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Egon Richter

Zeugnis zu dritt

Roman

 

ISBN 978-3-95655-805-4 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1968 im Hinstorff Verlag Rostock.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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LOTZ

Der Tag, an dem ich sie kennenlernte, war ein sehr gewöhnlicher Tag, und ich erinnere mich an ihn nicht so sehr ihretwegen als vielmehr wegen des höchst unerquicklichen Vorkommnisses, mit dem er für mich begann.

Es war ein grauer, blätterloser Märztag, und aus niedrigen Wolken strichen dünne Regenfäden über die Stadt. Bei so einem Wetter bekomme ich selbst in überheizten Räumen ein nasskaltes Frostgefühl, und es kostet mich große Mühe, der Versuchung zu widerstehen, unter die wärmenden Daunen zurückzukriechen. Meist überwinde ich sie dadurch, dass ich mich auf das Anziehen konzentriere. Sorgfältiges Anziehen stellt für mich eine Art sportliche Startsituation dar. An diesem Morgen nun dehnte ich das Ankleiden ungebührlich lange aus, und nicht zuletzt deshalb passierte mir das Malheur, eine halbe Stunde zu spät in die Klinik zu kommen. Unpünktlichkeit aber stört mich. Sie stiehlt mir die Zeit und damit die Möglichkeit, mich länger und intensiver mit einem Gegenstand zu beschäftigen. Ich hasse Unpünktlichkeit, und da ich selten unpünktlich bin, ist mir dieser Tag so deutlich in Erinnerung geblieben.

Meine Abteilung liegt im obersten Stock der Klinik. Es ist eine im Verhältnis zur Klinik sehr kleine Station, bestehend aus mir und einer nur halbtags beschäftigten Sekretärin; sie ist grau meliert, dabei etwas füllig und mit den wenig verdeckten Komplexen unerfüllter Mütterlichkeit behaftet. Sie schreibt die Untersuchungsprotokolle, erledigt die Post, kocht einen außerordentlich starken Kaffee, und manchmal werde ich das Gefühl nicht los, dass sie trotz der Schweigepflicht in ihrem sicherlich recht interessierten Kreis gleichaltriger Freundinnen über vieles spricht, was sie hier erfahren oder miterlebt hat.

Der Eingang zu meiner Abteilung ist durch eine Stahltür gesichert. Ich weiß nicht, was sie verschlossen hat, bevor diese Abteilung hier oben eingerichtet wurde; ich weiß nicht, was sich hinter ihr verbarg, und ich weiß nicht, warum sie beim Umbau nicht entfernt wurde. Es interessiert mich auch nicht; sie ist schneeweiß lackiert und so dem Habitus des Hauses angepasst. Es ist eine keimfreie Tür, und - sie entspricht mir. Sie schließt, im buchstäblichen Sinne, den morgendlichen Auftakt meines Tagesablaufs ab. Wenn ich sie passiert habe, werde ich mit einer Fülle von Problemen konfrontiert, die mit widerwilligem Aufstehen, Ärger über allzu frühe Telefonate, schlechtem Wetter und ähnlichen die Stimmung beeinflussenden Faktoren nichts mehr zu tun haben. Die Tür, wenn sie hinter mir ins Schloss fällt, sichert mir eine mindestens achtstündige durch nichts gestörte Arbeitszeit. Insofern kommt die Tür auch meinem Charakter sehr entgegen.

Ich ging in mein Zimmer, hängte meine Garderobe in den kleinen einteiligen Schrank, dessen Tür nie richtig schloss, und nahm den weißen Kittel heraus. Schneeweiß und keimfrei wie die Stahltür. Mit dem Überziehen des Kittels erfüllte ich sowohl eine Vorschrift der Hausordnung als auch einen rituellen Akt. Normalerweise brauchte ich keine Bekleidung dieser Art, ich könnte meine Patienten ebenso gut im Straßenanzug empfangen und behandeln.

Drei Punkte allerdings waren es, die mich im Laufe der Zeit dennoch von der Notwendigkeit des weißen Kittels überzeugt hatten. Einmal entsprach er wie gesagt der Hausordnung ebenso wie die weißen Betten, die weißen Türen, die weißen Schränke, die weißen Schwesternhauben und das weiße Geschirr. Weiß ist die Haus-Atmosphäre, obwohl dies Haus oft andere Farben nötiger hätte. Aber weiß gehört sich, weiß ist hygienisch, weiß ist steril. Wer in einer Klinik arbeitet, hat keimfrei und weiß zu sein. Beharrlichkeit in der Tradition. Es kann einem imponieren. Zum anderen ist das Anziehen des weißen Mantels für mich selbst so etwas wie der Beginn eines Arbeitstages nach Passieren der weißen Stahltür. Zum dritten aber, und das ist letztlich der für mich entscheidende Faktor, hat der weiße Kittel eine auf andere gerichtete Funktion: er wirkt auf den Patienten. Der weiße Kittel lässt den Patienten vertrauensselig und offenherzig werden, er macht ihn einsichtig und bisweilen sogar folgsam, er verschafft seinem Träger Autorität und Einfluss.

Ich zog den Mantel an, wusch mir die Hände, verschloss mein Zimmer und trat auf den Gang hinaus, der am Zimmer der Sekretärin vorbei zu den Ordinationsräumen und zum Wartezimmer führt. Ich wusste, dass ich nur zwei, drei Schritte zu tun brauchte, um die Sekretärin hinter ihrer Schreibmaschine hervorzulocken. Sie pflegt dann die Tür zu öffnen und darin stehen zu bleiben, um mich zu begrüßen.

„Guten Morgen, Herr Doktor'“, sagte sie, und ich sah ihr an, dass sie in Gedanken hinzufügte: Es ist schon neun Uhr! „Eine Dame wartet“, sagte sie.

„Schön“, sagte ich, „wenn Sie die Abschlussprotokolle über die Untersuchungen der Fettsüchtigen fertig haben, bringen Sie sie mir bitte rein. Ich will das noch mal durchsehen.“

Ich sah ihr an, dass sie noch etwas sagen wollte, aber ich hatte keine Lust, es mir anzuhören. Ich ging an ihr vorbei, aber bevor sie ihre Tür schloss, sagte sie doch noch: „Die Dame wartet schon eine halbe Stunde.“

„Warten ist das halbe Leben", sagte ich, aber sie hatte ihre Tür bereits geschlossen. Ich ärgerte mich über meine Antwort, über die Allerwelts-Abgedroschenheit. Ich war nie schlagfertig, meine scheinbar schlagfertigen Antworten sind oft nur läppisch. Ich habe ein langsames Reaktionsvermögen. Ich muss alles, was ich erlebe, erst in Ruhe durchdenken. Erst dann bin ich zu richtigen Reaktionen fähig. Mein Beruf kommt mir dabei entgegen, wie ich auch im Allgemeinen glaube, dass sich viele Menschen ihre berufliche Tätigkeit weit mehr nach Eingebungen und mit unzureichenden Vorstellungen als nach ihren Anlagen und Fähigkeiten aussuchen. Die Diskrepanz zwischen ihrer Leistungsfähigkeit und den objektiven beruflichen Anforderungen wird in solchen Fällen vielfach Ursache von Störungen in der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen, und manche der Betroffenen landen dann in meiner Praxis. Es sind die wenigsten, allerdings. Die meisten versuchen ihr Versagen zu überdecken. Sie werden oft autoritär oder neigen gar dazu, mit unredlichen Mitteln ihre Position zu behaupten. Manche werden zu einer Plage.

