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Erwin Johannes Bach

Das Wunder von Leningrad

 

ISBN 978-3-95655-854-2 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-853-5 (Buch)

 

Herausgegeben und mit einem Nachsatz sowie Kommentaren versehen von Aljonna und Klaus Möckel.

Fotos: Privatarchiv Aljonna Möckel

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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Das Wunder von Leningrad

Bild

Es war ein kalter und später Frühling, der Frühling 1941, kalt und spät selbst für die Stadt Leningrad, deren Klima ihre Menschen nicht verzärtelt. Noch im Mai waren die Knospen nicht erwacht, und auf den Teichen der Parks schillerte das weiße Eis. Und dann kam der Juni mit Lenzesgrün und Blüten, und dann kam der Krieg. Viele Schicksale hatte Leningrad erlebt, seit der Zeit schon, da es noch St. Petersburg hieß. Sogleich war sommerliche Freude ausgelöscht wie eine umgestürzte Fackel, und graue Sorge umdüsterte das Haupt der Stadt. Ihr Gehirn wurde zu einem Ganglienzentrum des Krieges, Leningrad wusste sein Schicksal vom ersten Tage. Ich sprach von der Roten Armee. Leningrad sprach von Blockade und Sterben, sprach von Hunger, den es kannte von früher. Leningrad gedachte der Interventionskriege und dachte an Not, an hundertfünfundzwanzig, an hundert und fünfzig Gramm Brot am Tag.

 

Ich glaubte, der Eindringling, der im Inneren seines Landes schon viel zu lange sich an schmachvoll usurpierter Macht hielt, würde zerschellen im ersten Anprall. Aber seine Macht war noch unermesslich, und die Stadt sah den Strahl, der auf sie niederzucken würde. Wie eine leuchtende Landschaft verbleicht unter heraufziehendem Sturmgewölk, so verdüsterte die säulenreiche Stadt sich von Stunde zu Stunde. Die Front rückte heran, ein vieltausendköpfiges Ungeheuer, feuerspeiend aus vielen Tausenden von Schlünden. Tod und Verderben ging nieder auf die Stadt, welche eine apokalyptische Macht des Bösen schlechthin und des Teuflischen vertilgen und dem Erdboden gleichmachen wollte. Und eines Tages stand es angeschlagen und geschrieben auf den Plätzen der Stadt:

 

„ L e n i n g r a d   i s t   F r o n t   g e w o r d e n.”

 

Das Antlitz  der Stadt verdüsterte sich schwerer, und sie sank in Trauer und Asche. In aschfahles Grau hatten sich die goldenen Spills, die charakteristischen Nadelspitzen der Türme gekleidet, die sonst die Stadt überglänzten. Grauschwarz überzog sich die große goldene Kuppel der St. Isaak-Kathedrale und die kleinere der Admiralität. Ein Wald grauer Fesselballons stand über der Stadt. Immer mehr Fenster der Häuser und Vitrinen der Läden wurden zugemauert, das fröhliche Leben in den Passagen war versickert und verstummt. Kunst- und Kulturschätze wurden aus der Stadt geschafft, Denkmäler wurden verschalt und mit bombenfestem Beton umhüllt. Lebendes verwandelte sich in Stein, wie Mensch und Tier in grauer Vorzeitsage. Leningrad ward Front. Die Bomben wühlten sich in sein blutendes Leben und zauberten die Häuserfassaden hinweg, so dass man in die Wohnungen hineinblickte wie vom Parterresitz in das Zimmer einer Bühnenkulisse. Mit einem sonderbaren kaltherzigen, eisern klingenden Bellen rissen die Projektile der Langrohrgeschütze klaffende Löcher in die Häuserfronten, hinter denen eben noch lebende Mütter saßen mit warmen Kindern. Die Männer waren fort, die Väter, Brüder, die Söhne und Gatten. Sie lagen vor der Stadt, und der Fuß keines Feindes hat die Stadt betreten.

 

Aber der Feind stand vor der Stadt. Nicht vor der Stadt: an der Stadt, und sein Stiefel beschmutzte ihr Gewand. Schmutz ist schlimmer als Blut. Aus aller Nähe blickte der Feind in die Stadt hinein, sieggewohnt, jeder Tag musste sie ihn zur Beute geben. Kühl und berechnend blickte sein Mörderauge. Der offizielle Termin der Siegesparade auf dem Schlossplatz in Leningrad war schon angesetzt, vorgesehen war das Hotel „Astoria“ für das Offiziersbankett. Der Feind rechnete und musste sich verrechnen, weil er sich als Maßeinheit nahm. Der feindliche Führer, ein Führer, herausgespült aus irgendwelchen Niederungen der Menschheit, hielt dafür, dass die Stadt vor marterndem Hunger sich selber auffressen und der Sieg ihm als reife Frucht in den Schoß fallen würde …

 

Der Feind stand vor der Stadt, an der Stadt und um die Stadt. Und dieser Feind ist mein Volk, mein deutsches Volk, oh Schmerz und Tränen, das ich liebte, und das ich nicht lassen zu können glaubte. Ich erkannte nicht mehr die Sprache meines Volkes, sie war nur noch das erbarmungslose eiserne Bellen der Projektile, welches die Häuserfronten aufriss und die Menschenschlangen vor den Lebensmittelläden und an den Straßenbahnhaltestellen fortraffte, das eiserne Bellen seines Führers. Mein Feind kam aus meinem Volk, Feind dem ganzen Menschengeschlechte, der meine alte Mutter in die Gaskammer tat, als ich im kämpfenden Leningrad war.

 

Und da war die kämpfende Stadt. Sie kämpfte mit zusammengebissenen Zähnen und mit noch im Schlafe geballter Faust. Es gab etwas Letztes, Unausdenkbares, und an dieses Unausdenkbare dachte die Stadt. Durch ihre Boulevards zogen sich Gräben, in den Parks und Anlagen gingen Minenwerfer- und Nachrichtenabteilungen in Stellung, auf ihren Straßen steilten sich durchlasssperrend die Barrikaden. Die Dokumente der Unternehmen, der Betriebe und Organisationen wurden eingeäschert, ihr schwarzer Ruß bedeckte das Pflaster der Stadt. Firmen- und Straßenschilder wurden abgenommen, die Stadt kannte ihre Namen nicht mehr. Die Stadt starb nicht, sie lebte ein fieberhaftes und angespanntes Leben. Die Bevölkerung zog hinaus, tagtäglich, beim ersten Frühlicht, Frauen und Halbwüchsige, Mädchen und Greise. Sie verschanzten die Stadt, bauten Verteidigungsstellungen und Tankfallen, sie waren eingesehen, beschossen und bombardiert vom Feind.

Doch auch früher wurden Städte belagert, auch zu anderen Zeiten wurde Übermenschliches getan und geduldet um einer Sache willen, um einer Idee willen. Nicht dieses war es, wovon wir schreiben wollten.

 

Der Hunger malte im blockierten Leningrad die Gesichter bleich, meißelte die Backenknochen und die Jochbeine heraus, spitzte das Kinn zu. Es gab hundertfünfundsiebzig Gramm Brot, hundertfünfzig Gramm Brot, hundertfünfundzwanzig Gramm Brot. Und außer Brot gab es fast nichts.