Impressum

Helmut Bulle

Die wilde Ehe der Justine M.

Aktenkundiges vom Rennsteig

 

ISBN 978-3-95655-833-7 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 2015 bei Edition D.B., Erfurt.

 

Umschlaggestaltung: Sabine Beck (sab.beck@gmx.de)

 

Dank dem Staatsarchiv Rudolstadt für die Publikationserlaubnis

 

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Lasst Akten sprechen! - 1835: Sechs Tage Gefängnis und drei Tage Fronarbeit für ein Stück Buchenholz; 1889: Wilddieb Becker am Höllteich bei Neustadt am Rennsteig erschossen - und zwischendrin, was nachzulesen ist im Staatsarchiv Rudolstadt zur "wilden Ehe" der Justine Möller, anno 1839. - Kommentare überflüssig; Akten sprechen auch bei den anderen Texten, so bei der „Not der geschwängerten Maria Elisabeth Riethin aus Breitenbach“.

 

Zum Gedenken an meine Eltern Emil Bulle und Gertrud Bulle, geb. Hartung

Bild

Frühjahr 1939 mit Tochter Elli

Brief an einen Schulkameraden als Vorwort

Lieber Dieter,

ich nehme Deinen 75. Geburtstag zum Anlass, um die neuesten Ergebnisse meiner Beschäftigung mit der Regionalgeschichte (Neustadt und Umgebung) und der Familiengeschichte meiner Eltern und Großeltern vorzustellen.

All das ist ja auch Gegenstand unseres gemeinsamen Buchprojektes „Die wilde Ehe der Justine M.“, das wir hoffentlich in naher Zukunft zu einem guten Abschluss bringen werden.

Die gesammelten und bearbeiteten Dokumente umfassen jetzt einen Zeitraum von nahezu anderthalb Jahrhunderten, beginnend mit dem Jahre 1741, als zwischen den Kirchenbehörden von Eisfeld und Gehren die gemeinsame Nutzung der Neustädter Kirche für beide Ortsteile vereinbart wurde, bis zum Jahre 1890, als die Akte über Heinrich Eschrich, die im Zusammenhang mit den Tod des Altenfelder Bürgers Hermann Becker steht, geschlossen wurde. Die Dokumente vermitteln vor allem auch durch ihre Verschiedenartigkeit einen interessanten Einblick in die Geschichte unserer heimatlichen Region um den Rennsteig, die ja unsere Kindheit und Jugend maßgeblich beeinflusst und geprägt hat. Als ich vor einigen Jahren meine ersten zaghaften Schritte in Richtung Ahnenforschung unternommen habe, war ich mir selbst nicht im Klaren darüber, welche Dimension das Ganze annimmt. Wie dem auch sei, so ist das Ergebnis - gemessen am ursprünglichen Ziel - zumindest für mich selbst beeindruckend.

Zunächst ging es mir eigentlich nur um die Ahnenforschung unter Nutzung der üblichen Quellen, sprich Einträge in Kirchenbüchern. Meine erste Anlaufstelle war aus verständlichen Gründen das Pfarramt unseres Heimatortes Neustadt. Dort stand ich dann tief beeindruckt und voller Ehrfurcht vor einer Schrankwand, die mit den Kirchenbüchern von Neustadt und Altenfeld aus dreihundert Jahren gefüllt war und muss wohl einen ziemlich hilflosen Eindruck gemacht haben. Bei diesem Besuch erfuhr ich jedoch zum Glück, welche große Vorarbeit Rolf Heitmann aus Bad Schwartau bereits zur Ahnenforschung in Neustadt und Altenfeld geleistet hatte. Er war zu diesem Zeitpunkt gerade dabei, etwa 10500 Datensätze von Einwohnern aus Neustadt und etwa 3100 Datensätze von Einwohnern aus Altenfeld in einem Computerprogramm zu erfassen, um damit die Ortsfamilienbücher von Neustadt von den ersten kirchlichen Aufzeichnungen bis 1920 und von Altenfeld bis 1825 zu erstellen - eine gigantische Arbeit, deren großer Wert vielleicht gegenwärtig noch gar nicht voll verstanden und gebührend gewürdigt wird. Jedenfalls wurde mir so, was die Neustädter und Altenfelder Vorfahren angeht, viel mühsame und zeitraubende Kleinarbeit erspart. Nebenbei stellte sich heraus, dass wir drei - Rolf Heitmann, Dieter Beetz und Helmut Bulle - einen gemeinsamen Vorfahren in der Person des Glashändlers Christian Kahl (1706 bis 1782) haben. So treibt der Zufall mitunter sein seltsames Spiel!