Ich betrat mein Ordinationszimmer. Ich liebe diesen Raum nicht, er ist mir zu kalt. Seine Ausstattung aber ist zweckmäßig. Der Raum ist nüchtern und verschwiegen. An allen glattpolierten Kanten, an allen glitzernden Stahlrohrmöbeln, an den weißen Einfassungen der unpersönlichen Glasschränke steht unsichtbar der Hinweis: Hier kannst du alles sagen, hier bist du beim Arzt.

Für mich wäre es bequemer, meine Patienten zu Hause zu empfangen, in weichen Sesseln bei Tee und Gebäck. Für die Patienten wäre es ein Unglück.

Die Sekretärin kam herein. Sie legte die Protokolle auf den Tisch und stellte eine Tasse Kaffee daneben. „Bitte sehr, Herr Doktor“, sagte sie, und ich sah ihr an, dass sie sich freute. Sie freut sich immer, wenn sie mir Kaffee bringt. Es befriedigt ihren Versorgungstrieb. Bei Gelegenheit muss ich mich erkundigen, warum sie eigentlich keine Kinder hat.

„Schönen Dank“, sagte ich, trank einen Schluck und lobte ihre Brühkünste. Es war ein Routinelob. Sie bekommt es jeden Morgen.

Als sie an der Tür war, sagte sie, schnell, bevor sie sie endgültig schloss: „Denken Sie auch an die Dame?“

„Ich denke“, sagte ich, „ich denke.“

Ich setzte mich an den Schreibtisch, sah die Unterlagen durch, trank den Kaffee und befasste mich mit der Korrektur der Protokolle. Nachdem ich sie durchgesehen und unterschrieben hatte, legte ich sie in eine Ablagemappe.

Dann widmete ich mich der neuen Patientin. Ich ging um den Schreibtisch herum, löschte das Licht in meinem Zimmer und zog die Fenstervorhänge zu. Dann trat ich an die Wand, die Ordinationszimmer und Warteraum trennt, öffnete vorsichtig das schwarze, dicht schließende Rouleau vor dem als Spiegel kaschierten Beobachtungsstand und beobachtete die Patientin, eine Methode, die ich nur noch selten anwende und die gewöhnlich anderen Zwecken vorbehalten ist.

Die Frau saß in einem der schalenförmigen Rohrsessel. Die zerschlissenen Wartezimmerzeitschriften lagen aufgeblättert vor ihr auf dem Tisch. Sie las nicht. Sie schien unkonzentriert. Die Beine hatte sie übereinandergeschlagen, wobei sie die Haltung ständig wechselte. Sie stand auf, griff nach ihrer Handtasche und suchte darin herum. Sie kam mit schnellen und kurzen Schritten auf den Spiegel zu und begann sich zu schminken. Obwohl die Physiognomie über den Charakter eines Menschen kaum Gültiges aussagt, verhielt ich mich, nun sie einmal so dicht vor mir stand, völlig ruhig und studierte ihr Gesicht.

Es war ein schmales, längliches Gesicht mit etwas hochgestellten Wangenbeinen, die der cremefarbenen Gesichtsfläche etwas Robustes verliehen. Die Augäpfel trugen einen dünnen Feuchtigkeitsfilm, der äußeres Kennzeichen von Sensibilität und einem Hang zum Sentimentalen sein konnte. Die Lider bewegten sich in einem schnellen Rhythmus, der Erregung verriet. Die Stirn war schmal, hoch, zu den Seiten hin zu kantig. Der Mund war breit und volllippig, ein sehr sinnlicher Mund, unter dem ein kurzes, eckiges Kinn saß.

Während ich die Frau beobachtete, bemühte sie sich, die Erscheinungsformen eines Erythema pudendum auf ihrem Gesicht zu beseitigen, was ihr nur unvollkommen gelang: sie versuchte die kleinen hellroten Flächen zu überpudern, die sich rund um Hals und Brustansatz bildeten, und hatte dabei einen nur geringen Erfolg.

Im Ganzen war das Gesicht zwar nicht wohlgeformt, aber zweifellos reizvoll.

Inzwischen schien die Frau selbst zu der Einsicht gekommen zu sein, dass ihre Make-up-Bemühungen zwecklos waren. Sie wandte sich vom Spiegel ab, ging zum Tisch zurück und steckte ihre Utensilien wieder in die Handtasche. Dann lief sie ein paarmal im Zimmer umher und setzte sich endlich wieder mit übergeschlagenen Beinen, eine offenbar bevorzugte Haltung, in den Rohrsessel. Ich trat vorsichtig von dem Guckkastenfenster zurück, zog das abdichtende Rouleau herunter, tappte im Dunkeln nach dem Schalter und machte Licht. Dann zog ich die Fenstervorhänge wieder auf, löschte das Deckenlicht und schaltete die hochstielige Arbeitslampe auf meinem Schreibtisch an, deren flacher hellgrüner Glasschirm dem Raum ein gelblich-warmes Licht spendete. Ich überdachte kurz meine Beobachtung.

Die Patientin wies danach weder äußerlich sichtbare noch physiologische Anomalien auf; auch deutete ihr Benehmen auf keine chronischen Erregungszustände hin, deren Ursachen nicht nur in sexuellen, sondern auch in vielschichtig anderen Bereichen gefunden werden könnten. Ich hatte vielmehr den Eindruck einer spontanen Erregbarkeit.

Ich griff nach den Papieren der Patientin, die die Sekretärin inzwischen auf den Tisch gelegt hatte. Mitteilungen von Ärzten und Kliniken. Ich widmete mich dem Studium der medizinischen Gutachten.

Im Allgemeinen schilderten sie einen Fall hochgradiger vegetativer Störungen mit Symptomen unterschiedlichen Charakters: Druck im Kopf, flatterhafter Puls, Zittern der Knie und der unteren Gesichtshälfte bei relativ unbedeutenden Aufregungen, häufige Weinkrämpfe mit Blutandrang zum Herzen ... und ähnliches. Es bot sich das Bild einer Patientin dar, die an mehreren, verschiedenartigen Leiden gleichzeitig erkrankt sein konnte, indessen ohne organische Befunde. Ihr Herz war genauso in Ordnung wie ihr Kopf oder ihre Schilddrüse. Die Mediziner bekämpften die Symptome mit Schlafkuren, Ruheverordnungen und Neo-Secatropin. Eine bemerkenswerte Besserung konnten sie nicht erreichen, weil die Ursache der Erkrankung doch wohl außerhalb ihres Fachgebietes lag. Ich blätterte: Sie hatten ihr geraten, viel Kaffee zu trinken, wenig Kaffee zu trinken, keinen Kaffee zu trinken, spazieren zu gehen, sich zu schonen ... und so weiter. Letzte Papiere: Überweisung in stationäre Behandlung, Schlaftherapie, lange Spaziergänge in der Rekonvaleszenz, Überweisung in meine Abteilung. Na, denn. Ich setzte mich hinter meinen Schreibtisch und klingelte der Sekretärin. Bringen Sie die Dame herein“, sagte ich.

