Impressum

Heinz Kruschel

Paragraf 51?

ISBN 978-3-96521-224-4 (E-Book)

 

Das Buch erschien erstmals 1965 im Deutschen Militärverlag, Berlin (Erzählerreihe Heft 105).

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
 

2020 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

Tel.: 03860 505788

19065 Pinnow

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1. Kapitel

Gelbgestrichene Wände, ein langer Flur – spiegelblank, eine fahrbare Trage vor der gläsernen Pendeltür, das Foto eines Sanatoriums an der Wand und ein Reklamespruch: Reise dich gesund! Das Wunder in den Wannen von Wallis!

Die Schwester, klein, rundlich, mit Nackenknoten, sprach halblaut und geduldig mit dem jungen Mann: „Sie sehen das doch ein, Herr Babkuhl, die Patientin darf keinen Besuch empfangen. Ich werde ihr alles geben, die Blumen, das Konfekt; ich bestelle einen besonders lieben Gruß von Ihnen …“

Horst Babkuhl nickte. Er dachte: Ich werde der Schwester alles sagen, sie macht einen netten Eindruck und sieht überhaupt nicht vergnatzt aus. Ich muss ihr alles sagen.

„Ist noch etwas, Herr Babkuhl?“

„Ich habe eine Bitte, Schwester Vera.“

„Ja?“

„Würden Sie dafür sorgen, dass Fräulein Komorowski keine Tageszeitungen bekommt, vorläufig jedenfalls nicht?“

Als er merkte, dass die Schwester die Stirn runzelte, sagte er hastig: „Man schreibt über Anke Komorowski, man schreibt schlecht, gemeine Dinge. Sie würde sich wieder aufregen, das kann doch nicht gut sein für sie …“

Die Schwester, schon zu lange von ihren Pflichten abgehalten, versprach es. Versuchen wollte sie es jedenfalls. Gott, man hat schon die absonderlichsten Wünsche von Patienten und Besuchern gehört. Was soll man über dieses zarte, hübsche Mädchen schon schreiben? Dass die Schule einen Ausflug macht, an dem es nicht teilnehmen kann? Aber der Junge sagt: Gemeine Dinge. Man müsste heute mal die Zeitung lesen. Wenn man verliebt ist wie dieser Primaner da, übertreibt man gern. Was wusste sie auch von diesem Mädchen.

Vor vier Tagen hatte man sie eingeliefert. Nervenfieber. Vegetative Neurose. Man achtet kaum mehr darauf. Heute hat jeder dritte Mensch in der Bundesrepublik Hypertonie oder fühlt sich erschöpft. Schon die Zwanzigjährigen tun das, was früher die Vierzigjährigen machten – sie wollen sich auskurieren lassen.

Anke Komorowski hieß das Mädchen, die Mutter sollte Bardame sein, in der „Münster-Grotte“, auch nicht das vornehmste Etablissement.

Schwester Vera brauchte nicht lange zu suchen, in der „Stuttgarter Zeitung“ las sie einen Verhandlungsbericht aus dem Schöffengericht Konstanz, in dem der Name des Mädchens, abgekürzt, erwähnt war:

„Dr. Schrei wurde vom Elternbeirat der Oberschule beschuldigt, ein intimes Verhältnis mit der siebzehnjährigen Schülerin Anke K. gehabt zu haben, die schlechte Leistungen in mehreren Fächern aufwies und deren Mutter sich in einer wirtschaftlichen Notlage befindet. Fortgesetzte Unzucht mit Abhängigen und Vornahme unzüchtiger Handlungen in achtzehn Fällen, lautet die Anklage. Nach mehrstündigen Verhandlungen wurde Dr. Schrei von beiden Anklagepunkten mangels Beweises freigesprochen.

Als schizoide Persönlichkeit von zweifelhafter Glaubwürdigkeit charakterisierte das psychiatrische Gutachten die minderjährige Oberschülerin. Was aber die Übergriffe auf die Schülerinnen angeht, so führte der Gerichtsvorsitzende in der Urteilsbegründung aus, habe der Lehrer tatsächlich die Gewohnheit gehabt, hin und wieder zu tätscheln. Ein subjektives Unrechtsbewusstsein habe er dabei nicht gehabt. Ihm wurden jedoch eindringliche Ermahnungen mit auf den Weg gegeben …“

Eindringliche Ermahnungen. Ein subjektiyes Unrechtsbewusstsein habe er nicht gehabt, dieser Herr Lehrer, dachte Schwester Vera und verstand die Bitte des Jungen. Das durfte Anke nicht lesen, das musste man von ihr fernhalten. Sie, Vera, würde auch mit den Schwestern reden. Was in ihren Kräften stand, das sollte geschehen. Soviel Menschenkenntnis glaubte sie zu haben, um zu wissen, dass diese Kleine keine „schizoide Persönlichkeit“ war. Wer weiß, was alles dahintersteckte. Was hat die Kleine durchmachen müssen; in ihrem Zustand ist es leicht, von einer „Zerfahrenheit des Denkens“ zu reden und ihr den Stempel einer Geisteskrankheit aufzudrücken. Das sollte Anke Komorowski vorerst nicht zu lesen bekommen.

