Impressum

Wolfgang Held

… wie eine Schwalbe im Schnee

Historischer Abenteuerroman

 

ISBN 978-3-96521-039-4 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1987 im Verlag Das Neue Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860-505 788

E-Mail: verlag@edition-digital.de

Internet: http://www.edition-digital.de

I

Dem Wind und mir und der Nachtigall,

Uns sind Herrgott und Herrschaft gewogen.

Denn ein leises Lied stört die Ruh’ nicht im Land,

Nur wer schreit, dem wird’s Fell abgezogen …

 

Der Esel schniefte.

Hitze flimmerte über den grünen thüringischen Tälern und Hügeln.

Heiteres Tirilieren der Lerchen über den Feldern und das schrille Zirpen der Grillen im Gras am Wegrand begleiteten das Lied des reitenden Sängers.

Das Jahr 1730 gönnte dem Land einen weiteren Sommer zwischen den Kriegen. Die Nachricht, dass in diesen Tagen verwegene Araberheere die Portugiesen aus dem fernen Sansibar vertrieben, würde erst in ein paar Wochen an den herzoglichen Höfen der umliegenden Residenzen Gotha, Rudolstadt und Weimar für Gesprächsstoff sorgen. Jetzt redete man dort von der neuen Elbebrücke, die August der Starke in Dresden von seinem Baumeister Daniel Pöppelmann errichten ließ. Man bewunderte die gerade bekanntgewordene Matthäus-Passion des in Eisenach geborenen, einstigen Weimarer Hofkonzertmeisters und jetzigen Thomaskantors zu Leipzig, Johann Sebastian Bach, oder man witzelte über eine Maschine zum Schreiben, die ein blinder Mathematikus namens Saunderson angeblich in Cambridge gebaut haben sollte.

Der junge Mann auf dem Esel schenkte derartigen Meldungen nur mäßige Aufmerksamkeit. Ebenso wenig interessierten ihn Neuigkeiten wie die kürzlich von einem gewissen Gray gemachte Entdeckung, dass manche Körper jener bisher kaum beachteten Elektrizität leichteren Durchgang gestatteten, wohingegen andere deren Fortbewegung bedeutende Hindernisse entgegensetzten. Für den Eselreiter wogen diese ganz und gar nutzlose Elektrizität oder das gerade von einem Monsieur Reaumur in Frankreich angefertigte Weingeistthermometer mit der Gradeinteilung Null für den Gefrierpunkt des Wassers, beziehungsweise die neuerdings auf den großen Märkten und Messen zur Schau gestellten Kuckucksuhren aus dem Schwarzwald nicht mehr als die flüchtigen Farben eines Regenbogens.

Hellwache Aufmerksamkeit und Mitgefühl richtete der singende Musikant und Possenreißer Jockl allein auf das, was ganz unmittelbar jene Menschen betraf, denen seine Zuneigung galt. Das waren die einfachen Leute ohne Besitz an Seide und Silber, die Frondienstler in den Dörfern, die Handwerksgesellen und Knechte, alle schuldlos Gebeutelten und Gebrandmarkten.

Jockl saß querseits auf dem Rücken des braven Grautieres. Er ließ die Füße baumeln. Die bloßen, gegen den runden Leib des Esels klopfenden Fersen schlugen zugleich den Takt für das Lied des Reiters und den Schritt des Vierbeiners. Auf der Schulter des dunkelhaarigen, ein wenig schief gewachsenen Sängers wippte eine gezähmte Dohle. Jockl hatte ihr die Zunge gelöst, und nun bewies sie ihre Sprechkünste, indem sie von Zeit zu Zeit ein ziemlich unflätiges Schimpfwort krächzte.

Der helle, klare Klang der Laute, mit der Jockl geübt seinen Gesang begleitete, sprang über reifendes Korn und das satte Grün der Rübenfelder bis hinüber zum nahen Wald. Nichts trieb den Reiter zur Eile. Er kam aus Weimar, wo am Tag zuvor eine öffentliche Hinrichtung stattgefunden hatte. Unter dem strengen Regime des Herzogs Ernst August I. von Sachsen-Weimar-Eisenach, der selbst den Diebstahl eines Hemdes oder einer Handvoll Beeren mit der Todesstrafe belegen ließ, war ein Mann wegen Waldfrevels aufgehängt worden. Er hatte im Südforst heimlich eine junge Eiche gefällt, um daraus vom Stellmacher eine Wagendeichsel schlagen zu lassen. Schaulustige, die es sich leisten konnten, waren vom Galgenberg in die Schenke gegangen, um noch eine Weile beim Bier über Tat, Täter und den Tod am Strang zu schwatzen. Ein Musikant mit witzigen Liedern und einer frechen Dohle machte in solchen Stunden manchen Heller locker.

Nach einer kurzen Rast unter einer Linde in der Lengefelder Flur erreichte Jockl auf seinem Reittier gegen Mittag den schattigen Wald am Spaalberg. Sein Ziel lag von hier aus nur noch reichlich eine halbe Meile entfernt, wenn er den Weg über den Berg wählte. Der steile Anstieg schreckte ihn nicht, zumal in Aussicht stand, dass er auf der kürzeren Strecke an die zwei Stunden eher zu einem kühlen Bier kommen würde. So stieg er vom Eselrücken und überließ seinen Platz dort der Dohle. Die Laute am Riemen über der Schulter, den kurzen Zügel in der Hand, erklomm er den schmalen, in weiten Windungen zur Höhe führenden Pfad. Er ahnte nichts von dem Reiter, der hoch zu Ross und mit einem Packpferd an der Leine nur ein paar hundert Meter weiter nördlich in die gleiche Richtung strebte.

Jockl wollte nach Großkornberg, dem östlichsten Ort des Herzogtums Sachsen-Gotha-Altenburg, der eine Exklave des Amtes Oberkranichfeld war und mitsamt seiner sechs Vorwerke unter der Herrschaft derer von Schönbach stand. Am kommenden Sonntag sollte dort, wie in jedem Jahr um diese Zeit, das Vogelschießen stattfinden.