Sie nickte und sagte dann schnell: „Sofort, Herr Doktor.“

Ich beobachtete die Patientin genau, als sie mein Zimmer betrat. Sie kam in einer schnellen, kurzen Schrittfolge direkt von der Tür auf meinen Schreibtisch zu. Offenbar sollte dies den Eindruck von Selbstsicherheit erwecken.

Ich stand auf, ging ihr entgegen. Sie streckte ihre Hand sehr weit vor, sie warf den Kopf etwas zurück und lächelte. Der rechte Mundwinkel wurde dabei hochgezogen und verlieh dem Gesicht der Frau so einen fast hochmütigen, herablassenden Ausdruck. Ich erkannte jedoch sofort, dass dieses Lächeln gekünstelt war und Unsicherheit überdecken sollte. Auch das Lächeln bestätigte mir, dass es der Frau nur darum zu tun war, Gelassenheit vorzutäuschen. Ich half ihr beim Ablegen des Mantels und registrierte, als ich das Kleidungsstück in den Garderobenschrank hängte, den Duft eines für eine Frau sehr herben Parfüms. Schon während der Begrüßung – Guten Tag – Wie geht es Ihnen? – Entschuldigen Sie, dass ich Sie etwas warten lassen musste – trat genau das ein, was ich erwartet hatte. Sie hielt ihre gekünstelte Sicherheit nicht durch. Vor ihren unruhigen Pupillen stand viel Wasser, und sie hatte die Hände so um den Griff ihrer Handtasche geklammert, dass die Fingerkuppen fast weiß waren. Die Beine hatte sie dicht nebeneinandergestellt, steil und fest, damit sie sich gegenseitig stützten. Ich erwartete, dass ihre Knie zu zittern anfingen. Ich mag so was nicht. Es behindert die Behandlung. Ich musste das sofort abfangen und mich bemühen, die gelockerte Atmosphäre zu schaffen, die allein ein vertrauliches Gespräch ermöglicht. Ich versuchte deshalb etwas, das ich normalerweise erst bei späteren Konsultationen zu tun pflege, wovon ich mir unter diesen Umständen aber doch einen Erfolg versprach. Ich sagte zu ihr: „Was halten Sie davon – an diesem nebligen Tag, wollen wir nicht einen Kaffee trinken?“

Sie sah mich überrascht an. „Wenn Sie meinen“, sagte sie vorsichtig.

„Darauf kommt es nicht an“, sagte ich. „Haben Sie Lust, einen Kaffee zu trinken?“

„Das schon“, sagte sie, immer noch befangen.

Ich bestellte den Kaffee, und als er gebracht worden war, trank sie ihn in kleinen hastigen Zügen. Ihr Gesicht bekam eine durchgehend rötliche Färbung, die die kleinen Erythem-Flächen verschwinden ließ. Lediglich ein schmaler Streifen am oberen Teil der Stirn, kurz vor dem etwas fliehenden Haaransatz, blieb hell. Die Patientin machte schon einen gelösteren Eindruck.

Sie schien ein sehr ausgeprägtes Empfinden dafür zu haben, ob sie beobachtet wurde. Jedenfalls setzte sie plötzlich die Tasse ab, sah schnell zu mir herüber, das Rot in ihrem Gesicht verstärkte sich, und auf die Tasse deutend, sagte sie schnell und verlegen: „Heiß, nicht, wahr?“

„Ja, das stimmt“, sagte ich, „wollen Sie etwas Wasser haben? „Nein, nein, danke“, sagte sie, nahm die Tasse mit zwei Fingern, das war wieder gekünstelt, und trank sehr wenig, „ich mag’s sehr gern, wenn er heiß ist. Es wärmt mehr.“

„Sehen Sie“, sagte ich, „das dachte ich auch“, und ich war froh, dass sie schon nach so kurzer Zeit etwas über ihre Neigungen sagte.

Als sie die Tasse wieder abgesetzt hatte, lehnte sie sich bequemer als vorher zurück. Dabei schlug sie gleichzeitig, den Rock mit einer instinktiven Bewegung über die Knie ziehend, die Beine übereinander. Sie ließ mich, obwohl sie dies hinter halb gesenkten Lidern zu verbergen suchte, nicht mehr aus den Augen. Diese erkennbare Konzentration bildet die Voraussetzung für den Beginn allgemeiner Ermittlungen. Nachdem ich also, während sie sich zurechtgesetzt, meinen Kaffee ausgetrunken hatte, sagte ich, auf den Stapel ärztlicher Papiere deutend: „Seit wann haben Sie diese und ich suchte nach dem Wort, das der Sensibilität der Frau angemessen war, einem Begriff, der harmlos klang, „Beschwerden“, sagte ich.

„Ach, das geht schon eine ganze Weile so“, sagte sie, „genau kann ich das gar nicht mehr sagen, vielleicht etwas weniger als anderthalb Jahre.“

Ich notierte ihre Antwort und versah sie in Gedanken mit einem Fragezeichen. Ich hatte vorläufig nicht die Absicht, darauf zurückzukommen. Ich brauchte vorerst lediglich allgemeine Informationen. „Haben Sie Familie?“, fragte ich und war erstaunt, welche Wirkung diese Frage hatte. Die Patientin veränderte ihre Haltung, um ihren Mund lief ein leichtes Zittern. Ich dachte an die medizinischen Gutachten und registrierte den ersten wichtigen Erregungsfaktor. Die Frau starrte aus dem Fenster in den Nebel, ihre Hände verkrampften sich wieder um den Griff der Handtasche, und sie gab sich Mühe, das Zittern der Mundpartie zu zügeln. Die rötlichen Flecken traten wieder hervor, aber ich versuchte die Patientin nicht zu beruhigen.

Sie sagte: „Ein Mädchen, fünf Jahre. Und einen Sohn.“

Danach brach sie ab, so, als wollte sie Wesentliches ungesagt lassen.

Auf eine mir bisher unklare Weise schien etwas ihre Erinnerung besonders stark zu belasten. Ich beschloss, vorläufig nicht danach zu fragen. Ich war mir fast sicher, dass eine Frage nach dem Vater der Kinder – denn merkwürdigerweise hatte die Frau nicht von einem Ehemann gesprochen – wieder eine Erregung auslösen würde.