In der Folge habe ich noch in den Kirchenbüchern von Breitenbach (heute Großbreitenbach), Unterneubrunn (heute Schönbrunn), Möhrenbach und Gräfenroda nach weiteren Vorfahren Ausschau gehalten und bin auf interessante Details gestoßen. Kirchenbücher enthalten ja in der Regel nicht nur die üblichen Angaben über das Datum von Geburt und Taufe sowie von Trauung und Tod, sondern darüber hinaus auch Informationen über den Vater und seinen Beruf (erst später auch über die Mutter), über die Taufpaten, über die Ursache des Todes und die Art des Begräbnisses.

So erzählen z.B. die Eintragungen über die fünf unehelichen Kinder meiner Ururgroßmutter Dorothea Hartung im Altenfelder Kirchenbuch sehr viel über ihr Leben und die sozialen Verhältnisse in Altenfeld in der Mitte des 19. Jahrhunderts (siehe auch Wally Eichhorn-Nelson „Rauh ist der Kammweg“). Sie selbst war die Enkeltochter des Hütmannes Georg Heinrich Hartung, vermutlich also des Ziegenhirten von Altenfeld, und Cousine von Gottlieb Hartung, über den es eine eigene Akte gibt. Man muss sich vorstellen: Fünf uneheliche Kinder in einem Gebirgsdorf des Thüringer Waldes in der Mitte des 19. Jahrhunderts - sozusagen eine Art moralischer „Super-Gau“ (obwohl, heute würde man es als relativ normal empfinden und kein Hahn würde danach krähen). Über den Vater oder die Väter der Kinder gibt das Kirchenbuch keine Auskunft, wohl aber, dass das Zwillingssöhnchen Wilhelm Theodor im Alter von 10 Wochen an Krämpfen verstorben ist und sich für die Taufe des fünften Sohnes unter Verwandten und Bekannten kein Taufpate mehr fand, so dass die Mutter das Kind „selber aus der Taufe gehoben“ hat. Der fünfte Sohn war übrigens mein Urgroßvater Balduin Hartung, verheiratet mit Amande Emmeline Hartung, einer Tochter des schon erwähnten Gottlieb Hartung, die zwei uneheliche Kinder mit in die Ehe brachte. Zu ihnen gehört Carl Hartung, der spätere Besitzer des „Arnstädter Hofes“ in Neustadt. Aus der Ehe gingen vier weitere Kinder hervor, die ich mit Ausnahme meines Großvaters Max alle noch persönlich kannte. Alle Kinder waren ehrliche, arbeitssame Menschen, die es zu bescheidenem Wohlstand gebracht haben. Wenn man also nach den Ursachen der misslichen Lage der Hartungs in Altenfeld fragt, die nach allem, was wir wissen, zur Dorfarmut gehörten, dann lässt sich wohl berechtigt feststellen: An den Genen hat es nicht gelegen!

