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Ihr wilder Mut


Ihr wilder Mut

Erzählungen
1. Auflage

von: Heinz Kruschel

7,99 €

Verlag: Edition Digital
Format: EPUB
Veröffentl.: 21.10.2014
ISBN/EAN: 9783956551000
Sprache: deutsch
Anzahl Seiten: 204

Dieses eBook enthält ein Wasserzeichen.

Beschreibungen

Es sind Entdeckungsreisen in menschliche Leben. Vielleicht lässt sich so am besten das Gemeinsame im Unterschiedlichen dieser 18 Erzählungen beschreiben, die 2001 veröffentlicht wurden. Da ist die Titelgeschichte „Ihr wilder Mut“, die am letzten Novembertag des Jahres 2000 spielt, als die Temperaturen in Mitteleuropa auf 18 Grad anstiegen, und in welcher der Autor über den Zusammenhang zwischen Liebe, Glück und einem Staatsakt nachdenkt. Und diesen Zusammenhang gibt es vielleicht gar nicht, jedenfalls nicht für das Mädchen Hannah, das seinen Freund liebt, ihm noch eine Flaschenpost in seine Abwesenheit schicken will und nicht im Geringsten ahnt, welche Gefahr für einige Leute von ihr auszugehen droht.
Da sieht einer nach fünfzig Jahren seine alte Schulstraße wieder, erzählt seinem Enkel von früher und wofür er sich noch heute schämt. Es geht um die scheiternde Liebe einer 13-jährigen Schülerin und ihres weit älteren Lieblingslehrers, um die letzten Gedanken eines langsam Sterbenden und die harten und herzlosen Zeiten der beiden Eheleute davor, es geht um einen Jungen, der sehr allein ist, um einen etwas anderen Heiligen Abend, an dem die christliche Barmherzigkeit auf die Probe gestellt wird, es geht um eine Kuhherde, die die Straße nur mit Hilfe eines blonden Engels namens Julia unbeschadet überqueren kann, um den kleinen siebenjährigen Hermann, der kein Gehör bei den Erwachsenen findet und am liebsten zu den Sternen fliegen würde.
Es geht um gefährliche Mutproben. Airbaging: eine Crashfahrt im gestohlenen Auto, sich nur voll auf einen funktionierenden Airbag verlassen, nach dem Aufprall rauspringen und davonlaufen – wenn es denn noch geht. Es geht um das Leben und Sterben einer alten Medizin-Professorin, die Schmerzen in der Brust und in der Seele hat, einen Doktor in den besten Jahren liebt und ihr Erdendasein mit Champagner in der Krankenhaus-Schnabeltasse beendet.
Anhand eines Schachkampfes im Jahre 1957, als ein Schüler einem Internationalen Großmeister ein Remis abtrotzt, spürt Kruschel in „Satchmos Punkt“, den Nach-Wende-Veränderungen nach. Eine alte Frau rettet sieben Entenküken das Leben und verliert ihr eigenes, eine gibt per Todesanzeige bekannt, dass sie verstorben ist - ein Doppelporträt in Fragen und Antworten - , Pauline empfindet ihr Leben als einen Irrgarten ohne Ausweg, und der Autor erzählt von einem Vater, der zwei Söhne hat, von denen der eine 1934 den anderen erschießt, und von Bruno Beye, einem Zeitzeugen des vorigen Jahrhunderts.
Julitag in der Schulstraße
Kopflos
Finger, die zucken
Martin und das Hakenkreuz
Misericordia
RITUALE oder WAS FÜR UNRUHIGE GEBÄRDEN
Ihr wilder Mut
Ein Engel an der Ampel
Mutschekiepchen
Tropfen auf dem heißen Bein
Ach, die Kerze, an zwei Seiten brennend
Tschokani
Satchmos Punkt
Urmutter
Ich mache kund, dass ich verstarb
Hallo, kleiner Mufti!
Anekdote aus der Zeit der einheitlichen Religion
Zeitzeuge des vorigen Jahrhunderts: Bruno Beye
Heinz Kruschel, 1929–2011, Sohn eines Bergmanns und späteren kaufmännischen Angestellten der Staßfurter Salzbergwerke, entging nur knapp dem für seine Generation typischen Schicksal, im finalen Aufgebot der letzten Kriegstage - dem "Volkssturm" - verheizt zu werden.