Ich stellte eine Routinefrage, die geeignet war, von diesem Komplex abzulenken und die Erkundung vorläufig auf ein relativ unverfängliches Gebiet zu verschieben, wodurch ich die Möglichkeit erhalten wollte, mich vorsichtig an das heranzufragen, was anscheinend den Kern der Dinge ausmachte: „Sagen Sie bitte, wo arbeiten Sie eigentlich zurzeit?“

Eine derart selbstverständliche Frage, die dem Patienten zudem beruhigende Ausweichmöglichkeiten bietet, lässt ihn gewöhnlich seine Sicherheit zurückgewinnen.

„Gar nicht“, sagte sie, „ich arbeite nicht. Zurzeit nicht und schon monatelang nicht.“

Als sie das sagte, versteifte sich ihre Haltung wieder. Sie schien keine Lust zu haben, weitere Auskünfte auf diese Frage zu geben. Aber für mich wurde deutlich, dass die Unlust, mit der sie geantwortet hatte, gerade dies Gebiet aufschlussreich für ihren psychischen Zustand machte. Gewiss wusste ich aus einigen anderen Fällen, dass bisweilen Berufs- oder Arbeitskonflikte leichtfertig in den Vordergrund geschoben werden, um andere, tiefer liegende Ursachen für Fehlleistungen und abnorme Verhaltensweisen zu überdecken. Aber hier deutete umgekehrt die rigoros kurze Antwort der Patientin auf eine tief liegende Störung hin, die sehr wohl den Hintergrund für das Krankheitsbild der Frau abgeben konnte. Es gelang mir dann auch, mithilfe längerer Pausen und vorsichtiger Fragen das ganze umständliche Geschehen so weit bloßzulegen, dass ein allgemeiner Überblick möglich war.

Allerdings muss ich sagen, dass die Banalität der Geschichte den bei mir flüchtig auftauchenden Gedanken, es könnte hier die Ursache einer Fremdneurose sichtbar werden, schnell wieder ausschloss. Es handelte sich um einen Sozialkonflikt mit zahlreichen Figuren aus der Berufswelt der Patientin, der mir über die Maßen verworren, falsch gesehen, von Antipathien belastet schien und vor allem dadurch für mich interessant wurde, dass die Patientin ihn offensichtlich verantwortlich machte für ihren jetzigen Zustand. Ich verzichtete darauf, sie auf diese oder jene widersprüchlichen Fakten und Mitteilungen in ihrem Bericht festzulegen. Es war auch, was den Konflikt selbst betraf, unwesentlich.

Zweifellos war eine Behandlung nötig und möglich. Ob aber dieser Sozialkonflikt, so hart er der Patientin auch erscheinen mochte, in Wirklichkeit nicht nur eine auslösende Funktion hatte, die Ursachen für ihren jetzigen Zustand dagegen in ganz anderen, in seelischen Bereichen gesucht werden mussten, das zu entscheiden, war ich vorerst nicht in der Lage. Ich war mir nur klar darüber, dass eine exakte Analyse ihres ganzen bisherigen Lebens unumgänglich war, aber das war in einer einzigen Konsultation nicht möglich.

Die Patientin ging nach zwei Stunden, ich bestellte sie für die übernächste Sprechstunde. Inzwischen hatte ich Muße, gründlich alle Aspekte zu durchdenken, unter denen der Fall betrachtet werden musste. Dennoch war bisher alles an meinen Überlegungen hypothetisch.

Drei Sprechstunden hintereinander befragte ich die Patientin nach allen Ereignissen, Eindrücken, Erlebnissen und Emotionen aus Kindheit und Jugend. Ihre Auskünfte waren spärlich, es schien sie nicht sonderlich zu interessieren. Sie sah keinen Zusammenhang zwischen meinen Ermittlungen und ihrem „Fall“, und es war ihr nur schwer klarzumachen, dass selbst das Unbedeutendste für mich wichtig sein konnte.

 

Elisabeth Maria Ulrike Möbius wurde am 28. April 1920 in einer Kleinstadt geboren, einem Ort, der nicht anders war als andere Orte gleichen Typs: fernab von den großen Straßen, auf denen die Zeit vorüberrollte, eingesponnen in jahrhundertealte Traditionen und Gewohnheiten.

Es war eine Stadt, in der jeder jeden kannte und in der das gesellschaftliche Leben nach ungeschriebenen, nichtsdestoweniger bindenden Gesetzen geregelt war. Ein Gemeinwesen, in dem jedem sein Platz zugewiesen war: in der Kirche, am Stammtisch, im Salon und im Schützenverein, eine Stadt, in der alles ordentlich, sauber und pedantisch war.

Es war die späte Ehe des Sparkassenbeamten Möbius, in die das Mädchen hineingeboren wurde. Stadt und Ehe glichen einander. Das Ehepaar Möbius hatte sich einen Stammhalter gewünscht, den es sich selbst und den Erwartungen der Mitbürger schuldig zu sein glaubte. Das Mädchen war für sie eine Enttäuschung. Dennoch wurde es mit der sparsamen Liebe bedacht, derer die ältlichen Eltern fähig waren. Sie gaben ihm den Rufnamen einer österreichischen Kaiserin – Jugend–Romanschwarm der Mutter – und zusätzlich, der Familientradition entsprechend, die Vornamen zweier Großmütter.

Es bekam nicht genug zu essen. Die etwas kränkliche Mutter konnte das Kind nicht lange nähren, und bisweilen saß sie an dem Bett des Mädchens und starrte verzweifelt in sein schreiendes Gesicht.

In der aus den Fugen geratenen Inflationszeit tat der Sparkassenbeamte Möbius etwas, das seinen tief eingewurzelten Vorstellungen von Beamtenehre zuwider war: Er lief, nach Dienstschluss und exaktem Abschluss aller Buchungen, in die kleinen Dörfer am Rande der Stadt und erhandelte Milch für Überpreise und für kleine Erbstücke aus dem schmalen Schmuckkästchen seiner Frau. Er tat dies um der Gesundheit des Kindes willen, aber er vergaß nie, dass er sich im strengen Sinne des Wortes schuldig gemacht hatte.

Später, als diese Zeit der Angst, des Hungers und der Umwertung aller Normen und Begriffe vorüber und das Leben wieder in die alten, eingefahrenen Gleise zurückgekehrt war, wuchs das Mädchen Elisabeth Möbius in eine trockene, pedantisch geregelte Kindheit hinein, in der sich die ganze Liebe zum Kind hinter einer keineswegs regelwidrigen Erziehung verbarg. Es war eine strenge Das-darfst-du-nicht- und Benimm-dich-anständig-Erziehung. Sie entbehrte durchaus nicht der Fürsorge. Es mangelte ihr aber an liebevoller Nähe. Anfangs wehrte sich das Kind auf seine Art. Manchmal weinte es nur für sich allein, und für seine Puppen. Die Puppen hatten kühle Augen. Endlich gewöhnte sich das Kind daran, überhaupt nicht mehr zu weinen. Es schloss sich ab und lebte für sich, für sich und für seine unbewussten Sehnsüchte.

