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Machs gut Schneewittchen


Machs gut Schneewittchen

Zehn Geschichten aus der Kinderzeit
1. Auflage

von: C. U. Wiesner

7,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: PDF
Veröffentl.: 21.10.2013
ISBN/EAN: 9783863944193
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 230

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Hier ist vom Nebel die Rede, vom Nebel der Vergangenheit. Aus jenem Nebel der Vergangenheit tauchen die Gestalten der Kindheit des Autors auf, von denen C.U. Wiesner – das C.U. steht übrigens für Claus Ulrich -, sehr anschaulich und detailreich zu erzählen weiß.
Zu diesen Gestalten gehört jenes Schneewittchen aus dem Titel dieser Memoiren. Aber wieso Schneewittchen? Dazu muss man sich in die Geschichte „Als mich der LIEBE zarter Flügel striff“ vertiefen. Diese lange Geschichte beginnt mit einem Exkurs über den Zeitpunkt der ersten gewissen Gefühle eines Menschenjungen und mit dem Geständnis des Autors, dass er mit sechs Jahren ein ausgemachter Stubenhocker war, „vielleicht weil mich größere Jungen zwei- oder dreimal verdroschen hatten, vielleicht auch weil ich, ohne dass mich jemand dazu angehalten, lange vor der Einschulung fließend lesen konnte.“
Im Zuge seiner Leseabenteuer kommt der Junge im Stadtanzeiger auch an den Fortsetzungsroman „Drei Nächte im Zirkus van Bevern“, in dem es vor Leidenschaften nur so brodelt. Die Lektüre brachte ihn zu der Erkennts, dass Liebe etwas Schönes, aber auch sehr Gefährliches sein müsse. Eine gewisse Vorsicht im Umgang mit der Weiblichkeit erschien ihm auf alle Fälle geboten.
Viel später erzählt der Autor von einigen Tagen Heimaturlaub seines Onkels Oskar, um der Taufe seiner Tochter beizuwohnen. Die Erwachsenen, mindestens ein Dutzend an der Zahl, drängten sich bei Bier und Schnaps in dem winzigen Wohnzimmer zusammen, redeten lautstark durcheinander und landeten schließlich bei Witzen, deren Pointen die Frauen mit kreischendem Lachen belohnten.
Ich hörte diesmal überhaupt nicht zu, nippte an meinem Glas verdünnter Pfirsichbowle und starrte wie ein Trottel das Mädchen mir gegenüber an, als wäre mir die Märchenfee leibhaftig erschienen. Dabei sah ich Annemarie, eine Nichte von Tante Trudchens Seite her, nicht zum ersten Mal. Aber früher hatte ich sie als dumme Gans betrachtet, die man als richtiger Junge links liegen ließ. Eine Märchenfee war sie natürlich nicht, eher schon das liebe Schneewittchen: weiß wie Schnee, rot wie Blut und schwarz wie Ebenholz. Wenn sie meinen Blick auffing, schaute sie auf das Tischtuch. Und es beginnt eine zarte Romanze.