 

Horst Babkuhl schlenderte durch die Straßen. Er würde auch noch die nächste Stunde versäumen, was machte es. Es ist alles anders geworden durch diesen Schrei, dachte er, und dabei liegt es erst Wochen zurück. Damals, Ende Oktober, hatte sich die ganze Klasse über Ankes Verhalten gewundert. Das sonst so fröhliche Mädchen wurde stiller, zurückhaltender, sie wich sogar Horst aus, obwohl der seit der Obersekunda fest mit ihr befreundet war. Dann merkte man, dass Dr. Schrei, der Latein und Deutsch unterrichtete, das Mädchen im Unterricht vorzog. Und Anke, die in der elften Klasse beinahe hängengeblieben wäre, erhielt nun gute Noten für die Lösung banaler Aufgaben. Damals hatte sich Horst selbst belächelt bei dem Gedanken, dass Dr. Schrei und Anke … Immerhin war Schrei Junggeselle, neunundfünfzig Jahre alt und Anke siebzehn. Nein, er hatte es nicht glauben wollen; nicht glauben können. Aber dann hatte Anke kaum noch mit ihm und den anderen gesprochen. Allen war sie aus dem Wege gegangen.

Horst lief durch die Stiftstraße. Hier brodelte der Verkehr, der Lautsprecher eines Schallplattengeschäftes quärrte eine Version von Gershwins „Summertime“, aus einer. Gruppe schwarz gekleideter Männer löste sich ein schmaler, bleicher Bursche und blieb vor ihm stehen. Der Bleiche hatte einen Stapel Hefte unter dem Arm und blickte sonderbar starr. „Gerade du brauchst JESUS“, sagte er leise und andächtig, „ruhig sterben kann man auch mit einer Morphiumspritze, aber selig sterben kann man nur mit JESUS.“

„Und was wollen Sie von mir?“, fragte Horst.

„Die Bibel sagt: Wer an den Sohn glaubt, hat ewiges Leben, wer sich aber dem Sohn nicht unterwirft, wird das Leben nicht sehen.“ Horst gähnte. Das Bürschlein drückte ihm eine Broschüre in die Hand und ging zu seiner Gruppe zurück, gemessenen Schrittes.

Horst las den Aufdruck; „Jeder, der an die unten stehende Adresse schreibt, bekommt das Buch ,Wie ist das Weiterleben nach dem Tode?‘ kostenlos zugesandt. Schriftenmission Heukelbach, Bezirk Köln.“

Das passt zu meiner Stimmung, dachte Horst und warf das Heft, in den Briefschlitz eines Sarggeschäftes. Er blickte auf die Armbanduhr. In zehn Minuten begann die zweite große Pause. Horst erinnerte sich noch genau: An einem Oktoberabend war er mit Wolfgang Marwitz losgegangen, um Anke zu suchen, von einer bangen Ahnung getrieben. Sie war nicht zu Hause, und so waren sie zur Schutzstraße gelaufen, über den Zaun gestiegen und hatten versucht, in die Zimmer zu sehen – vergebens, nur im ersten Stock war ein Fenster erleuchtet gewesen. Gegen zwölf hatte dann Anke Komorowski das Haus verlassen, von niemandem begleitet. Sie hatte sogar den Hausschlüssel Dr. Schreis besessen.

Damals hatte sein Freund Wolfgang Marwitz, der nervöse Klassenprimus, gesagt: „Da gibt es einen interessanten Paragrafen, den der gute Schrei anscheinend nicht kennt: einhundertvierundsiebzig. Unzucht unter Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses. Schließlich ist Anke seiner Erziehung anvertraut und noch nicht einundzwanzig Jahre alt.“

Heute, zwei Wochen nach diesem Vorfall, konnte sich Horst an jeden der folgenden Tage erinnern. Wie er am nächsten Tag die lateinischen Vokabeln nicht gewusst, die Schrei abgefragt hatte. Wie Marwitz in seiner höflichen Art sagte, dass Babkuhl bis Mitternacht zu tun gehabt hatte, und Schrei nervös wurde. Wie er Anke auf dem Schulhof alles auf den Kopf zusagte und das Mädchen zu weinen begann. Wie sie zu Assessor Pehlgrimm gingen, ihrem Ordinarius. Wie Anke unter Weinen und Schluchzen alles erzählte. „Es ist so gemein, so unsagbar dreckig“, sagte sie, „und ich wollte doch nur Mutter helfen, nur ihr …“