Wenige Jahre später bekam das Mädchen einen Bruder. Das Mädchen freute sich über das schreiende Wesen und wunderte sich über die Eltern, die plötzlich eine so beflissene Liebe zum Kind aufbrachten. Sehr schnell aber merkte es, dass die Zuneigung dem lang ersehnten „Stammhalter“ galt. Das Mädchen fühlte sich an den Rand gedrängt. Es lebte neben dem Bruder her und suchte sich eine eigene Welt.

Die Schule gab dazu bald andere Möglichkeiten. Die neue Vormittags-Welt weckte neue Lebensgeister. Das Mädchen erfüllte sein Schul-Leben mit aller ihm eigenen Liebe, allem Ehrgeiz, aller Freude. Elisabeth Möbius wurde die beste Schülerin ihrer Klasse.

Die Nachmittags-Welt blieb trist. Sie erntete selten ein Lob für ihre guten Leistungen, es gelang ihr nicht, sich mit guten Zensuren größere Zuneigung zu ertrotzen. Sie lernte etwas kennen, das sie später als „Gram“ bezeichnete, Gram über die Zurücksetzung durch die Eltern.

Die Beziehungen zum Bruder waren immer getrübt. Er war robust, wurde aber verhätschelt. Der Vater hatte seine Pläne mit ihm. Große Pläne. Der Junge wollte aber keine Bevormundung. Er liebte auch die Pläne des Vaters nicht. Er setzte immer seinen Willen durch. Es fiel ihm leicht, weil niemand seinem Willen Widerstand bot. Auch der Vater nicht. Der Junge flüchtete aus dem Haus, das ihn mit „großen Plänen“ verfolgte. Er ging als Schiffsjunge zur Handelsmarine. Die Pläne des Vaters zerbrachen, und der Sparkassenbeamte Möbius grämte sich. Der Junge stieg in Australien von Bord, kurz bevor der Krieg ausbrach. Als es so weit war, wurde er interniert. Später heiratete er ein mäßig wohlhabendes Mädchen aus Neuseeland, gründete eine Familie und erwarb einen Garagenhof und eine Tankstelle. Er kam nie wieder zurück, und spätere Nachrichten beschränkten sich auf spärliche, meist vorgedruckte grellbunte Weihnachtsgrüße. Er verschwand aus dem Gesichtskreis seiner Familie und schließlich aus dem Bewusstsein seiner Schwester. Das Mädchen Elisabeth lebte in einer Vormittags-Welt und einer Nachmittags-Welt. Ein paarmal drang die Vormittags-Welt ein in die Tristheit des Nachmittags. Einige Lehrer versuchten den Vater Möbius dazu zu überreden, seine begabte Tochter auf eine höhere Schule zu schicken. Aber die Mittel des Sparkassenbeamten waren beschränkt, er benötigte sie für die „großen Pläne“ mit seinem Sohn. Das Mädchen Elisabeth blieb auf der Mittelschule. Manchmal sang sie nachmittags im Chor des BDM. Wenn sie das nicht tat, verließ sie das Haus nach den Schularbeiten und träumte vor sich hin. Am Fluss. Im Wald. Irgendwo.

Als sie mit der Schule fertig war, kam das Pflichtjahr. Sie wurde zu einem Landwirt geschickt, der das größte Konto auf der Sparkasse des Vaters hatte. SA-Obersturmführer, Ortsbauernführer; dick, mit rundem, rosigem Gesicht, dünnen Haaren und blanken Schaftstiefeln. Sie arbeitete in der Küche und bediente bei Tisch.

Die Frau sah sie mit scheelen Augen an, der Mann mit aufmerksamen, die beiden Töchter nahmen sie nicht zur Kenntnis. Die Knechte wohnten in einem Seitenflügel. Sie sah sie kaum. Die wenigen Mägde sagten „Guten Tag, Fräulein!“ und huschten vorbei. Ihre Kammer, spärlich und sauber, lag unterm Dach. Dort war es heiß und drückend. Sie lag oft nackt. Sie entdeckte ihren Körper und fand, dass er schön sei.

Der Bauer fand das auch. Er rüttelte eines Nachts an ihrer Kammertür. Sie zitterte vor Angst und wollte aus dem Fenster springen. Das Fenster war sehr hoch. Sie hatte nicht den Mut zum Springen. Sie fuhr nach Hause.

Dort weinte sie sich aus. Die Eltern sahen ihre Tochter betroffen und ratlos an und bemerkten, dass sie erwachsen war. Der Vater dachte an den größten Kontoinhaber, die Mutter versuchte sie vorsichtig zu trösten. Sie sagten beide: „Es ist sehr schwierig.“

Dann schickten sie sie zurück auf den Bauernhof.

Am Nachmittag, als der Bauer zum SA-Sturm war, holte die Frau sie in die Diele. Die Frau wollte wissen, warum sie ausgerissen war. Elisabeth Möbius hasste die Frau. Sie sagte, warum sie nach Hause gefahren war. Die Frau wurde rot, riss an ihren halblangen BDM-Zöpfen und schrie: „Du geiles Stadtflittchen, du lügst.“ Danach hatte sie Ruhe vor dem Bauern, aber die Frau tyrannisierte sie.

Im nächsten Sommer, als ihr Pflichtjahr dem Ende zuging, kam der Abiturient. Der Abiturient war groß, schlank, mit langen Beinen, blond und schmalgesichtig. Die Augen waren merkwürdig braun und sahen verträumt aus. Der Abiturient war der Neffe des Bauern und sein Mündel. Als sie bei Tisch bediente, hörte sie, dass der Bauer „große Pläne“ mit dem Neffen hatte, und Elisabeth dachte an ihren Vater und ihren Bruder. Der Bauer sagte mehrmals: „Die jungen Adler Großdeutschlands ...“, und der Abiturient schwieg dazu. Der Abiturient beobachtete Elisabeth Möbius.

Am Abend, nach dem Essen und Abwaschen, als sie dienstfrei hatte und die Grillen in den Wiesen zirpten, wartete der Abiturient auf sie hinter dem Haus, am Ausgang zum Wald. Sie erschrak und war schüchtern, aber sie ging mit ihm spazieren.

Sie wanderten zwölfmal, ziellos, den gleichen Waldweg entlang, und sie sah weder die Bäume noch die vielen blauen Blüten darunter. Sie hörte nur ihr hastiges Herzschlagen und die sprudelnde Stimme des Abiturienten, die von der Schule erzählte, von komischen Lehrern und vom Abitur und dass er in Mathematik beinahe eine Vier gekriegt und dass das nun gottlob ein Ende habe, und das Leben kurz und schön sei. Und vor der Hintertür sagte er: „Carpc diem!“, und versuchte sie zu küssen.

