war’s auch Zeile zwanzig: das war eben die Lyzeumsbildung.

Was mir damals nicht in den Schädel wollte, war, weshalb jemand »diesen Scheiß«, um meinen Banknachbarn Boddin zu zitieren, freiwillig und mit Lust sich hatte ins Gehirn hämmern können, und zwar so fest, dass die Gehirnzellen einer fast achtzigjährigen alten Dame (während sie andererseits auf den Kalender sehen musste, um festzustellen, dass Donnerstag sei) auf bloßes Antippen hin den ganzen Schiller oder das, was sie für den ganzen Schiller hielt, denn zum Beispiel seine Kriminalgeschichte »Der Verbrecher aus verlorener Ehre« hatte sie nie gelesen und ahnte vielleicht nicht einmal von ihrer Existenz, ihren ganzen Schiller also zu reproduzieren in der Lage waren. Oh, wenn Tante Marianne zum Beispiel den »Taucher« rezitierte oder »Die Kraniche des Ibykus«, die sie besonders liebte und, bei vorkommenden Familienfeiern, als Höhepunkt des Programms auf vielfachen Wunsch darbot! Dann legte Tante Amelie das Strickzeug weg und den weißen Kopf träumerisch in den Nacken: Da war die Schwester Meister! Oh, wie des Ibykus Auge brach! Wie die Stimme der Tante hauchend des Mörders Blut verlangte, oh, wie Schlangen und Nattern ihre giftgeschwellten Bäuche blähten! Und wie schließlich der Rache Strahl die Bösewichter traf!

Auch meinen Bruder und mich traf der Rache Strahl, um es genau zu sagen, trafen uns zwei gewaltige, von unserem Vater ausgeteilte Knallschoten, als wir bei der Hochzeit unserer Cousine während des Vortrages der Tante Marianne uns schon mehrfach, die Hand vor dem Mund, über den Tisch hinweg kichernd angesehen hatten und es bei dem nackten Leichnam in der neunundvierzigsten Verszeile einfach nicht mehr aushielten, sondern röhrend herausplatzten. Tante Marianne indes war weniger rachsüchtig; sie befreite uns nach angemessenem halbstündigem Exil aus der Küche, fuhr uns beidhändig und gegen den Strich durch die Haare und sagte, mit sanftem Tonfall und ohne Vorwurf: »Was wisst ihr schon von Schiller, ihr Rotznasen!«

3. Konfrontation

Bolle Krefft muss, recht betrachtet, eine Art von Genie gewesen sein, jedenfalls, was sein phänomenales Gedächtnis anlangt. Während er in der Dunkelkammer herumfingerte und mich in die Elemente der nassen Kunst einweihte, würzte er seine Rede mit Zitaten. »Phöbus, der hebende, ruht!«, rief er, wenn er nach der Mittagspause die verstunkene Höhle betrat, und er meinte doch nichts weiter, als dass unser Chef, sein Brötchengeber und mein Lehrmeister, ein geschäftstüchtiger Krauter namens Segenreich, wegen seiner stadtbekannten Vorliebe für »weibliche Halbfiguren« mit dem treffsicheren Spitznamen »Busenreich« bedacht, sich in dem Kabuff hinter dem Laden auf dem durchgelegenen Sofa zur Mittagsruhe begeben habe. »Freude hat mir Gott gegeben!«, setzte er fort, fummelte hinter einer Kopiermaschine herum, förderte einen halb geleerten Flachmann zutage, schraubte ihm die Kappe vom Hals und setzte zu einem gediegenen Schluck an. »Dann fließt die Arbeit munter fort«, sagte er, während er wieder zuschraubte und sich an die Betrachtung und Bewertung meiner vormittäglichen Tätigkeit machte. »Heilje Orrnung, sejensreiche!«, war dazu sein häufigster Kommentar; dieses Wörtlein pflegte er zudem ostpreußisch zu dehnen und mit gequetschten »ei« und gerollten »r« zu modulieren.