Pehlgrimm glaubte ihr, Pehlgrimm wollte ihr helfen, er ließ sich alles erzählen, alles. Dr. Schrei hatte Anke zu verstehen gegeben, dass sie sitzenbleiben würde. Ankes Mutter hatte Tuberkulose, das durfte niemand wissen, länger als ein Jahr würde sie es in der Nachtbar nicht mehr aushalten können. Daran dachte Anke, als Dr. Schrei sie zu sich in die Wohnung bestellte und ihr Nachhilfeunterricht gab, ihren Arm streichelte, versicherte, wie leid es ihm täte. Seine Vertraulichkeiten nahmen zu, sie wollte davonlaufen, aber dann beschwor er wieder das Gespenst der Versetzung herauf, und so ließ sie schließlich alles mit sich geschehen: dass er sie küsste, die Bluse von den Schultern streifte, alles, auch das letzte. Und wiederkommen musste sie, er gab ihr sogar den Hausschlüssel. Er, Schrei, würde die Sache mit der Versetzung in Ordnung bringen. Anke aß kaum noch in jenen Tagen. Der Ekel schüttelte sie. Pehlgrimm wusste, dass Anke nicht log. So konnte man nicht lügen, so nicht. Aber er hatte Mühe gehabt, Horst Babkuhl davon abzubringen, eine Dummheit zu. begehen.

So war das gewesen. Pehlgrimm hatte Wort gehalten und vor dem Lehrerkollegium über Schreis Untat gesprochen, ohne Erfolg zunächst. Du liebe Güte, eine Schülerin mit blühender Fantasie, hieß es, Wunschfantasie, die Geschichte eines Teenagers, das kennt man doch.

Dann sprach Horst mit seinem Vater, und der überzeugte den Elternbeirat, der sonst nur zusammentrat, wenn der Direktor Geburtstag hatte oder die Schule ein Jubiläum feierte, schnell davon, dass man Dr. Schrei anzeigen müsste.

Und nun? Freigesprochen wegen Mangels an Beweisen. Dr. Schrei würde in die Schule zurückkehren, rehabilitiert. Freigesprochen.

In der ganzen Stadt summten die Gerüchte, jedes bekannt gewordene Detail wurde ausgeschmückt und erweitert durch die schmutzige Fantasie mancher Leute. Das hatte Anke nicht aushalten können, vor vier Tagen war sie in die Klinik eingeliefert worden. Hoffentlich, dachte Horst, hoffentlich gelingt es der Schwester, dafür zu sorgen, dass Anke keine Zeitungen zu lesen bekommt. Aber sie wird nicht ewig abgekapselt sein können, eines Tages wird sie davon erfahren, dass man sie zur „schizoiden Persönlichkeit“ gemacht hat. Eines Tages wird sie wieder in der Schulklasse sitzen und vor dem Blick des Lateinlehrers zittern. Eines Tages wird sie wieder durch die Straßen gehen, die hämischen, schadenfrohen, entrüsteten oder mitleidigen Blicke auf ihrem Rücken spüren, das Flüstern hören: Das war doch die mit dem Lehrer!

Nein, Schrei durfte nicht an der Schule unterrichten, trotz dieses Schöffengerichtsspruchs nicht, und wenn man ihn zusammenschlagen müsste. Das wäre auch keine Lösung. Was aber, was könnte man nur tun?

2. Kapitel

In der Nachtbar „Münster-Grotte“. Ein kleiner Saal, abgeteilte Nischen, knallrote Wände, wenig Betrieb: einige Paare, Geschäftsreisende, gelangweilt tuende Jünglinge, auffällig geschminkte und einheitlich frisierte Frauen, eine müde Dreimannkapelle mit einer kleinen, üppigen Sängerin, Lys-Assia-Imitation.

„Nur eine Bestellung für Frau Komorowski“, beruhigte Horst Babkuhl den livrierten Portier, „mein Freund bleibt gleich bei Ihnen.“ Der Mann blickte misstrauisch, aber Wolfgang Marwitz verwickelte ihn gleich in ein Gespräch über die Zucht von Zierfischen im Allgemeinen und über Zahnkarpfen im Besonderen und hatte mit dieser Vermutung richtig getippt, der Mann war tatsächlich ein Aquarianer.

Die Barhocker waren alle besetzt. Ankes Mutter, blond, groß, Puppengesicht mit eingelerntem Lächeln, wirkte angeheitert und bemerkte Horst Babkuhl nicht. „Tatsache“, sagte ein dünner, rothaariger Mann laut und hielt ihre Hand fest, „Sie haben eine Figur mit Pausen, Ilona.“

Die Frau schüttelte den Mixbecher, „Sie verwechseln mich“, sagte sie, „ich heiße nicht Ilona.“

„Das macht nichts, für mich heißen alle Frauen ab einsfünfundsiebzig Ilona. Das geht auf ein Urerlebnis zurück.“