Das Bild über die Hartungs in Altenfeld wird übrigens sehr eindrucksvoll ergänzt durch die Akte über Gottlieb Hartung, der als Minderjähriger in Gehren vor Gericht gestellt wurde, weil er bei einer Haussuchung durch den Breitenbacher Förster Held wohl seine Emotionen nicht ganz unter Kontrolle hatte. Diese Akte spricht in der Tat für sich selbst. Vielleicht an dieser Stelle aber doch mit einer kurzen Anmerkung! Der Vater von Gottlieb Hartung - Johann Nicolaus Hartung - musste in genannter Gerichtsverhandlung im Februar 1835 in Gehren Rede und Antwort stehen wegen Holzdiebstahls und wurde zu drei Tagen Zwangsarbeit im herrschaftlichen Forst verurteilt. Im Sommer desselben Jahres verstarb er im Alter von 63 Jahren. Das wiederum ist dem Kirchenbuch von Altenfeld zu entnehmen.

In der Akte des Gottlieb Hartung ist mit Jacob Bulle ein weiterer Name aus meiner Ahnentafel zu finden. Jacob Bulle war zu jener Zeit als Schulze von Altenfeld gemeinsam mit Förster Held maßgeblich an der Inhaftierung von Gottlieb Hartung beteiligt. Der Name Bulle ist in den Altenfelder (Breitenbacher) Kirchenbüchern seit 1625 zu finden. Er selbst war Glashändler, sein Vater Oleatenhändler und für den Großvater wird als Beruf Laborant, was immer das auch zu jener Zeit zu bedeuten hatte, angegeben. Auf jeden Fall deuten die Berufsbezeichnungen auf eine gewisse unternehmerische Aktivität hin, die wohl auch mit gehobener sozialer Stellung im Ort verbunden war. Das erklärt vermutlich auch, warum es im Jahre 1807 zur Ehe von Jacob Bulle mit Margaretha von Hopfgarten - Tochter des Leutnants Gottlob Adam Ludwig Ernst von Hopfgarten und Enkeltochter des Breitenbacher Schulzen Friedrich Christoph Harraß - gekommen ist.

In der Geschichte unserer Heimatregion zwischen Gehren und Masserberg treffen wir zum ersten Mal auf den Namen der Adelsfamilie von Hopfgarten im Zusammenhang mit dem Tod des Försters Wilhelm Laßmann im Jahre 1764. So schreibt Otto Ludwig in seinem Buch „Der Rennsteig“ mit Bezug auf einen Bericht des Amtmannes Johann Bernhard Fricke, Fürstlicher Hof- und Kammerrat zu Gehren, dass der Jäger Hölandt im Breitenbacher Forst eine starke Zigeunergruppe aufgespürt und darüber dem Amtshauptmann zu Gehren, Major von Hopfgarten, Bericht erstattet habe. „Sogleich habe der Major von Hopfgarten den Befehl an die Defensioner (Ortswachen) gegeben, noch nachts unter Führung des Försters Laßmann und des Fähnrichs Tempelmann - aber ohne Wissen des Forstamtes - aufzubrechen und die Zigeuner festzunehmen.“ Der Major selbst sei aber zu Hause geblieben. Am Morgen desselben Tages wurde Laßmann bekanntlich bei einem Schusswechsel mit einem der verfolgten Zigeuner tödlich verletzt, dort wo heute der nach ihm benannte Gedenkstein steht.

Marie Sophie von Hopfgarten geborene Dachröden zeichnet in ihrer 1761 erschienen Familiengeschichte der Thüringer Adelsfamilie von Hopfgarten ein recht vorteilhaftes Bild des Majors Anton Friedrich Wilhelm Ernst von Hopfgarten, also des Großvaters der Margaretha von Hopfgarten. Aber das ist wohl vor allem dem Zeitgeist geschuldet. Jedenfalls lassen die Vorgänge um den Adelsspross Gottlob Adam Ludwig Ernst von Hopfgarten (siehe „Die Akte Harraß“ und „Die Akte Rieth“) auch die Familie von Hopfgarten in einem etwas anderen Licht erscheinen.