Nicht, dass nun etwa anzunehmen wäre, Bolle Krefft sei ein Schillerkenner gewesen: er war nur ein Kenner jener Unsäglichkeiten, die der sogenannte Volksmund aus dem Steinbruch Schiller herausgesprengt hatte, er steckte voller unverdauter, unrichtiger, verballhornter, verdrehter und verschindluderter Zitate aus dem lyrischen Werk des langnasigen Schwaben, die er, das allerdings muss ihm bescheinigt werden, recht treffsicher anzuwenden wusste, was durchaus komische Effekte erzielte.

Er war zugleich ein Kenner der zahllosen Parodien und Travestien, die ebenderselbe Herr Volksmund auf das Balladenwerk Schillers gereimt hatte (und wohl immer noch reimt). Meist handelte es sich allerdings dabei um Vulgarismen schlimmster Sorte und nicht etwa um wirkliche Parodie, von deren tatsächlicher Existenz ich ja damals auch nichts ahnte. Ich hatte keinerlei Skrupel, ihm die unanständigen Episteln nach »Bürgschaft« oder »Taucher« oder »Glocke« abzulauschen - sic prägten sich mir wesentlich schneller ein als ehedem Quasimodos Traktierungen.

Es interessierte mich damals auch nicht, woher mein guter Krefft seine Kenntnisse hatte: er hatte sie eben. Heute glaube ich jedoch mit Sicherheit zu wissen, dass er sein »Wissen« während des Krieges erworben hatte; die Kasernenstube und die Unterstände und die Schützengraben und später die Gefangenenbaracken irgendwo in England oder den USA haben wohl kaum jemals zur Verfeinerung des literarischen Geschmacks beigetragen. Und er erzählte auch manchmal von seinem ersten Kompaniechef, der ein Himmelhund gewesen war und die Rekruten schleifen ließ, bis ihnen, wie Bolle sich ausdrückte, das »Wasser im Arsche gekocht« habe. - »Von der Stirne heiß rinnen muss der Schweiß«, habe der immer gebrüllt, wenn er sie über den Schotter scheuchte. Und dann, irgendwo an der Westfront, sei »der Seejen von oben jekommen« und habe den Leutnant als allerersten hingemacht. »Wo rohe Kräfte sinnlos walten, da muss der Mensch die Fresse halten«, fügte er seiner Erzählung hinzu und nahm einen Schluck aus dem Flachmann.

Fazit

In einem Kramladen in Quedlinburg erstand ich eine winzige Schillerbüste aus Gips, vielleicht acht oder zehn Zentimeter hoch. Später las ich im Amtsblatt für Satire, es handele sich bei diesen nach berühmten Vorbildern (Tissaut, Houdin usw.) angefertigten Miniaturbüsten aus Gips um eine besonders schamlose, weil der Bereicherung talentloser Kunsthandwerker dienende Form des unsozialistischen Kitsches. Während ich das las, stand neben mir in meinem Bücherregal der kleine Dichter mit der Nase und grinste.

Einmal, beim Staubwischen, stürzte Schiller zu Boden und zerbrach in zwei Hälften, wobei er auch noch sein Inneres offenbarte: es war hohl.

Es war so hohl wie mein Bild von ihm, das ich hatte, als ich »ins Leben hinaustrat«. Dieses Bild, geformt von einem degradierten Studienrat, einer schwärmerisch veranlagten Anwaltsgehilfin und einem versoffenen Fotografen, hätte sicher fürs Leben gereicht.

Dass ich den Dichter wieder zusammenklebte und zurückstellte an seinen Platz zwischen den Büchern, mag anzeigen, dass ich auf dem Wege zu ihm bin. Manchmal entdecke ich schon jetzt, mitten im Dickicht von Pathos und im Gestrüpp von Jamben und Trochäen, sein warmes Menschenherz, und dann denke ich: Du armer Schiller, was hat man mit dir getrieben zuzeiten in unserem Land.