Der wandernde Sänger zweifelte keinen Augenblick daran, dass er auch schon ein paar Tage zuvor in der Gemeinde willkommen sein würde. Es gibt Menschen, die jedermann mit Freude eine Weile zu Gast, aber um keinen Preis der Welt länger als eine Woche in Sichtweite haben möchte. Jockl war von dieser Art. Man zeigte sich ihm allerorten gewogen, wenn er bei einer Kirchweih, einer Hochzeit oder anderen Festlichkeiten mit seiner Laute zum Tanz aufspielte, die Maultrommel erklingen ließ und für heitere Stimmung sorgte. Seinen selbstgefertigten, feinspitzigen Liedern spendeten die Zecher in den Wirtshäusern zwischen Saale, Werra und Unstrut gern und freigebig ein paar Heller und gefüllte Becher. Ihr Wohlwollen erlosch allerdings recht schnell, wenn die Verse alsbald nicht nur die Obrigkeiten, sondern ebenso frech und unverhohlen die Schwächen, Bosheiten und Ferkeleien der Frauen und Männer im Zuhörerkreis geißelten. Wo über die eigene Person gelacht wird, hört bei den meisten Erdenbürgern der Spaß auf, davon wusste Jockl manche Geschichte zu erzählen, doch seine bis zu vier Dutzend blauen Flecken, zwei gebrochenen Rippen und einem abgeschnittenen Ohrläppchen reichenden Erfahrungen machten ihn nicht zu einem jener erbärmlichen Huldigungswichte, die für eine gefüllte Hand jede gewünschte Lobpreisung sangen, selbst wenn es dabei um einen abgefeimten Despoten oder abscheulichen Kinderschänder ging. Er blieb in seiner ehrlichen und deshalb arg geschundenen Haut und wurde wahrscheinlich gerade deshalb immer wieder herzlich begrüßt, wenn er nach Wochen oder Monaten in einen Ort zurückkam, aus dem man ihn einst handgreiflich vertrieben hatte. In Großkornberg war er seit mehr als einem halben Jahr nicht mehr gewesen.

Zwei Gebäude überragten die Dächer des Hauptdorfes. Eines davon war die Kirche mit ihrem wuchtigen Helmturm, auf dem eine vergoldete Wetterfahne glänzte. In einiger Entfernung stach, spitz und schlank, der kleine Turm des herrschaftlichen Schlosses über die Staffelgiebel hinaus himmelwärts. Vor fast hundertfünfzig Jahren, um 1577, hatte die Adelsfamilie der Schönbacher den Besitz des Großkornberger Rittergeschlechts teils durch Kauf, teils durch Heirat gänzlich unter die eigene Macht genommen.

Oben am Waldrand, angesichts des nahen Zieles, kletterte Jockl wieder auf seinen Esel und ließ ihn traben. Er spürte mit einem Mal recht heftig, dass er kaum etwas im Magen hatte. Seine Laute rührte er nun nicht mehr an. Der Gedanke an frisches Brot, gerührte Eier mit Speck und dazu kühles Bier löschte vorläufig alle Lust auf Singen und Saitenspiel aus.

Das Grautier hatte noch keine hundert Schritte am Waldrand getan, als Jockl hochschreckte. Sein Esel verharrte ohne Kommando. Die großen Ohren standen aufrecht wie Pfeile.

Tier und Reiter lauschten.

Das war ein Schrei, dachte Jockl und blickte zum Wald. So brüllt ein Mensch, der mit glühenden Zangen gekniffen wird!

Die Lerche über dem Rübenfeld zwitscherte weiter. Sanfter Wind bewegte die Zweige der Fichten. Lautlos segelten weiße Wolkenfetzen am Himmel nach Südosten, wo die Großkornberger Fluren an das Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt grenzten. Erst jetzt fiel dem wandernden Sänger auf, dass ein Geräusch fehlte. Vorhin noch hatte er fern aus dem Forst das hallende Schlagen von Äxten vernommen. Mit dem Schrei waren die Klänge verstummt.

Die Stille machte Jockl unsicher. Unschlüssig erwog er, in Richtung des Schreies zu reiten. Vielleicht wurde Hilfe gebraucht.

„Was meinst du, Kassandra?“, fragte er mit schrägem Blick zur Schulter seine Dohle.

Der schwarze Vogel krächzte ein sehr unfeines Wort.

„Richtig“, bestätigte Jockl. „Wer die Finger vom Feuer fern hält, holt sich auch keine Blasen! Nur Narren greifen in schwarze Löcher, von denen sie nicht wissen, was drin steckt!“

Mit einem derben Klaps brachte er den Vierbeiner wieder in Bewegung. Wagemut ist nun einmal sehr unterschiedlich auf die Menschen verteilt, und der dem Jockl zugemessene Anteil blieb ganz und gar den verwegenen Liedern vorbehalten.

Auch der andere Berittene, der sich in dieser Stunde im Spaaler Wald auf dem Weg nach Großkornberg befand, hatte den durchdringenden Schrei vernommen. Er saß im Sattel einer kräftigen, rostbraunen Stute, deren Fell schweißig glänzte. Das Packpferd schleppte zwei gleichgroße Kisten. Weiße Flocken tropften von den Mäulern der Tiere.

Der Reiter trug eine Flinte auf dem Rücken. Er kam aus Nordwesten, wo er in dem kleinen Dorf Tannroda im Auftrag seines Dienstherrn einige Schock Talglichter geholt hatte. Sie waren dort bei einem jungen Kerzenzieher billiger zu haben als in Teichel oder Rudolstadt.

In dichten Locken fiel dem Mann rotblondes Haar bis auf die Schultern. Über seiner Oberlippe sprießte ein buschiger, kupferfarbener Schnauzbart. Bekleidet war der Reiter mit einem mattblauen Hemd, einer dunklen Weste, die Hirschhornknöpfe schmückten, dazu einer weiten schwarzen Hose, die an den Beinen in den Schäften halbhoher Stiefel steckte.