Noch ehe er seine Modelltischlerlehre beendet hatte, beschloss die Partei, in die er jung eingetreten war, dass er Neulehrer zu werden habe, und ließ ihn 1949/50 am Lehrerbildungsinstitut in Staßfurt studieren. Anschließend war er Lehrer in Sandersdorf - den Schülern jeweils ein Kapitel im Lehrbuch voraus -, danach in Magdeburg und Egeln sowie Direktor einer Erweiterten Oberschule in Havelberg.
Nach einem berufsbgeleitenden Fernstudium der Germanistik war er Journalist und Kulturredakteur bei der "Volksstimme" in Magdeburg. Ab 1963 lebte er als freier Schriftsteller in Magdeburg, bereiste im Auftrag von Illustrierten wie der "Für dich" Ungarn, Bulgarien, Usbekistan und Kuba und schrieb zahlreiche Erzählungen und Romane für Jugendliche und Erwachsene.
Sein Roman "Das Mädchen Ann und der Soldat" wurde 25 Jahre lang immer wieder neu aufgelegt, während Bücher wie "Der Mann mit den vielen Namen" oder "Leben. Nicht allein" erst nach erbitterten Auseinandersetzungen mit jenen Behörden, die Literatur zu genehmigen hatten, erscheinen durften.
Sein Roman "Gesucht wird die freundliche Welt", der als erster in der DDR das Thema des Umgangs mit straffällig gewordenen Jugendlichen thematisierte, wurde 1978 von Erwin Stranka unter dem Titel "Sabine Wulff" verfilmt.
Auszeichnungen:
Erich-Weinert-Preis der Stadt Magdeburg
Theodor-Körner-Preis
Banner der Arbeit
Literaturpreis des FDGB
Vaterländischer Verdienstorden
Sie muss absteigen und das Rad über die Gleise heben, und da sieht sie, dass auf einer Schiene ein großer Rabe sitzt, der vor ihr nicht einmal auffliegt, obwohl sie auf seiner Höhe ist. Sie kann gut seinen kleinen Federbart unter dem Kinn erkennen. Er wirkt kräftig und stolz, aber er scheint aufgeregt zu sein. Die alte Frau wundert sich, denn der Rabe droht ihr sogar klangvoll und frech. Das interessiert sie nun doch, obwohl die Gäste in der Pension bald zum Frühstück aus ihren Zimmern kommen werden und zu dieser Zeit die frischen Brötchen und Wurst auf den Tischen liegen müssen. Sie entdeckt über den Rand der Schiene den Kopf einer Stockente. Der Rabe könnte, obwohl das ungewöhnlich wäre, die Ente bedrohen, und darum legt die alte Frau das Fahrrad an den Hang und kraxelt seufzend den Bahndamm hinauf. Sie will wissen, was da vor sich geht. Solchen Rätseln ging sie schon immer auf den Grund.
Aber über den Anblick, der sich ihr bietet, muss sie schmunzeln, so rührend ist er. Da laufen zwischen den Schienen sieben verschreckte Küken, winzig klein, wie eben erst aus den Eiern geschlüpft. Die Entenmutter lockt, sie sollen endlich über die Schienen kommen, aber sie sind so klein, so winzig, und die Aufgabe ist viel zu schwer für sie. Da hilft es auch nicht, dass sie einige Male den Weg vormacht. Der Kolkrabe hält seinen Platz, er sitzt da wie ein Raubritter auf der Lauer, dem die Beute sicher ist.
Der alten Frau ist klar, dass sie da helfen muss, obwohl in der Pension die Wirtin unruhig werden wird. Sie rafft ihre blauleinene Schürze, um die Vögelchen aufzunehmen.
Aber die Entenmutter schnattert mit ihrem Löffelschnabel gegen sie an. Die alte Frau lässt die Schürze fallen, breitet begütigend die Arme aus und geht langsam auf dem Schotterbett den Kleinen entgegen. Der Entenmutter schwant etwas, sie setzt über das Gleis und lockt von jenseits des großen Hindernisses. Die Kleinen wollen ja folgen, sie wollen ja gehorchen und versuchen es wieder und wieder mit ihren kurzen, stummligen Flügelchen, die wie verkümmerte Arme wirken.
Ach, Gott, nun macht schon, ihr Krümelchen, ihr Wollknäuel. Es rührt die alte Frau, wie sie sich mühen, die Krümelchen, aber mit ihren Sprüngen erreichen sie nicht mal die Oberkante einer Schiene. Die Entenmutter schimpft und setzt wieder zurück, hin zu den Kleinen. Sie gibt nicht auf.