Wie schrill das Leben des Leutnants von Hopfgarten in Breitenbach auch gewesen sein mag, so war, wenn man nach der Eintragung im Breitenbacher Sterberegister von 1818 urteilt, sein Abgang aus dem irdischen Dasein wohl eher leise.

Recht aufschlussreich ist übrigens noch die Eintragung im Breitenbacher Geburts- und Taufregister von 1783 zur Geburt der Johanna Margaretha Elisabetha Regina von Hopfgarten. Die Taufpaten bilden eine durchaus respektable Gesellschaft. Heute würde man sagen, man war „gut vernetzt“. Einer der Taufpaten war der Förster Johann Gottlieb Steinmann. Der Familienname Steinmann taucht dann in der Neubert-Akte aus Möhrenbach wieder auf. Dort war der Teichpächter Eduard Steinmann Gegenspieler der Familie Neubert (Betreiber einer Schneidemühle im Schobsetal bei Gehren) im Streit um das Wasser des Flüsschens Schobse. Der Streit ging zu Gunsten des Teichpächters aus. Ein Schalk, wer Schlechtes dabei denkt.

Zur Familie Neubert aus Möhrenbach sei hier noch der Hinweis gestattet, dass der Dielenschneider Nicol Jacob Neubert im April 1837 in Neustadt Marianne Friederica Schmidt heiratete. In dieser Ehe wurde 1842 Hulda Neubert, meine Urgroßmutter, geboren. Hulda Neubert hat 1865 August Kahl (im Neustädter Volksmund „Baron“ genannt) geheiratet. In dieser Ehe wurde 1866 Marie Kahl geboren, nach der Heirat mit Gustav Bulle in Neustadt als Bulles-Marie bekannt.

Und noch einmal zurück nach Möhrenbach: In Möhrenbach hatte in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Familie meines Urgroßvaters Heinrich Eschrich ihren Wohnsitz. Heinrich Eschrich, zu jener Zeit Jagdaufseher im Möhrenbacher Forstrevier, stammte aus Gräfenroda, seine Ehefrau, meine Urgroßmutter Pauline Göhring, aus Eileben. Die Akte über Heinrich Eschrich aus dem Jahre 1889, die mit dem tragischen Ende des Altenfelder Bürgers Hermann Becker zusammenhängt, bedarf eigentlich keines Kommentars. Allerdings werden in ihr nicht nur bestimmte Charakterzüge von Heinrich Eschrich deutlich, sondern auch das gesellschaftliche Umfeld, in dem die Menschen geformt und von dem ihr Handeln bestimmt wurden. Hier wird schon der Boden sichtbar, auf dem jener Ungeist wucherte, der die nationalen Katastrophen, die von Deutschland im 20. Jahrhundert ausgingen, zumindest teilweise erklärt. Denn man fragt sich schon, wie konnte es geschehen, dass aus einem Volk der Dichter und Denker ein Volk von Räubern und Mördern wurde.

Meine Großeltern und ihre Kinder haben zwar den 1. Weltkrieg leidlich überstanden und unter den schlimmen Folgen - sprich Hunger, Krankheit, Inflation, Arbeitslosigkeit - gelitten. Der nächste Krieg aber hat einen unvergleichlich höheren Tribut vor allem an Menschenleben gefordert. Von den Enkelsöhnen meiner Großeltern, von denen zu Beginn bzw. im Verlauf des 2. Weltkrieges zwölf im sogenannten wehrfähigen Alter waren, haben neun diesen Wahnsinn mit dem Leben bezahlt.

Dazu zählen die beiden Söhne von Tante Emma, Erich und Arno Beetz. Erich hinterließ eine Frau und zwei Kinder.

Die letzte Nachricht von Werner Amm, Sohn von Tante Luise, stammt aus dem Kessel von Stalingrad. Nach Schilderung eines Kameraden wurde er von seiner Einheit auf dem Rückzug verwundet zurückgelassen.