»Entweder der Leser muss warm werden wie der Held oder der Held wie der Leser erkalten.« (»Verbrecher aus verlorener Ehre« (1787) 24)

Arnold in Werben

Werben gibt es noch, Städtchen von 1300 Leuten, gut in Schuss; die Fachwerkhäuschen blitzen, die Balken sind braun, ocker, auch schwarz gestrichen, das Gefach zeigt hellen Bewurf; in offenen Torfahrten stehen Trabanten, Ladas, Wartburgs, ein Golf gar hat sich nicht abhalten lassen, in die altmärkische Wische vorzudringen. Aus einem Westauto klettert eine distinguierte Dame, die hat einen Zeigefinger in Dehios Kunstführer geklemmt und schickt sich an, das Elbtor zu umrunden, jenes Tor, hinter dem die Stadt aufhört und die Gegend beginnt, diese flache Gegend aus Wiesen, Deich und Strom. Das ist noch ganz so wie zu Arnolds Zeiten, alles ist noch so, wenn man die Autos und die Dame mit dem Dehio und die Fernsehantennen wegdenkt, nur Arnold ist nicht mehr da, der hat die Stadt schon vor zweihundertachtzig Jahren verlassen. Aber wir haben ein Bild von ihm, in Kupfer gestochen 1706 in der Mode der Zeit, das nehmen wir zur Hand und betrachten es, während wir die Fabianstraße hinaufgehen, die, links vorbei am Hungerturm, an ihrem gerundeten Ende auf die unglaublich große Kirche der Johanniter zuführt. Und während wir auf dem Hungerturm die Störche klappern hören, steigt Arnold aus dem Bild und betritt die Kirche, seines Amtes zu walten: ein großer Mann, ein Bachgesicht, breitflächig, der Mund fest und schmal, ein willensstarkes Kinn, die Augen, unter buschigen Brauen, groß; darüber wölkt eine wilde Perücke. Das geistliche Kleid weht im Niederelbewind, die Tür schlägt auf und hallend wieder zu: D. Gottfried Arnold, königlich-preußischer Historiograf und Pfarrer an St. Johannis zu Werben, entschwindet unserem Blick.

Kommt aus Allstedt, der Herr Pfarrer, aus dem Thüringischen, soll auch Professor schon gewesen sein auf der Universität in Gießen, man denke. In Allstedt, wird erzählt, hat man ihn seines Amtes entsetzt und des Landes verwiesen, weil er den Leuten hat weismachen wollen, die Ketzer seien allemal die besseren Christen gewesen. Auch hat er wohl Neuheiten einführen wollen, der Herr Pfarrer, im überkommenen Gottesdienst. Aber was will man sagen gegen einen, den der König ins Land geholt hat und hat ihm gar den großmächtigen Titel verliehen und ihm die Pfarrstelle in Werben zugewiesen. Nu, sagen die Leute in Werben, was wird sein, ordentliche Predigt am Sonntag und tröstliche Sprüch’ beim Leichenbegängnis und christliche Taufe nach den Bräuchen, was wollen wir mehr, da soll er nicht hungern. Und die Kirche ist groß, da kann er reden.