Der Mann hieß Johann Christoph Roth. Er war zweiunddreißig Jahre alt und diente dem auf Schloss Großkornberg residierenden Kammerjunker Johann Friedrich von Schönbach bereits elf Sommer als Jäger. Für diese Stellung erhielt er aus der Schlossküche freie Kost und freie Unterkunft im Gesindehaus. Lohn und Livree gab man ihm nicht, dafür standen ihm alljährlich wenige Stücke Wild, sowie eine geringe Menge Holz aus den Großkornberger Waldungen zu.

Der gellende Schrei kam ganz aus der Nähe. Johann Christoph Roth zögerte keinen Augenblick. Er ahnte, woher der grässliche Wehlaut gekommen war. Seine Sporen zwangen die Stute in eine schnellere Gangart. Das Packpferd wurde an straffgespannter Leine hinterher gezerrt.

In dieser Gegend kannte der Jäger jeden Baum und jeden Strauch, jeden Quell und alle tückischen Klüfte. Er preschte auf kürzestem Weg in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen war. Schnell erreichte er eine Lichtung. Langhingestreckt im kniehohen Gras lag dort eine gerade erst gefällte, stattliche Fichte. Er selbst hatte diesen Baum vor ein paar Tagen zum Schlagen ausgewählt. Der Stamm sollte am kommenden Sonntag den Zielvogel tragen.

Ein paar Schritte neben der dichten Nadelkrone knieten zwei Männer. Das hohe Gras verbarg eine am Boden liegende Gestalt.

Abseits der Männer weideten zwei aneinander geschirrte Zuggäule.

Der Jäger sprang aus dem Sattel. Jetzt sah er, dass die beiden Holzfäller um einen dritten Mann bemüht waren. Sie hatten ihn flach auf das Moos gebettet. Offensichtlich war der Liegende verletzt. Er regte sich nicht. Aus den Mundwinkeln sickerte helles Blut.

Nähertretend erkannte der Jäger den Leblosen. Es war Paul Gutschlag, ein Handfröner, der am Rande des Dorfes Großkornberg eine Kate samt Stall sowie drei Acker Land besaß. Seine achtköpfige Familie lebte von dem kargen Besitz mehr kümmerlich als bescheiden, zumal auf allem noch der Erbzins für den Schönbacher und der Kirchenzehnt für den Pfarrer lagen.

„Wie ist das passiert?“, fragte der Jäger. Er beugte sich herab und betastete vorsichtig den Brustkorb des Bewusstlosen.

Die beiden Holzfäller waren ebenfalls Hintersättler. Sie besaßen kein eigenes Zugvieh und mussten deshalb den Frondienst für die Gutsherrschaft mit harter Handarbeit leisten. Auf die Frage des Jägers reagierten sie wortkarg. Johann Christoph Roth musste ihnen jeden Satz abzwingen, bis er endlich verstand, was geschehen war.

Mit den beiden Pferden, die der Schlossherrschaft gehörten, waren die drei Dörfler am Vormittag herauf in den Wald gekommen. Sie hatten Lichtung und markierte Fichte bald gefunden, und das Fällen war mit Hilfe scharfer Äxte keine große Mühe gewesen.

Während seine beiden Gefährten die stählernen Schneiden in das weiße Holz trieben, hatte Paul Gutschlag die Pferde gehalten. Vermutlich war er dabei durch irgendetwas abgelenkt worden, denn als die Tiere plötzlich beim lauten Knirschen des langsam kippenden Baumes scheuten, behielt er sie nicht im Griff. Das Gespann riss sich los und sprengte aufgeschreckt zur Mitte der Lichtung, genau dorthin, wo die Fichtenkrone aufschlagen musste.

Alles geschah, wie die beiden Holzfäller zögernd schilderten, blitzschnell. Ihre Warnrufe blieben ihnen in der Kehle stecken. Vor ihren Augen jagte Paul Gutschlag die Pferde aus dem gefährlichen Bereich und geriet dabei selbst unter den stürzenden Stamm.

„Den Schrei vergesse ich meinen Lebtag nicht“, murmelte einer der beiden Männer. Ihren Gesichtern war ablesbar, dass sie sich an dem Unglück mitschuldig fühlten.

Der Schwerverletzte stöhnte. Sein Gesicht verlor allmählich die Farbe. Er atmete kurz und rasselnd. Rote Rinnsale nässten Hals und Schultern.

„In seiner Brust ist kein Knochen heil geblieben“, flüsterte der Jäger den beiden Handfrönern zu.

„Wir müssen ihn schnell zum Bader, besser noch zum Schäfer bringen“, meinte der eine, ein breitschultriger Mann, schon deutlich über die Lebensmitte hinaus und kahlköpfig wie ein geschorener Mönch. „Ich setz mich auf einen Gaul und hole ihn her.“

Wieder ächzte Paul Gutschlag. Seine Lider zuckten.

„Bleib hier“, erwiderte der Jäger kaum hörbar. Er hielt das Handgelenk des Verletzten und fühlte, wie der Puls schwächer wurde. Sein Blick verriet, dass hier wohl jede Hilfe zu spät kommen würde.

„Paul will etwas sagen“, bemerkte der Mann mit der Hakennase. „Er kommt zu sich!“

Tatsächlich öffnete Paul Gutschlag die Augen. Sein Blick traf den Jäger, suchte dann die beiden Gefährten, kehrte schließlich wieder zu Johann Christoph Roth zurück.

„Das … das wird wieder … Bald …“ Das Sprechen bereitete ihm Schmerzen, doch die besänftigende Geste des Jägers hielt ihn nicht vom Weiterreden ab. „Wenn wir den Baum aufstellen … Ich bin dabei … Bestimmt … So schnell lässt der Paul das Leben nicht … So schnell …“ Das Wort erlosch ihm auf der Zunge. Plötzlicher Schreck weitete seine Augen. Mit einem Mal spürte er den Tod. Er wehrte sich und versuchte, den Kopf zu heben. Seine Kräfte reichten nicht aus. Er krallte die Finger in den weichen Boden. „Nicht so … so … schnell … nicht …“

Ein Blutstrahl quoll aus der Kehle des Verunglückten. Die Stimme erstickte. Ein kurzes Zittern schüttelte den Körper, dann lag er reglos.