Sie schlug ihm mit den Fingerspitzen ins Gesicht und rannte in ihre Kammer. Zwei Tage ging sie abends nicht spazieren. Sie litt am Tage unter den bittenden Blicken des Abiturienten und versuchte ihm auszuweichen. Nachts stellte sie sich vor, er könnte abreisen, und erschrak und schämte sich gleichzeitig ihrer unklaren Hoffnungen, die sie an sein Bleiben knüpfte.

Am dritten Tag gingen sie durch die Wiesen und zweimal um ein weitläufiges Kornfeld herum. Zuerst sprachen sie überhaupt nicht, dann entschuldigte sich der Abiturient. Hinterher schwiegen sie wieder, und an der Hintertür gab er ihr die Hand. Es tat ihr leid, dass er sie nicht zu küssen versuchte, und sie wartete auf die nächsten Abende.

Der Bauer sagte immer öfter, je weiter der Sommer fortschritt, „die jungen Adler Großdeutschlands ...“ zu dem Abiturienten, aber der Abiturient schwieg dazu. Oft hörte sie ihn hinter den hohen Heuschobern auf einem Akkordeon spielen. Sie ertappte sich dabei, dass sie die Melodien mitsummte, hinter dem Abwaschtisch oder beim Kartoffelschälen. Dann hörte sie auf zu summen.

Abends erzählte ihr der Abiturient, er wolle studieren. Sie sagte: „Ja?“ Und sie hörten beide auf das Zirpen der Grillen, und der Abiturient hielt ihre Hand fest, die heiß und trocken war. Dann sagte er, sein Onkel wolle aber, dass er zur Luftwaffe ginge. Sie dachte: „die jungen Adler Großdeutschlands“, aber es bedeutete ihr nichts. Sie dachte an die schweifenden Töne seines Akkordeons, die über die Wiesen flogen, und sie sagte zu ihm: „Nein, nein!“ Er sah sie an und war erstaunt. Dann wurde er rot, und sie wurde rot. Sie schwieg, und er fing verlegen an zu flüstern. Er sagte: „Ich, du ...“ Dann küsste er sie, und sie drehte ihr Gesicht so, dass er sie auf den Mund küssen konnte.

Als das Pflichtjahr der Elisabeth Möbius zu Ende ging und mit ihm die letzten Ferien des Abiturienten, fuhr der Bauer mit Knechten und Pferden auf die Felder und mähte das Korn nieder.

Der Abiturient pflückte Kornblumen und schenkte sie der Tochter des Sparkassenbeamten Möbius, und sie sagten beide: „Ich liebe dich sehr“, und sie meinten auch, was sie sagten.

Der Abiturient hielt sie um die Schultern gefasst am letzten Abend vor der Abreise und sagte in ihre baumelnden Zöpfe hinein: „Es ist egal, ob ich zur Luftwaffe gehe oder zur Marine oder zum Heer, gehen muss ich sowieso, das ist nun mal nicht anders“, und „später werde ich studieren“ und „ich werde dir immer schreiben, und wenn ich kann, besuche ich dich bestimmt. Sie dachte: „die jungen Adler Großdeutschlands ..“, und sie hasste die jungen Adler, weil sie ihr den Abiturienten wegnahmen. Aber sagen konnte sie nichts.

Sie schlief kaum in der Nacht und wartete, dass er an die Kammertür klopfen würde, aber er kam nicht.

In der Frühe hörte sie das Schnauben der Pferde. Sie sprang aus dem Bett und starrte durch die Fensterluke. Der Abiturient saß neben dem Bauern in dem weichgefederten Dogcart, und der Bauer schrie: „Hü!“

Das Mädchen packte seinen Koffer und fuhr zurück ins Elternhaus. Es packte seinen Koffer aus in dem Zimmer, in dem es aufgewachsen war. Elisabeth Möbius füllte das Zimmer mit der Erinnerung an den Sommer und mit der Sehnsucht nach dem Abiturienten. Sie füllte ihre Tage damit und ihre Nächte. Sie träumte von ihm, nur von ihm, immer nur von ihm. Sie spielte mit dem Wort Liebe: Ich liebe, ich liebe, ich liebe, ich werde geliebt, ich werde geliebt, ich werde geliebt.

Sie arbeitete als Kontoristin in der Filiale der Sparkasse. Es war ihr gleichgültig. Es war ein Vater-Beruf aus der Nachmittags-Welt. Er interessierte sie nicht. Sie hatte ihn nicht gewählt, er war ihr besorgt worden. Sie wäre gern Lehrerin geworden, aber das Studium kostete Geld. Es widersprach den „großen Plänen“ mit dem Bruder. Sie begrub den Wunsch und schüttete ihn zu mit der Liebe zu dem Abiturienten. Sie deckte den Alltag zu mit den Karten und den kurzen Briefen, die er ihr schrieb. Der Sparkassenbeamte Möbius sagte: „Du bist ein junges Mädchen und noch nicht mündig“, aber es war ihr gleichgültig, was er sagte. Sie ging auf ihr Zimmer und träumte in die Karten und Briefe ihre Wünsche hinein.

Zweimal in einer langen Zeit besuchte er sie. Er brachte Blumen für die Mutter und ein schmales silbernes Armband für die Tochter. Die Mutter war verlegen, der Vater steif, die Tochter aber liebte ihn sehr. Sie flohen aus dem Haus und aus der Stadt und wanderten durch die Felder und durch den Wald wie auf dem Bauernhof. Er war kein Abiturient mehr, er hatte keine kurzen Hosen mehr an. Er war einer der jungen Adler Großdeutschlands und trug eine blassblaue Fähnrichsuniform. Sie vermisste die schweifenden Töne des Akkordeons. Er sagte: „Es dauert nicht lange, bis alles vorbei ist, und wenn alles vorbei ist, werden wir nur noch für uns leben.“ Sie hoffte und glaubte und liebte. Als er nach dem ersten Besuch abfuhr, sagte er: „Spare, wir werden es brauchen können.“

Bevor er das zweite Mal abfuhr, im heißen Juli, nach drei Tagen und zwei Nächten, sagte er: „In zwei Monaten werden wir heiraten.“ Er ging hinunter in die Elternwohnung. Die Treppe knarrte unter seinen langen Leutnantsstiefeln, und die Dielen knarrten im Wohnzimmer, als er dem Sparkassenbeamten Möbius seinen Entschluss mitteilte. Sie hörte, dass er anders sprach als sonst, kühl und klirrend in der Sprache der jungen Adler. Und der Sparkassenbeamte Möbius duckte sich. Aber es interessierte sie nicht. Sie war glücklich.

Sie füllte die wenigen Wochen aus mit ihren Hoffnungen und Wünschen. Sie dachte in langweilige Zahlenkolonnen und Kontenkarten hinein: Er, Er, Er. Sie nahm die Umwelt nicht wahr, sie war sich selbst genug mit ihren Gedanken.