Als letztes will ich noch berichten, was aus meinem Schneewittchen geworden ist. Auch hier übertraf die Banalität des Lebens jegliche Fantasie. Annemarie ging mit vierzehn von der Oberschule ab, wurde Fleischermamsell und heiratete den Klotzgesellen ihres Meisters.
Wie ich beinahe TERRORIST wurde
Wie meine Laufbahn als KLAVIERVIRTUOSE scheiterte
Als ich ein großdeutscher PIMPF war
Was ich an HERRENFRISEUREN bemerkenswert finde
Weshalb ich Zweifel am Sieg der GERECHTIGKEIT hege
Als mich der LIEBE zarter Flügel striff
Wie ich ohne auszuziehen das GRUSELN lernte
Weshalb an mir ein ERFINDER verloren ging
IEZE
Warum ich nie ein ernsthafter MENSCH werden kann
C. U. Wiesner
Geboren im letzten Monat der Weimarer Republik, am Neujahrstag 1933, in der einstigen märkischen Hauptstadt Brandenburg, entwich nach dem Abitur den heimatlichen Stadtmauerzwängen, gelangte in eine etwas größere Hauptstadt, ohne zu ahnen, dass man dort schon zehn Jahre später aus väterlicher Sorge bemüht sein würde, ihm den Horizont mit erheblicherem Bauaufwand zu verstellen.
Eines Tages mochte er fürder nicht mehr in der eingefriedeten Hauptstadt leben und zog es vor, in die vertrauten märkischen Wälder zurückzukehren.
Dank prophetischer Gaben bestellte er den Möbelwagen von Berlin-Pankow nach Klosterfelde für den 9. November 1989.
Während des achtunddreißigjährigen Berlin-Aufenthalts:
Studien als Dolmetscher für Englisch; Germanistik und Filmszenaristik (diese im Gegensatz zu jenen hin und wieder angewandt).
Tätig als Lektor, Redakteur, Reporter, Theaterkritiker, Mitarbeiter der satirischen Zeitschrift Eulenspiegel, Entertainer in eigener Sache, Schauspieler (leider zu selten) und (vorwiegend) Schriftsteller.
Sein bekanntestes Geschöpf ist der Frisör Kleinekorte, den das Berlin-Brandenburgische Wörterbuch zu Recht an die Seite der Volksfiguren von Glaßbrenner und Tucholsky stellt.
C.U.W. schrieb u. a. Hörspiele, Kabarett-Texte, Fernsehfilme und Fernsehserien (u. a. Gespenstergeschichten wie Spuk unterm Riesenrad, Spuk im Hochhaus, Spuk aus der Gruft für Kinder von 8 bis 88 Jahren) sowie dreizehn Bücher, vom Kinderbuch über den Kriminalroman, die satirische Darstellung eigener Umwelt im weitesten Sinne bis zum bitteren erst um die Jahreswende 1989/90 nach einiger Verzögerung erschienenen Märchenroman für Erwachsene Die Geister von Thorland, Machs gut, Schneewittchen! und Lebwohl, Rapunzel! erzählen von den Kinder- und Jugendjahren in der Havelstadt Brandenburg.