Eine Weile standen die drei Männer steif und sprachlos neben dem Toten. Der Jäger fand als Erster die Stimme wieder. Er faltete die Hände und flüsterte ein Gebet. Die beiden Männer folgten dem Beispiel und stimmten in das „Amen!“ ein.

Auf Geheiß des Jägers hoben die Handfröner den Leichnam quer auf den Sattel der Stute. Sie wollten mit zurück nach Großkornberg gehen, doch das untersagte ihnen Johann Christoph Roth. Er wies die Männer vielmehr streng an, zuerst die ihnen aufgetragene Arbeit zu erledigen. Am gefällten Baum musste das Gezweig entfernt werden, bevor das Gespann den Stamm ins Dorf zum Zimmermann schleifen konnte.

Gehorsam nahmen die beiden Zurückbleibenden wieder die Äxte zur Hand. Sie schauten dem Jäger nach. Er ging, Reitpferd und Packpferd am Zaumriemen führend, zwischen den Tieren.

„So ist er: Mal Bruder, mal Luder!“, brummte der Hakennasige.

Der Kahle schüttelte den Kopf.

„Wo keine Strenge ist, da gibt es auch keine Ordnung“, verteidigte er den Jäger.

 

Hangabwärts stemmte der Jäger bei jedem Schritt die Stiefelabsätze in den Boden und hinderte so die drängenden Pferde daran, in Trab zu fallen. Aus dem Wald klang ihm das Schlagen der Äxte nach.

Bei einem prüfenden Blick über die Schulter sah er in das bleiche Gesicht des Toten. Die von schwerer Arbeit und manchen Plagen gezeichneten Züge erinnerten ihn auf merkwürdige Weise an das Antlitz des gekreuzigten Christus. Indem er sich, von dem Anblick berührt, das armselige Leben des Paul Gutschlag im Diesseits vergegenwärtigte, erschien ihm der Tod für diesen Mann als eine Erlösung.

Hintersättler wie jener Paul Gutschlag wurden in Großkornberg von der Gutsherrschaft nach Gutdünken zum Frondienst befohlen. Dies geschah nicht selten an fünf Tagen in einer Woche. Für ein Pfund Brot, das man Fronsemmel nannte, forderte der Schönbacher zwölf volle Stunden Arbeit, die sechs Uhr in der Frühe begann. Es gab dabei keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern, Grauköpfen oder Kindern, von denen manche ihren Vätern kaum bis zum Gürtel reichten. Lediglich die verschiedenen Tätigkeiten unterlagen einer gewissen Einteilung. Während die Männer und die kräftigsten Halbwüchsigen zur harten Arbeit auf die Felder und in die Stallungen geschickt wurden, zum Holzschlag oder auch zu Bauarbeiten an Schloss und herrschaftlichen Wirtschaftsgebäuden, mussten sich die Frauen und Mädchen mit dem Hecheln und Flechten von Flachs oder Hanf schinden, mussten Unkraut jäten, scheuern und putzen, Wäsche waschen oder bei der Küchenarbeit zupacken. Für den eigenen Acker blieb den Gutschlags und allen anderen Hintersättler-Familien oft nur die Nacht.

Bessergestellt waren in Großkornberg die Spannfröner, die vier Zugochsen oder zwei Pferde ihr eigen nennen konnten. Ihnen wurden von der Aussaat bis zur Ernte auf einem zugewiesenen Gutsacker alle anfallenden Spanndienste aufgetragen, dazu die Anfahrten von Futter bis zu einer Entfernung von drei Meilen und der Transport von Heu, Holz, Mist, Baustoffen und mancherlei Schlossbedarf. Immerhin vermochten sie den Hunger von ihren Tischen fernzuhalten und fühlten sich den Handfrönern gegenüber so überlegen, dass es über diesen unsichtbaren Zaun hinweg weder Freundschaften noch Hochzeiten gab.

Trotzdem hat er sich ans Leben geklammert, dachte Johann Christoph Roth. Jahr um Jahr Plagerei für ein paar bittere Bissen, sieben Schlucke Bier am Feiertag, ein bisschen fleischliche Freude an einem mageren Eheweib und alle Sommer ein neues Stück derben Tuches auf den Arsch. Was ist das für Elend. Weshalb wohl jede Kreatur, und lebte sie noch so erbärmlich, sich dennoch bis zum letzten Atemzug ans Leben krallt und den Tod mehr fürchtet als ein Dasein voller Leiden und Bitternisse? Er sann über diese Frage nach und hatte noch keine schlüssige Antwort gefunden, als er das Dorf erreichte.

 

Das Anwesen der Familie Gutschlag lag am Ortsrand des kleinen, etwas weniger als dreihundert Einwohner zählenden Ortes. Dichtgewachsener Sauerdorn umgab im Geviert das niedrige, aus Lehm gebaute Häuschen. Unter dem Schindeldach befand sich auch der Stall für Kuh, Ziege, ein paar Kaninchen und einiges Federvieh. Auf einem abgeteilten Stück innerhalb des Heckenzaunes wuchsen Gemüse und Küchenkräuter. Den Brunnen hatten Paul Gutschlag und seine Frau Hedwig selbst gegraben. Im feuchten Erdreich ringsum scharrten Hühner. Drei Enten flüchteten schnatternd vor dem Ankömmling und den beiden Pferden. Hinter den blanken, winzigen Fensterscheiben plärrte ein Kleinkind.

Der Jäger ging mit den Pferden durch das offene Gattertor in der Hecke bis vor die Tür des Häuschens. Niemand kam ihm entgegen. Wäre nicht das Kinderweinen gewesen, hätte man das Anwesen für verwaist halten können.

Vorsichtig hob Johann Christoph Roth den Toten aus dem Sattel. Er nahm ihn vor der Brust auf beide Arme und ging auf den Eingang der Kate zu.

Wie leicht der arme Mensch ist, wunderte er sich.

Die Tür war nur angelehnt. Der Jäger schob sie mit dem Fuß auf und trat über die Schwelle. Der Raum lag im Dämmerlicht.