Ja, die Kirche ist groß, das bemerkt gerade auch die Dame mit dem Dehio, die vor dem finsteren Turm den ondulierten Kopf in den Nacken legt und staunt. Tatsächlich bilden Städtchen und Kirche ein merkwürdiges Missverhältnis, eine architektonische Disharmonie - die Stadt ist winzig, völlig versteckt hinter den Deichen, nur die Kirche schaut riesig ins Land. Arnold wird bald gemerkt haben, wo er da gelandet ist: der Elbstrom ist hier das Maß aller Dinge, Nahrung und Plage zugleich; was mühsam Fährleute, Fischer und Bauern sommers erwerkten, schwemmt häufig genug im Frühjahr das Hochwasser fort. Sonst ist hier die große Stille: die Landschaft, brettflach, mit der gewaltigen Kirche darin, deren Bauweise die Landschaft wiederholt, eine hallende Weite. Darin nun Arnold, der, wie wir uns leicht vorstellen können, wütend die Orgel spielt, seines Zeitgenossen Buxtehude stimmgewaltige Fugen, dass die Gewölbe beben und die Werbener ängstlich die Köpfe einziehen. Und am Sonntag wird er ihnen die Leviten lesen von der Kanzel, wird wettern gegen das sündige Schlafen unter der Predigt und gegen das Saufen danach in den Schenken. Hört doch zu, ihr Ochsen, wird er sie anbrüllen, gebraucht doch, beim Jakob! euren Verstand, was müh’ ich mich, wenn ihr nicht zuhört, dämmerige Esel! Heiser kann er sich schreien, sie hören ihn nicht. Seine hochberühmte Kirchen- und Ketzerhistorie, die dicken, schweren Folianten, können sie ohnehin nicht verstehen, das ist ihnen Kauderwelsch. Sie wissen nur: es gehört sich so.

Arnold ist ein Gefangener inmitten der preußischen Toleranz. Was nützt es ihm, dass der Thomasius, der in Halle auf der neuen Universität sitzt, ihm schreibt, er halte die Kirchen- und Ketzerhistorie für das »größte Buch nach der Bibel«. Was nützt es ihm in Werben. Wo keine Feinde sind, gegen wen soll er kämpfen? Sehen will er doch, dass die gottesgelahrten Professoren gelbnasig vor Wut werden in ihren orthodoxen Gesichtern, wenn er, Arnold, herausschreit (und mit wissenschaftlicher Unanfechtbarkeit auch beweist), der Hus, zum Beispiel, sei »seines Jahrhunderts bester Christ« gewesen, der Müntzer, zum weiteren, »habe die große Ungerechtigkeit, Tyrannei und andere Sünden der meisten Vorsteher in geistlichen und weltlichen*Dingen gesehen ...« Ach, Arnold, für Werben bist du zu groß.

»Ach erheb die matten Kräfte/sich einmal zu reißen los/ und durch alle Weltgeschäfte /durchzubrechen frei und bloß!/ Weg mit Menschenfurcht und Zagen,/ weg, Vernunftbedenklichkeit!/ Fort mit Scheu vor Schmach und Plagen,/ weg des Fleisches Zärtlichkeit!«

Das hat er 1704 geschrieben, und 1707, zu Johanni, macht er es wahr. Da fährt er vierspännig zum Elbtor hinaus, lässt sich mit Weib und Kind und seinen fünftausend Büchern über die Elbe setzen. Fort, fort aus Werben. Er lässt es unverändert zurück. Die Welt zu ändern, das ist ihm, immerhin, ein klein wenig gelungen.

Wir sind inzwischen auch am Elbtor angekommen, stecken das Bild in die Tasche und sind ein bisschen traurig, dass ihm die Werbener nicht wenigstens eine Straße oder ein Plätzchen geweiht haben. Weiß niemand von ihm hier und wer er war? Und in Annaberg, wo er geboren ist, auch nicht. Und nicht in Perleberg, wo er 1714 auf höchst preußische Weise zu Tode kam - sein Herz blieb stehen, als des Königs Werber zwei Burschen aus der Kirche weg zum Preußendienst holten: das war die preußische Großmut desselben Königs, der ihn, Arnold, zum Superintendenten an Sankt Jakob berufen hatte. Ein merkwürdiges, des Merkens würdiges Ende.

Vielleicht aber sind wir auch gar nicht traurig, sondern hungrig, und da gehen wir in den Ratskeller zu Werben und verzehren einen gespickten Rindslendenbraten mit Stangenspargel und freuen uns, heute zu leben. Das Stendaler Bier, das man hier zapft, löscht unseren Sommerdurst auf beste Weise.

Kleinstädtische Charaktere

Medaillons in der Manier Spitzwegs