Die kreischende Lautsprecherstimme traf sie wie ein Schlag. Zuerst begriff sie gar nicht, was das war. Das da, zwischen Fanfarenstößen und Trommelwirbeln, das Kreischende. Dann kroch es aus der Ferne in sie hinein. Plötzlich füllte es sie aus, ganz und gar. Ihr wurde schwindlig. Sie hielt sich am Bett fest. Sie fiel auf das Bett. Sie dachte: Er, Er. Dann dachte sie: Krieg! Das Wort überfiel sie. Sie fand keinen Sinn in dem Wort. Dann erschlug das Wort ihre Hoffnungen und Wünsche, und sie schrie in die Kissen hinein. In ihrem Kopf war nur noch: Er und Krieg, Er und Krieg.

Plötzlich war die Angst da, sie könnte ihn nicht mehr erreichen. Sie rannte durch die Stadt. Alle Menschen rannten durch die Stadt. Sie sah sie nicht. Sie sah überhaupt nichts. Bis auf den Zug, in den sie hineinfiel. Der Zug kroch langsamer als eine Schnecke. Sie rannte durch die fremde Stadt. Die fremde Stadt war dunkel. Auch die Kaserne war dunkel. Klirrende Schritte, Stahlhelmwippen. Mit dir, Lili Marleen. Die Laterne war schon abgedunkelt.

In ihr verschmolz alles. Postengeflüster, Telefonat, gierige Blicke unter dem Stahlhelm hervor; sie wartete unter der abgedunkelten Laterne.

Als er kam, sagte er: „Betsy!“ Sie hielt seine Schultern fest. Sie verkrallte ihre Hände in den harten Schulterstücken, schmal, silbern. Sie fühlte die Kälte der Uniformknöpfe an ihren Lippen und an ihren Zähnen. Das Wasser, das aus ihren Augen lief, machte den Stoff nass und den schmalen, silbernen Adler blind, der auf den Stoff genäht war.

Er sagte: „Komm weg von hier!“ Und sie gingen durch die Nacht. Er sagte: „Ich habe alles noch regeln können; ich wäre sowieso noch gekommen.“ Dann war er still.

Er brachte sie in ein Hotel. Das Hotel war voll Frauen und Uniformen. Sie bestellten etwas zu essen. Sie aßen nichts. Sie tranken nichts. Er brachte sie auf ein Zimmer. Das Zimmer war heiß und stickig. Es hatte ein weißes Bett und eine grelle Lampe. Ihr Zusammensein war schnell und hastig. Es machte sie nicht glücklich, es schmerzte.

Er sagte: „Warte auf mich.“ Seine Stiefel knarrten durch die Tür.

Als der Morgen durch die dünnen Vorhänge kroch, stand sie auf, wusch sich, zog sich an. Sie merkte nicht, dass sie sich wusch und anzog. Sie merkte nicht, dass sie die Treppe hinunterging und sich in den Hotelsaal setzte. Alles in ihr war stumpf.

Er kam am frühen Vormittag, zog sie vom Tisch weg und sagte: „Komm!“ Er zeigte ihr ein schmales Bündel Papiere. Es interessierte sie nicht mehr. Sie fuhren in einem alten Taxi durch Straßen, die sie nicht kannte. Sie sah nichts von den Straßen. Sie fuhren in ein Amt, der Standesbeamte sagte etwas Feierliches, sie unterschrieben etwas. Sie fuhren weiter im Taxi.

Die Kirche war voll. Es ging sehr schnell. „Bis dass der Tod euch scheide.“ – „Ja.“ – „Ja.“ Es warteten noch acht Paare.

Sie fuhren ins Hotel zurück. Sie war leer und ausgehöhlt. Ihre Wünsche waren erfüllt und ihre Hoffnungen zerbrochen.

Er bestellte Wein. Sie nippten davon. Der Wein war schal.

Er sagte: „Du kannst dir eine Wohnung nehmen hier in der Stadt, nicht zu teuer.“ Er sagte: „Es wird nicht lange dauern, bestimmt nicht, verlass dich darauf.“ Aber sie glaubte es nicht. Später gingen sie nach oben in das Zimmer mit der grellen Lampe. Sie lag mit offenen Augen und fühlte seine Hände über ihren Körper gleiten und seine Lippen. Die schweifenden Töne des Akkordeons. Mit dir, Lili Marleen. Und eine hemmungslose Hoffnung entzündete sie.

Zwei Tage später fuhr er ab – ein Stück Blaugrau, ein Stück Feldgrau, ein Stück Stahlhelm, Stücke einer Maschinerie, stampfend, klirrend. Siehst du im Osten das Morgenrot. Der Dampf am Bahnhof fiel auf die Stadt. Die Frau zog in die Stadt mit dem Bahnhof. Der Bahnhof war Anfang und Ende, Stelle des Abschieds, Ort der Hoffnung. Dazwischen lag das Leben der Frau, ausgefüllt mit Kontokarten, Kontenauszügen, Zinseszins, Staatsanleihe, Fettkarte, Raucherkarte, Punktkarte, Eintopfsonntag, einer kleinen Spende für das WHW. Dazwischen lag der Alltag der Frau mit Weckerklingeln, Aufstehen, Türöffnen, „Guten Morgen, Frau Leutnant, wie geht es dem Herrn Gemahl? Wenn Sie mal ein Glas Bienenhonig brauchen sollten ...“, Arbeit in der Bank, Einkäufen, Volksempfänger: „Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt ...“, leeres Bett nebenan, kühle Laken, stumme Fotografie auf dem Nachttisch. Hier ist der Großdeutsche Rundfunk, Sie hören eine Sondermeldung. Sie dachte: Wo ist er, wo ist er?

Die Urlaubszeitcn waren kurz, eilig. „Nur drei Tage, lass sie uns nutzen, carpe diem!“ – diesmal zu Recht. Die Urlaubszeiten waren voll Wein, Kuchen, Küsse. „Wir wollen an nichts denken, an nichts, an gar nichts!“ Dann kam der Bahnhof, „Bleib gesund!“, Tränen in den Augen, Dampf von der Lok, leeres Herz, leeres Bett, Kontenkarten, Zinseszins, Staatsanleihe, „Sie hören eine Sondermeldung“. Als der Junge geboren wurde, war der Leutnant wer weiß wo in den Wolken, das Auge hinter dem Fadenkreuz der Bordkanone: Mein Gott, gib, dass keiner kommt, kein Jäger, eher schon ein schwerfälliger Bomber, das geht schon, ein Bomber geht schon, aber ein Bomber kommt nicht allein, lass den Bomber, mein Gott, am besten, es kommt gar keiner.