„Sei tapfer, Mädchen“, sagte der Jäger, dessen Eintreten bis zu diesem Moment unbemerkt geblieben war. „Eine schwere Prüfung! Ihr müsst jetzt alle sehr stark sein und auf den Herrgott bauen!“

Eine grobgeschnitzte Holzpuppe polterte zu Boden.

Der auf dem Tisch liegende, gerade frisch in Leinen gewickelte Säugling schrie schrill weiter.

Die fünfzehnjährige Agnes, Älteste der Gutschlag-Kinder, fuhr herum. Ihre kleine Schwester Elsa, die in der Ecke mit der hölzernen Puppe gespielt hatte, stürzte heran und klammerte sich furchtsam an der Ältesten fest. Beide starrten fassungslos den Jäger und den auf dessen Arm ruhenden, toten Vater an. Sie glaubten nicht, was ihre Augen sahen. Ihr Denken und Fühlen, jede Faser in ihnen weigerte sich, die furchtbare Wahrheit anzunehmen.

„Der Baum fürs Vogelschießen hat ihn erschlagen“, erklärte Johann Christoph Roth. Das Mädchen Agnes stand nur vier Schritte von ihm entfernt. Das helle, in schmalen Streifen durch das Fenster hereinfallende Licht umfloss ihre Gestalt. Sie trug nur ein dünnes, knapp bis zu den Waden reichendes, hemdartiges Kleid. Die Sonnenstrahlen enthüllten alle knospenden, jungfräulichen Reize des schlanken Körpers. Der Jäger zwang seinen Blick von dem Mädchen fort. Er schämte sich seiner Gedanken. Verlegenheit machte ihn hilflos. „Wo soll ich ihn hinlegen? Wo ist eure Mutter? Habt ihr eine Kerze im Haus oder zwei?“

Agnes nahm den noch immer wimmernden Säugling auf den Arm und bedeutete dem Jäger, den Leichnam in den hinteren Teil des Raumes zu tragen. Der dort mit Brettern abgeteilte Winkel, von einem Vorhang aus Sacktuch in zwei Hälften geteilt, diente der Familie als Schlafplatz. Auf einer Seite gab es ein grob zusammengezimmertes Bett für die Eltern. Die Kinder schliefen gegenüber auf dem Boden in kniehoch aufgeschüttetem Stroh.

Behutsam bettete der Jäger den Toten auf das eheliche Lager.

Die Fünfzehnjährige brachte ein weißes Laken. Eine Kerze war nicht im Haus. Der Jäger ging hinaus und kam gleich darauf mit einem der für die Schlossherrschaft bestimmten Talglichter zurück. Er war sicher, dass der Schlossherr diese Eigenmächtigkeit billigen würde. Nachdem er die Kerze angezündet hatte, stellte er sie hinter dem Haupt des bis zum Kinn mit dem Laken bedeckten Verstorbenen auf.

Indessen hatte Agnes die kleine Elsa hinaus zu dem Acker geschickt, wo die Mutter gemeinsam mit den drei anderen Gutschlag-Kindern den reifen Roggen schnitt. Der Weg war weit. Früher als in einer Stunde konnte Hedwig Gutschlag mit ihren Kindern nicht am Totenbett sein.

„Habt Dank, Herr Jäger“, sagte Agnes scheu. Sie standen nebeneinander am Fußende des Lagers. Der Säugling war im Arm der Schwester von einem Atemzug zum anderen verstummt und eingeschlafen. Das Mädchen ließ den Blick nicht von dem knochigen, im milden Kerzenlicht nun doch friedvoll wirkenden Gesicht des Vaters. Ihre Stimme zitterte. „Aber nun geht, Herr Jäger, ich bitte Euch, geht!“

Johann Christoph Roth zögerte. Es widerstrebte ihm, das Mädchen mit dem Säugling bei dem toten Vater allein zu lassen. Eigentlich hatte er vor, bis zum Eintreffen der Frau des Verunglückten zu warten.

„Bitte!“, wiederholte Agnes. Er sah, dass ihre Lippen zitterten. Sein Mund wurde schmal. Er nickte.

„Ich werde beim Pfarrer vorbeireiten und ihn zu euch schicken“, sagte er und verließ den Raum. Als er draußen in den Sattel stieg, hörte er im Haus jäh hervorbrechendes, schmerzvolles Schluchzen. Er verharrte betroffen, spornte dann die Stute an. Das Packpferd trottete nach.

 

Der Wirt des Großkornberger Gasthofes „Zur wilden Sau“ zählte viel zu häufig die gesparten Silbergroschen nach, um einem spitzzüngigen Wandervogel vom Schlage des Jockl auch nur für einen halben Kreuzer Kredit zu gewähren. Der Sänger hingegen hütete sich, den kleinsten Heller des im Weimarischen erspielten Geldes blicken zu lassen. Für einen Liter Bier und einen Kanten Brot überließ er dem Wirt Esel und Laute als Pfand. Für das Abendessen versprach er bare Münze, die er den Dörflern noch vor Sonnenuntergang aus den Beuteln zu locken hoffte.

Zuerst wollte sich Jockl gegenüber der „Wilden Sau“ niederlassen. Dort stand der Schandpfahl. Erst am Morgen hatte der Gerichtsknecht und Fronvogt Christian Weber hier einen Mann nach erfolgtem Richterspruch mit Hals und Händen in die engen Aussparungen der beiden aufeinanderliegenden, schweren Querbalken eingespannt. Der Verurteilte, ein Hintersättler aus dem zu Großkornberg gehörenden Geitersheim, sollte zwei Tage und zwei Nächte am Pranger öffentlich der Schande preisgegeben sein. Er war ertappt worden, als er auf einer Weide beim Vorwerk Löswitz heimlich für die eigene Familie gutsherrschaftliche Kühe nachmelkte.

Ständig umlagerten Kinder den Milchdieb. Hilflos war der Mann den derben Neckereien der Halbwüchsigen ausgesetzt. Ein besonders dreister Knirps wagte es sogar, ihn zu kneifen. Jockl wusste, dass er an diesem Platz immer ein Publikum haben würde, doch an barfüßigen Zuhörern ohne jeden Heller und Pfennig lag ihm wenig.