Noch immer harrt der dicke Rabe belustigt aus, diese Beute wird ihm nicht entkommen. Nun breitet die Entenmutter ergeben ihre Fittiche weit aus. Aber diesmal scheinen die Küken das Signal nicht zu begreifen, das da lautet: Kommt, verkriecht euch, hier bei mir ist Sicherheit für alle meine Kinderchen. Sie schlüpfen nicht unter das Federkleid. Vielleicht wissen sie, dass dieser Schutz heute nicht ausreichen könnte.
Vielleicht sind sie auch zu aufgeregt, sie wieseln, sie huschen, sie piepsen, sie stolpern, und sie purzeln übereinander. Und das nervöse Entenquaken ihrer Mutter verunsichert sie noch mehr.
Die alte Frau weiß aber neben dem Kolkraben noch um eine andere Gefahr. In wenigen Minuten muss der Frühzug aus der Stadt vorbeifahren. Natürlich könnten sich die Kleinen zwischen die Schwellen ducken, aber weiß man so genau, ob sie das schon tun werden. Der Rücken schmerzt der alten Frau.
Sie könnte den schrägen Hang hinunterrutschen, bis zu ihrem Rad, sie könnte aufgeben, aber das kommt ihr nicht in den Sinn. Sie sieht hinunter auf den schmalen Wanderweg, der am Schloss vorbeiführt, aber noch steht auf dem Weg nicht die bunte Tafel, auf der die Ausstellung des Malers angekündigt ist, noch steht da kein Stuhl, noch ist die rote Baskenmütze des Malers, der eine Urmutter kennt, nicht zu sehen, aber weit und breit auch kein anderer, der helfen könnte.
Die alte Frau gibt sich einen Ruck und greift energisch mit beiden Händen nach dem zwitschernden Volk, erwischt die Küklein und schaufelt erst drei, dann zwei und endlich die letzten über den Rand der Schiene.
Sie überschlagen sich, kommen aber alle auf der anderen Seite an, von der Entenmutter sehnsüchtig erwartet. Sofort watschelt sie mit ihrem Kindertross in Richtung See davon. Dabei sieht sie sich nicht einmal um, ob auch alle folgen, wohl weil sie weiß, dass sie den Gänsemarsch schon beherrschen. Ganz eifrig marschieren sie und halten das Tempo, das die Mutter vorlegt. Sie müssen sich auch beeilen, denn der Kolkrabe ist noch da. Er fliegt jetzt kräftig und gewandt auf und zieht lüstern seine Kreise. Er kann gut verfolgen, wohin die Entenfamilie läuft.
Die alte Frau klaubt aus dem Schotterbett einen kantigen Stein und wirft ihn dem Vogel nach, aber natürlich hat sie in ihrem Alter nicht mehr die Kraft, so weit zu werfen. Der Rabe setzt sich auf den steinernen Wächtergreif des Torbogens, der den Drachen abwehrt.
Hoch vom Turm der Bergkirche schlägt es sieben Uhr, und die Halbschranke beginnt sich ruckartig zu schließen. Es wird Zeit für die alte Frau. Noch drückt sie kein Schrecken. Aber sie atmet hastig, und ihr Herz schlägt schmerzhaft gegen die Rippen. Sie will sich einen kleinen Moment auf die Schienen setzen, nur einen kleinen Moment.
Sie sieht die hellen Sterne der Miere und die gelben Hundeblumen und am Seitenhang eine goldene Königskerze, so hoch wie die drei Zepter, die oben auf dem Grab stehen, und da meint sie, aus der Ferne eine Stimme zu hören, einen Gesang: „Komm in meinen Garten, du Braut mein, ich will dich erwarten“, leise sehr fern und ganz klar, und natürlich sieht sie auch noch den rötlichen Knöterich.
Sie kennt sich aus in Blumen und pflegt den großen Garten der Pensionswirtin. Alle Urlauber erfreuen sich an den vielen Blumen. In einem zweiten Leben würde die alte Frau eine Gärtnerin werden wollen.
Als sie den Zug hört, meint sie, nicht aufstehen zu können. Sie versucht es, aber ihr Körper kann sich weder beugen noch strecken. Der Kolkrabe segelt in das große Gebüsch vor dem Ufer, und ihr wird sofort klar, dass die Enten es nur bis dorthin geschafft haben könnten. Den See müssen sie noch nicht erreicht haben.
Immer noch hockend, greift sie wieder einen Stein mit ihrem schwachen Arm und spürt schon im Schwung, wie das Herz reißt. -

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