Die Geburt war schwer. Die Frau brauchte zehn Stunden für den Jungen, zwei Schwestern und der Oberstabsarzt aus dem Luftwaffenlazarett waren dabei. „Keine Angst, gnä’ Frau, er kommt schon. Na bitte, ein Junge, wird der Herr Leutnant sich ja freuen, kräftiger Nachwuchs!“

Die Frau legte den Jungen in einen Wäschekorb, ausgeschlagen mit dünnem, blauem Stoff, ausstaffiert mit Kissen und Decken. Als der Leutnant kam, Sonderurlaub, zwei Tage, nicht länger, baute er ein hölzernes Gestell mit Holzscheibenrädchen unter den Korb und einen Korbhimmel über den Jungen aus weißer dünner Fallschirmseide. „Wozu sind wir bei der Luftwaffe, was.“

In der Nacht zwischen vorsichtigen Küssen „Geht’s dir denn schon wieder besser?“ – „Ich bin so froh, dass du da bist“ – horchten sie auf den Atem des Kindes. „Ob er sich auch nicht das Deckbett über den Kopf zieht?“ – „Er ist doch noch viel zu klein.“ „Ich muss mal sehen, ob ich ihm nicht so eine polnische Klapperpuppe mitbringen kann."

Dann kam der Bahnhof, Wasser in den Augen, Dampf von der Lok. Räder müssen rollen für den Sieg, der Sieg war fern. „Heb doch den Jungen noch mal hoch!“ Der Dampf senkte sich. „Bleib gesund!“ „Pass auf den Jungen auf.“ „Wink mal dem Papa.“ „Er kann doch noch nicht winken, er ist doch noch zu klein.“

Die Frau lebte ihr Leben in der Stadt mit dem Bahnhof, ein geteiltes Leben zwischen Kontenkarten, Zinseszins. Staatsanleihe, Milchflasche, Breikochen. Drei Punkte für eine Windel.

In der Nacht zog sie den Korb mit dem Kind an ihr Bett und erzählte Märchen für das Kind und für sich. „Wenn du groß bist, mein Junge, dann musst du auch Akkordeon ...“ Voralarm. Heulende Sirenen, Kinderschreien, blau beschmierte Notbeleuchtung. „Sei still, sei still, ist ja gleich vorbei.“ Glitschige Kellerstufen, fernes Brummen, belfernde Flak, Kinderschreien. „Sei still, sei still, sie fliegen vorbei. Suse, liebe Suse, was raschelt im Stroh …“

Das Stroh brannte mit hellen, knisternden Flammen. Dazwischen war das zischende Schmelzen von Aluminium. In dem Stroh verbrannte die Tragfläche des Flugzeuges, ein Stück von der Einsatzkarte und die abgerissene Lederhaube, die der Flieger getragen hatte. Es war kretisches Stroh, in dem dies verbrannte, Stroh des Minotaurus ... „Hier ist der Großdeutsche Rundfunk. Bei heftigen Abwehrkämpfen auf der Insel Kreta ...“ Als die Frau den Brief bekam, versiegelt, fiel sie über das Bett mit dem glatten Laken und den ausgekühlten Kissen. Dort lag sie den halben Tag, tränenleer, und das Schreien des Jungen rief sie zurück. Auf dem Felde der Ehre. In der Nacht kamen die Tränen, tagelang, wochenlang.

Dann kam der Blockwart: „Sie müssen Ihre Verdunkelung in Ordnung bringen, wir liegen im Feindbereich.“

Die Frau fragte sich, wozu, aber sie fand keine Antworten. Sie wickelte ihr Kind ein, heb doch den Jungen noch mal hoch, und trug es in den Keller. Sirenengeheul, Flakgebelfer. „Sei still, sei still, es ist gleich vorbei.“ Pfeifende Bomben, berstende Mauern. „Suse, liebe Suse ...“ Und keiner findet heraus aus dem Labyrinth.

Zuerst arbeitete sie noch in der Bank, Kontenkarten, Zinseszins und Staatsanleihe.

Dann arbeitete sie in einer Munitionsfabrik, weil das Essen dort besser war und sie etwas mitnehmen konnte für das Kind. 2,5–Granaten, 3,7–Granaten, mittags Rindfleischgulasch. Das Kind wuchs heran, und der Krieg starb.

Dann arbeitete sie als Trümmerfrau. Ihre Hände rissen auf, ihre Kleider verstaubten, abends ein Kochgeschirr voll Rübensuppe für das Kind. „Mama, kommt bei uns auch ein Papa nach Hause?“ Sie schichtete abgeputzte Ziegel aufeinander und ausgeglühte Metallbinder. „Mama, ich habe Hunger.“

Sie tauschte das Akkordeon gegen zwei Kilo Butter ein und den Holzräderkorb mit dem Fallschirmseidendach gegen drei Liter Milch und ein bisschen Mehl. Sie tauschte Obst und Gemüse ein für den vergoldeten Trauring.

Sie las die Annonce flüchtig in dem Zeitungsblatt aus dickfaserigem Holzpapier, in das die gelbe Kohlrübe eingewickelt war. „Heute kocht Mama was Feines für dich.“

Sie las die Annonce noch einmal, als sie das Papier in den Ofen stecken wollte. Sie las sie in dem flackernden Licht, das aus dem Ofen kam, Stromsperre, Kohlrübensuppe, vergessene Jugendträume, erstickte Träume, die großen Pläne des Sparkassenbeamten Möbius mit dem verlorenen Sohn, „Lehramtsbewerber gesucht“, las sie. Sie schleppte die Annonce mit sich herum, in ihrem Kopf, in ihrem Herzen. „Mama, ich habe Hunger.“ Schaffst du das? Pflichtjahrmädchen, Leutnantswitwe, Trümmerfrau, Ziegelputzen, heb doch den Jungen noch mal hoch.

Sie sagte zu dem Kind: „Wir ziehen um!“

BRÜNECKE

Nein, so kann das nicht gewesen sein. So, wie er das sieht. So kühl, so fern, so aufgebaut in systematischer Folgerichtigkeit: dort die Ursache – hier die Wirkung. Eine Kausalkette aus Kindheitseinflüssen, Fluchtbereichen, falscher Berufswahl Nein, das ist zu einfach, zu unglaubwürdig. – Seit wann verlegst du dich aufs Glauben, Wilhelm, seit wann machst du das? Seit wann lässt du Glauben und Wissen vor dir herumhüpfen, wie es ein Jongleur mit seinen Bällen tut? Mal greifst du hierhin, mal dorthin, mal spielst du mit diesem, mal mit jenem Ball. Dabei bist du es, Wilhelm Brünecke, dem die Studenten diesen bezeichnenden Namen gegeben haben.

einen es ihr

Was er dir aber erzählen will, Winfried, Herr Dr. Winfried Lotz, Sohn deines alten Freundes Hinrich und so ganz anders als der Vater, was der dir erzählen will, das zählt nicht für dich. Psychische Überbelastung, Fehlentwicklung im Kindesalter, unausgefüllte Fluchtbereiche und nicht gemeisterte Überforderungen jene Kausalkette, die nach Winfrieds Darstellung unausweichlich zum beruflichen Fiasko deiner einstigen Studentin geführt haben soll und die er vor dir aufbaut, schlüssig, exakt, in seinem umständlichen Akademikerdeutsch, die willst du nicht gelten lassen. Denn du kennst doch diese Frau, sagst du dir, du kennst sie, du kannst nicht fehlgehen in deinem Urteil und warum kann ich nicht fehlgehen?