Der Prellstein am großen Torbogen der Durchfahrt, die am lang gestreckten Gesindehaus hinein zum weiten Wirtschaftshof des Schlosses führte, bot dem Sänger einen besseren Standort. Das grelle, stechende Licht der Nachmittagssonne störte ihn nicht. Vor seinen Füßen lag eine bestickte Lederkappe für die von ihm erhofften, reichlichen Spenden. Auf seiner Schulter krächzte die schwarze Kassandra in kurzen Abständen heisere Laute, die man mit einiger Fantasie als „Vergelt’s Gott“ und „Geld her, Geld her!“ deuten konnte.

Jockl spielte vorerst auf der Maultrommel. Er wollte seine Stimme für die Lieder am Abend schonen. Die eigentümlich schwingenden, weithin durch das Dorf springenden Klänge lockten immer wieder Zuhörer an. Besser als er beherrschte im Thüringischen keiner das Brummeisen. Adlige und reisende Kaufleute, die im Königreich Preußen den angeblich besten europäischen Virtuosen auf diesem Instrument, einen jungen Soldaten namens Koch, gehört hatten und dessen Spiel mit dem des Jockl verglichen, räumten letzterem ohne Ausnahme die höhere Kunst ein.

Der Musikant hielt das recht einfache, aus Riva in Tirol stammende Gerät beim Spiel zwischen den Zähnen. Er brachte es durch Einziehen und Ausstoßen des Atems zum Klingen, indem er gleichzeitig mittels des Fingers eine an dem Instrument befindliche Stahlzunge zupfte. Seine Mundhöhle diente dabei als Schallraum. Durch fortwährende Veränderung der Lippen-, Zungen- und Wangenstellung zauberte er eine erstaunliche, melodische Klangfülle hervor, die auch an Lautstärke jedes Flöten- oder Lautespiel übertraf.

Die immer noch brütende Hitze machte Jockl ebenso wenig aus wie den halb nackten Kindern, die von seiner Melodie herbeigerufen wurden. Nach einer halben Stunde lagen die ersten Heller in der Lederkappe. Die Frau des Stallmeisters, eine stramme Blondine mit kürbishaften Brüsten und einem herausfordernden Lächeln auf dicken, ständig feuchten Lippen, warf aus dem oberen Stockwerk des Gesindehauses ein Tüchlein zu dem Spieler hinab. Jockl wickelte einen ganzen Kreuzer aus der nach Lavendel duftenden Hülle. Nach einer tiefen Verbeugung schaute er hinauf zur Spenderin und wusste, durch viele Erfahrungen gewitzt, dass die Münze nur den geringeren Teil des ihm bezeugten Wohlwollens darstellte. Vergnügt und in Gedanken schon bei Sauerkraut mit Pökelfleisch, obergärigem Weißbier und heimlichem Liebesspiel, schickte er die heiteren Klänge einer Tanzweise hinauf zur Stallmeisterin und in alle Himmelsrichtungen, bis ihm ganz unvermittelt eine barsche Stimme Einhalt gebot.

„Genug jetzt mit dem lästerlichen Gebimmel!“

Neben Jockl stand ein Bediensteter aus dem Schloss. Seine Livree war zwar mit goldenen Fäden bestickt, aber arg verblichen und an vielen Stellen abgewetzt. Er kam vom Wirtschaftshof her und blickte nun unfreundlich auf den Musikanten herab.

„Du störst! Exzellenz schickt dir das hier!“ Er warf mit spitzen Fingern einen halben Kreuzer in die Lederkappe. „Und Exzellenz verbietet sofort jedes Musizieren unter freiem Himmel, verstanden? Nach dem letzten Schuss beim Vogelschießen kannst du laut den neuen Schützenkönig lobpreisen, doch bis dahin keinen Ton! In der Schenke magst du den Leuten aufspielen, wenn dir der Sinn danach steht.“

Jockl nahm das Brummeisen aus dem Mund, blieb aber weiter auf dem Prellstein sitzen.

„Exzellenz?“, fragte er mit gespieltem Erstaunen. Seine Augen glitzerten. Der Blick verriet den Schalk. „Ihr habt eine richtige Exzellenz hier in Großkornberg?“

„Stell dich nicht dumm!“

Jockl blickte in die Kappe.

„Es kann nicht wahr sein, Herr. Große Männer haben nicht so kleine Münzen im Beutel!“

„Halt deine Zunge im Zaum, Jockl“, warnte der Livrierte. Er schaute sich nach unerwünschten Zuhörern um, bevor er weitersprach. Sein Erscheinen hatte zwei, drei ältere Dörfler vertrieben. Die Kinder hielten respektvoll Abstand. Er sprach leise. Seine Stimme verlor den herablassenden Ton des Überlegenen. „In Österreich regiert Kaiser Karl der VI., als wär er der französische Ludwig, in Preußen lässt Friedrich Wilhelm seine sämtlichen Untertanen soldatisch exerzieren, rings um Großkornberg schalten und walten drei Herzöge, aber hier, wo du Frechfink jetzt deine Füße hinstellst, da kommt nach dem lieben Gott unser Herr von Schönbach, und der kann dir jeden Handknochen einzeln brechen lassen, wenn er will … Seit Ostern besteht er darauf, dass ihn alle Welt Exzellenz nennt!“

Der Kammerjunker und Gutsherr Johann Friedrich von Schönbach hatte vor Monaten gelesen, dass die von ihm bewunderten Franzosen seit ungefähr achtzig Jahren allen hochgestellten Persönlichkeiten im zivilen und militärischen Dienst den Titel Exzellenz zubilligten. Inzwischen bestanden auch in Deutschland nicht wenige Angehörige des niederen Adels auf diesem Anspruch. An den Universitäten oder Akademien, gleichermaßen Hochburgen des menschlichen Geistes und der Eitelkeit, bestanden auch Professoren und Dozenten auf dieser Anrede, die schmeichlerisch eine oft in keiner Weise begründete Vortrefflichkeit des damit Angesprochenen rühmte. Der Schlossherr von Großkornberg forderte den Titel entschieden von jedem, der das Wort an ihn richtete. Seine Frau Katharina durfte sich von dieser Pflicht ebenso wenig ausnehmen wie der vierzehnjährige Sohn Philipp oder die Tochter Karoline, ein blutarmes Mädchen, das weit hinter seinen zwölf Lebensjahren zurückgeblieben war. Jedes Mal, wenn er gehorsam mit der befohlenen Anrede genannt wurde, fühlte er sich seinem großen Ideal, dem König Ludwig XIV., seelenverwandtschaftlich näher gerückt.