Zu den Pflichten eines Konfirmanden zählte neben der wöchentlichen Teilnahme am Unterricht auch der allsonntägliche Besuch des Kindergottesdienstes. Da saßen wir denn ganz hinten auf der Empore der prächtigen gotischen Hallenkirche St. Katharinen und verhunzten aus voller Kehle den schönen alten Choral, zu dem Luise Henriette, die Gattin des Großen Kurfürsten, den ergreifenden Text „Jesus, meine Zuversicht“ geschrieben hatte. Wir Gassenjungen sangen indes:
„Jesus, meine Kuh frisst nicht.
Erhaltse mir am Leben!
Heu und Hafer willse nicht.
Was soll ich ihr bloß geben?“
Jeden Donnerstag zum Konfirmandenunterricht, den wir nur Konfa nannten, trat Pfarrer Ristock unter uns, um fürchterliche Musterung zu halten. Von einem Zettel las er einige Namen ab und fragte jeden einzelnen Säumigen, heftig durch die Zahnlücke zischend: „Affmuff (Asmus)! Warum warft du am Wonntag nicht fum Kindergotteffdienft?“ Die gängigen Antworten in jenem Hungerjahr 1947 lauteten: „Ick war mit meine Jeschwister uffn Acker, Ährenlesen.“ - „Ich musste mit meinem Vater in den Wald, Holz holen.“ - „Meene Eltern ham mir mit uffs Land jenommen. Ick sollt mir mal den Bauch vollhauen.“
Da Pfarrer Ristock sich offenbar von himmlischem Manna statt wie wir von irdischer Speise ernährte, packte ihn ob solcher Entschuldigungen jedes Mal ein heiliger Zorn. Jeweils drei der fast schon dem Heiland verlorenen Schäflein wies der gebeugte Hirte mit der weißen Stoppelfrisur auf eine unbequeme Sitzgelegenheit an der Seitenwand und sprach: „Schulfe, Schmitfdorf und Wujanf! Nehmt auf der Strafbank Platf, biff ihr euch wieder ehrlich gemacht habt!“
Ich erzählte meinem Vater von dieser Maßnahme. Der wollte mich stehenden Fußes vom Konfirmandenunterricht abmelden, scheiterte zwar an Mutters Widerstand, sagte mir aber unter vier Augen: „Wenn dich der Pastor dafür auf die Eselsbank jagt, darfst du von mir aus aufstehen und ganz laut die Tür hinter dir zuschlagen.“ Seitdem betete ich während des Unterrichts still vor mich hin, Pfarrer Ristock möge mich auf die Strafbank schicken, aber Gott hatte taube Ohren und ließ mich nicht zu den Auserwählten gehören.
Über den Einsegnungsakt in St. Katharinen will ich mich nicht näher auslassen. Opa Muschert saß in der ersten Reihe des Publikums, wohl um zu begutachten, wie sein von Schneidermeister Kuster zusammengestutzter Hochzeitsanzug um meine dürren Glieder schlotterte. Dabei spielte Opa nervös oder schon leicht angetrunken mit seinem Klappzylinder, und ausgerechnet beim Vaterunser machte es überlaut „klack!“
Der Hut hatte sich aus einer tellerförmigen Scheibe in eine überdimensionale Angströhre verwandelt und im Davonsausen Pfarrer Ristock mit Schwung am Hinterteil getroffen. Glucksen und Kichern unter den Konfirmanden, aber auch unter den Angehörigen.
Der Pastor fuhr herum. Vielleicht war ihm Conrad Ferdinand Meyers Novelle „Der Schuss von der Kanzel“ eingefallen. Er nahm einen Anlauf wie ein Elfmeterschütze und beförderte den vertrackten Hut mit einem kräftigen Fußstoß ins Publikum zurück. Das Geschoss traf genau den Mann, nämlich Opa Muschert, und der setzte sich in seiner Verlegenheit den Zylinder auf das kahle Haupt, worauf in unseren Reihen kein Halten mehr war.
Pfarrer Ristock aber sprach mit Donnerstimme: „Wahrlich, ich wage euch: Witwet nicht dort, wo die Fpötter witwen!“ Irgendwie brachte er seine Amtshandlung mit Anstand zu Ende. Ich wunderte mich nur, dass er diesmal die sowjetische Militäradministration in Karlshorst nicht als Buhmann bemühte. Das tat er sonst immer, wenn er glaubte, mit uns nicht fertig werden zu können. Ich konnte mir damals schon nicht gut vorstellen, dass uns auf Wunsch Pfarrer Ristocks ein schwer bewaffnetes Streifenkommando der Roten Armee zum Kindergottesdienst schleppen sollte, zumal der brave Gottesmann, wie er uns in düsteren Anspielungen oft genug wissen ließ, mit jenen ungläubigen Steppenbewohnern wenig im Sinn hatte. Solche Doppelzüngigkeit machte mich schon bald der Kirche abhold.
Die Familie war erstaunt, dass mir Pfarrer Ristock trotz alledem so einen segensreichen Konfirmationsspruch zugeeignet hatte: „Sei allzeit gesund, wie Jesus Christus war!“ Mir wurde zwar schon während der häuslichen Feier speiübel zumute, weil mir Onkel Waldemar als künftigem Mitmann eine bockwurstgroße Zigarre angebrannt hatte, aber ich überlegte noch lange, wie gesund der Herr Heiland denn gewesen sei. Ich hatte ja immerhin schon Masern, Ziegenpeter, Scharlach und Diphtherie hinter mir, und von derlei Leiden stand in der Bibel nichts zu lesen. Das Rätsel löste sich, als meine schriftgewandte Cousine Pfarrer Ristocks undeutliche Handschrift richtig entzifferte: „Sei allzeit gesinnt, wie Jesus Christus war!“

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