„Vergelt’s Gott!“, schnarrte die Dohle Kassandra und trippelte auf der krummen Schulter ihres Besitzers hin und her. Die hellen Flecken beiderseits am Hals des schwarzen, kaum taubengroßen Rabenvogels schimmerten wie Silberschmuck. „Geld her! Geld her! Vergelt’s Gott!“ Und dann zwei-, dreimal das unfeine Wort. Der Livrierte griente.

Jockl raffte die paar Münzen aus der Lederkappe. Er stand auf und schielte hinauf zu dem Fenster im oberen Stockwerk des Gesindehauses. Die Frau des Stallmeisters war verschwunden.

Der Bedienstete bemerkte den Blick. Sein Grinsen wuchs von einem Ohr bis zum anderen, aber er blieb stumm.

Ohne dem Mann noch länger Aufmerksamkeit zu schenken, räumte Jockl das Feld. Ein wenig steifbeinig, begleitet von der Kinderhorde, schlug er die Richtung zum Dorfgasthaus ein.

In Sichtweite der „Wilden Sau“ ritt der Jäger Roth auf seiner Stute und mit dem Packpferd vorüber. Jockl stutzte, als er das starre Gesicht des Mannes sah, mit dem er in vergangenen Jahren manchen Krug gemeinsam geleert hatte. Jetzt schenkte ihm der Reiter keinen einzigen Blick.

„Auch Exzellenz geworden, wie?“, rief der Sänger dem Jäger nach, der weder mit Wort noch Geste reagierte.

In diesem Augenblick erklang ein dünnes, blechernes Geläut und erschreckte das Dorf. Sofort ließen die Kinder von dem An geprangerten ab und rannten zur Kirche. Der Milchdieb reckte in seiner hölzernen Umklammerung betroffen den Hals. Hier und dort erschienen Dörfler, die das Alter oder ein Gebrechen vom Acker fernhielt, an Türen und Fenstern. Auch der Wirt aus der „Wilden Sau“ trat aus dem Hoftor.

Das Totenglöcklein läutete!

Die kleine Glocke hing in einer bescheidenen Friedhofskapelle. Es war in Großkornberg Brauch, mit dem kümmerlichen Geläut das Ableben eines Gemeindemitglieds zu verkünden. Die Regel galt nur für Untertanen, die im gutsherrschaftlichen Bereich Heimatrecht besaßen. Unter den Schönbachern erfolgte, anders als in den ostelbischen Regionen, keine juristische Festschreibung der Bewegungsfreiheit für die Untertanen. Wer sich in Großkornberg zum Fortgehen entschloss, hatte ein Abzugsgeld zu zahlen und durfte gehen, wobei er allerdings jenes Heimatrecht verlor, das für Alter oder große Not eine gewisse Unterhaltspflicht des Gutsherrn und der Gemeinde einschloss. Auch, wenn ein ortsfremder Gast oder ein durchreisender Handelsmann in Großkornberg starb, blieb das Totenglöcklein stumm.

Die Dörfler, der Milchdieb und Jockl lauschten noch beklommen, als ein kurzes, von den Hügeln widerhallendes Krachen das Geläut übertönte.

Ein Büchsenschuss!

Jockl schüttelte den Kopf und spähte zu seiner Kassandra, die reglos und starräugig auf ihrem Platz hockte. In ihrem offenen Schnabel zitterte die spitze Zunge.

„Soll ich dir was verraten, Kassandra? Pulverknall und Sterbeglöckchen, das ist sehr ungesund für einen leeren Magen!“, sagte er leise und beeilte sich, mit seiner gefiederten Begleiterin in den kühlen Schankraum zu kommen.

 

Rotbuchen, Linden, Eschen und stattliche Ahornbäume bedeckten den Berghang hinter dem Schloss Großkornberg mit kühlem Schatten. Ein Quell sprudelte munter. Das Bächlein sprang über Stein und Wurzel talwärts zum Wallgraben, der wassergefüllt in engem Rechteck das fünfstöckige Haupthaus und sämtliche Seitenflügel des Schlosses schützend umgab.

Schmale Wege durchschlängelten das Dickicht, führten den Spaziergänger zu lauschigen Lauben, berührten das Ufer eines still unter dem Laubdach dahindämmernden Weihers, der selbst im strengsten Winter nicht zufror, und mündeten allesamt in die große Wiese, zu der Turm und Giebel des Schlosses herübergrüßten.

Wieder krachte ein Schuss.

Friedrich Philipp von Schönbach, der vierzehnjährige Sohn des Kammerjunkers, hatte die Büchse abgefeuert. Nun öffnete er wieder die Augen und blinzelte hinter der Kugel her.

Die Zielscheibe bestand aus einem mit Leinen bespannten Wagenrad. Der Schlossherr hatte eigenhändig und nicht ohne einiges Talent die Umrisse eines die Flügel ausbreitenden Adlers auf den hellen Stoff gezeichnet. Die schwarzen Kohlestriche waren weithin sichtbar.

Grauer Pulverrauch zerfloss in der klaren Luft. Vater und Sohn gingen nebeneinander zu der reichlich sechzig Schritte entfernt an einem Buchenstamm befestigten Scheibe. Philipp schleppte die leere Büchse auf der Schulter mit. Missmutig sah er zu, wie der Vater den Stoff nach einem Trefferloch absuchte. Im blassen Gesicht des feisten, flachsköpfigen Knaben fehlte jeder Zug von Zuversicht. Offenkundig setzte er nicht die geringsten Erwartungen in seine Schießkunst.

„Nichts!“ Der Kammerjunker musterte seinen Sohn, als trüge der Junge Zeichen einer abschreckenden Krankheit. „Nicht mal schießen! Fressen, kleine Bildchen malen, Verschen schreiben, aber keine Kugel ins Ziel bringen! Herrgott noch mal, in deinem Alter hab’ ich meinen ersten Zwölfender auf die Decke gestreckt, Philipp. Da hab’ ich unsre strammste Zofe geschwängert und mit einem Liter Bier im Bauch noch dreijährige Hengste eingeritten … Und du, ein Schönbacher, der vorm Schuss die Augen zusammenkneift!“

Philipp von Schönbach blickte an seinem Vater vorbei auf die unbeschädigte Scheibe.

„Gegen den Toffel könnte ich beim Vogelschießen sowieso nichts ausrichten“, maulte er. Der Spitzname galt dem Jäger Roth, der im Schloss selten anders genannt wurde. „Wenn der Toffel schießt, trifft er mit jedem Schuss, das wissen alle Leute. Da hält auch in diesem Jahr keiner mit!“

„Nicht Reiter, nicht Courschneider, nicht Schütze … Weshalb straft mich Gott mit so einem Erben?!“

„Außerdem will ich auch gar nicht Schützenkönig werden, selbst wenn ich es wirklich vollbringen könnte. Ich hätte keine Freude an so einem Spiel.“

„Aber ich, zum Donnerwetter!“, fuhr Johann Friedrich von Schönbach hoch. Die Gleichgültigkeit des Sohnes reizte den Groll des Vaters. Auf seinen prallen Wangen glühten rote Flecken. „Wann der Toffel schießt, wie und wo er schießt, mein Herr Sohn, das bestimmt allein sein Gebieter, also Seine Exzellenz, der großherzogliche Kammerjunker und alleinige Schlossherr auf Großkornberg – ich! Und der Toffel wird meinem Sohn am Sonntag nicht im Weg stehen, dafür lass mich sorgen!“

„Ich mag diese stumpfsinnige Knallerei nicht, Exzellenz.“

Die roten Flecken im Gesicht des Schlossherrn bekamen einen bläulichen Schimmer.

„Für meinen Sohn kommt es nicht darauf an, was er mag. Wichtig ist allein, was ihm Rang und Namen gebieten!“

„Verzeihung, Exzellenz, aber Schützenkönig, was ist das schon für ein Titel? Jeder Hintersättler, jeder Tagelöhner oder Dümmling kann einen guten Schuss setzen, wenn er nur den Kreuzer für ein Los zahlt, zur rechten Zeit aufgerufen wird und mit einer kleinen Portion Glück den Corpus herunterholt …“

„Du sprichst wie ein Gottesleugner!“

„Haltet zu Gnaden, Exzellenz, aber ich kann nicht glauben, dass edles Blut beim Schießen erkennbar wird.“

Einen Augenblick lang widerspiegelte die Miene des Kammerjunkers Erstaunen. Er vermochte sich nicht zu erinnern, dass ihm sein Sohn derartig entschieden eine eigene Meinung entgegengesetzt hatte. In jedem anderen Fall hätte solcher Widerspruch seinen Jähzorn geweckt, doch jetzt deutete er diese Haltung als einen Ausdruck wachsenden Selbstbewusstseins und freute sich darüber.

„So, das glaubst du nicht“, meinte er ruhig. „Dann denkst du vermutlich auch, unsre Untertanen ringsum, die krümmten den Rücken vor dir nur, weil du meinen Namen führst und später einmal Herr auf Großkornberg sein wirst.“

„Sie kennen ihren Platz, die guten Leute.“

„Falsch, Friedrich Philipp! Ganz und gar falsch!“ Der Kammerjunker zückte eine kleine, kunstvoll emaillierte Schnupftabakdose und nahm eine schwarze Prise, bevor er weitersprach. „Obrigkeit, ganz gleich welchen Ranges, die ihren Untertanen fortwährende Beweise der herrschaftlichen Überlegenheit schuldig bleibt, wird zeitig lächerlich, mein Sohn! Und eine Herrschaft, die ihre Respektabilität verliert, nährt damit im niederen Volk dessen Hang zu Ungehorsam und Rebellion, Friedrich Philipp. Eine Neigung, die beständig dort schlummert!“

„Mit Verlaub, Exzellenz, gegen Aufsässigkeit steht die Polizei des Herzogs, stehen die Soldaten.“

Johann Friedrich von Schönbach nahm den widerborstigen Ton des Sohnes ein wenig amüsiert hin.

„Gewalt ist ein kurzes Schwert, das wirst du bald lernen. Nur auf besonnen und sparsam ausgewählte Ziele wirkt das Zuschlagen sinnvoll. Herrschen auf Dauer, das leistet vor allem Kopfarbeit. Und nun stopf die Büchse für den nächsten Schuss. Wir üben weiter!“

Friedrich Philipp rührte sich nicht.

Nach ein paar Schritten wandte sich der Kammerjunker um.

„Vorwärts, mein Sohn! Es wird dir gefallen, wenn die Leute überall auf dich zeigen und sagen: Seht, da geht er, der beste Schütze von Großkornberg. Der Schützenkönig!“

Friedrich Philipp betrachtete die Finger seiner rechten Hand, als sähe er sie zum ersten Mal. Seine Linke umklammerte den Büchsenlauf.

Der Kammerjunker kam zurück zur Scheibe. Er trat dicht an seinen Sohn heran.

„Mach mich nicht böse, Friedrich Philipp!“

„Ich habe Angst, Exzellenz!“

„Angst? Wovor, in Dreiteufelsnamen?“

„Es tut weh. In den Ohren. Ich fürchte mich vor dem Abfeuern …“

„Du wirst es aushalten!“

Der Sohn des Kammerjunkers hielt jetzt das Kinn gesenkt. Nachdrücklich schüttelte er den Kopf.

Der Schlossherr musterte den Vierzehnjährigen einigermaßen ratlos. Er atmete tief. Wieder rötete sich sein Gesicht. Es sah aus, als wolle er den Sohn schlagen.